ZEMBOL gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) 20160/16

DRITTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 20160/16
ZEMBOL gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) hat in seiner Sitzung am 30. November 2021 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Georgios A. Serghides, Präsident,
Anja Seibert-Fohr,
Frédéric Krenc
sowie Olga Chernishova, Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf

die Individualbeschwerde (Nr. 20160/16) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die eine deutsche Staatsangehörige, die 19.. geborene Frau Z. („die Beschwerdeführerin“), wohnhaft in W. und vertreten durch Herrn K., Rechtsanwalt in W., am 6. April 2016 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte;

die Entscheidung, die Beschwerde der deutschen Regierung („die Regierung“), vertreten durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, zur Kenntnis zu bringen,

und die Stellungnahmen der Parteien

nach Beratung wie folgt entschieden:

GEGENSTAND DER RECHTSSACHE

1.  In der vorliegenden Rechtssache rügt die Beschwerdeführerin unter Berufung auf Artikel 10 der Konvention, dass ihr versagt wurde, in der Hauptverhandlung in der Strafsache gegen O.G. wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen im Konzentrationslager Auschwitz im Jahr 1944, die vom 21. April 2015 bis zum 15. Juli 2015 vor dem Landgericht L. stattfand, Bleistifte und Schreibpapier in den Sitzungssaal mitzunehmen. Der Angeklagte war zu Prozessbeginn 93 Jahre alt und gesundheitlich beeinträchtigt (über die Individualbeschwerde des Angeklagten vor diesem Gerichtshof wurde in dem Verfahren G. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 71591/17, 20. Oktober 2020, befunden). Mit einer Verfügung vom 2. Februar 2015, die veröffentlicht wurde, regelte der Vorsitzende Richter den Zugang der Öffentlichkeit zur Hauptverhandlung dahingehend, dass Besuchern die Mitnahme u. a. von Waffen, gefährlichen Werkzeugen, Wurfgegenständen, Flugblättern sowie Kugelschreibern und Füllfederhaltern in den Sitzungssaal nicht gestattet war. Vom 22. April 2015 bis zum Prozessende wohnte die Beschwerdeführerin, die keinen Presseausweis besaß, der Hauptverhandlung als Zuhörerin im Zuschauerbereich bei. Pressevertretern war es gestattet, Bleistifte und Schreibpapier in den Sitzungssaal mitzunehmen.

2.  In einer E-Mail an das Landgericht beantragte die Beschwerdeführerin die Erlaubnis zur Mitnahme von Bleistiften und Schreibpapier in den Sitzungssaal, um sich während der Sitzungen Notizen zu machen. Sie sei an dem Thema Holocaust interessiert und wolle sich mit der Frage der Versöhnung und juristischen Aufarbeitung der begangenen Straftaten auseinandersetzen. Die zuständige Richterin am Landgericht lehnte ihre Anträge wiederholt ab. Am 26. Mai 2015 legte die Beschwerdeführerin Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 und 2 Strafprozessordnung gegen die Verfügung vom 2. Februar 2015 bzw. deren Umsetzung ein und beantragte die Erlaubnis zur Mitnahme von Schreibutensilien in den Sitzungssaal. Sie vertrat die Ansicht, dass die Umsetzung der Verfügung willkürlich und nicht ihrem Wortlaut entsprechend erfolge (Bleistifte und Schreibpapier waren darin nicht genannt) und gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz bei mündlichen Verhandlungen sowie gegen ihre Grundrechte verstoße. Aufgrund der Länge, Komplexität und Detailliertheit der Aussagen sei es ohne die Möglichkeit, sich während der Sitzungen Notizen zu machen, unmöglich, sämtliche Informationen zu behalten. Das faktische Verbot des Mitschreibens während der Sitzungen sei angesichts der historischen Bedeutung des Prozesses unverhältnismäßig und unzumutbar.

3.  Mit Beschluss vom 26. Mai 2015 half der Vorsitzende Richter am Landgericht der Beschwerde der Beschwerdeführerin nicht ab und legte die Sache dem Oberlandesgericht C. zur Entscheidung vor. Mit Beschluss vom 8. Juni 2015 verwarf das Oberlandesgericht die Beschwerde der Beschwerdeführerin. Es stellte fest, dass Beschwerden nach § 304 Strafprozessordnung gegen eine Anordnung gemäß § 176 Gerichtsverfassungsgesetz bezüglich der Aufrechterhaltung der Ordnung während einer mündlichen Verhandlung, wie sie in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehe, nur anfechtbar seien, wenn erstens der Anordnung eine über die Dauer der Verhandlung (oder sogar über die Rechtskraft des Urteils) hinausgehende Wirkung zukomme und zweitens Grundrechte oder andere Rechtspositionen des Betroffenen dauerhaft tangiert und beeinträchtigt würden.[1] Diese Anforderungen seien vorliegend nicht erfüllt. Die Versagung der Mitnahme von spitzem Schreibgerät, u.a. Bleistiften, in den Sitzungssaal entfalte keine über die Dauer der Verhandlung hinausgehende Wirkung. Es sei der Beschwerdeführerin unbenommen, in den Sitzungspausen oder nach dem jeweiligen Ende einer Sitzung ein Gedächtnisprotokoll zu fertigen. Die Beschwerdeführerin werde durch die in Rede stehende Maßnahme auch nicht dauerhaft in ihren Rechten beeinträchtigt. Ihre Beschwerde sei daher unzulässig.

4.  Das Oberlandesgericht fügte hinzu, dass die Beschwerde der Beschwerdeführerin in jedem Fall unbegründet sei. Die Verfügung des Vorsitzenden Richters verfolge den zulässigen Zweck, eine Gefährdung der Verfahrensbeteiligten auszuschließen und einen störungsfreien Sitzungsablauf zu gewährleisten. Die Maßnahme sei unter Berücksichtigung der Besonderheiten des zugrundeliegenden Strafverfahrens sowie des Alters und der gesundheitlichen Verfassung des Angeklagten und der Nebenkläger/innen verhältnismäßig. Die Gewährleistung eines störungsfreien Sitzungsablaufs und der Schutz der Verfahrensbeteiligten, insbesondere des Angeklagten, vor Wurfattacken überwiege das berechtigte Interesse der Beschwerdeführerin daran, sich während der Sitzungen Notizen zu machen. Das hohe Alter der Beteiligten und der erheblich beeinträchtigte Gesundheitszustand des Angeklagten gebiete es, bereits die Möglichkeit einer Störung der Sitzung durch das Werfen von kleineren Gegenständen zu verhindern. Schließlich werde durch die Maßnahme zeitlich nur sehr begrenzt in die Rechte der Beschwerdeführerin eingegriffen und ihrem Informationsinteresse werde ausreichend Genüge getan, da sie sich unmittelbar nach dem Ende der jeweiligen Sitzung oder in den Sitzungspausen Notizen machen könne.

5.  Am 26. Juni 2015 erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde. Am 28. September 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Beschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1466/15). Die Entscheidung wurde der Beschwerdeführerin am 9. Oktober 2015 zugestellt.

6.  Die Beschwerdeführerin rügte unter Berufung auf Artikel 10 der Konvention, dass ihr die Mitnahme von Bleistiften und Schreibpapier in den Sitzungssaal versagt wurde. Dies habe sie daran gehindert, sich während der Sitzungen handschriftliche Notizen zu den Aussagen zu machen und das Gesehene und Gehörte genau und detailliert zu verarbeiten und aufzuzeichnen. Ihr sei somit die Möglichkeit genommen worden, sich über diesen historischen Prozess umfassend zu informieren und die entsprechenden Informationen umfassend weiterzugeben. Sie machte geltend, dass Artikel 10 der Konvention das Recht jedes Einzelnen beinhalte, Informationen zu empfangen, zu verarbeiten und aufzuzeichnen, und dass dieses Recht keine Absicht voraussetze, die Informationen an andere weiterzugeben, da es bei diesem Recht im Kern gerade darum gehe, sich selbst zu informieren. Dieses Recht habe eine korrektive und ergänzende Funktion hinsichtlich der Massenmedien und ermögliche es dem Einzelnen, die Informationen seiner Wahrnehmung entsprechend aufzuzeichnen, in der Medienberichterstattung nicht berücksichtigten Aspekten eine Bedeutung beizumessen und sich seine eigene Meinung zu einer Angelegenheit zu bilden. So seien etwa bestimmte Zeugenaussagen, die sie beeindruckt hätten, von den Medien nicht aufgegriffen worden. Angesichts der Komplexität, des Umfangs, der Länge, der Detailliertheit und der Emotionalität der Aussagen in dem Prozess gegen O.G. sei es ohne mitzuschreiben unmöglich gewesen, diese Aussagen mehr als nur bruchstückhaft im Gedächtnis zu behalten. Die Informationen in den kurzen Pausen oder nach dem Ende einer mehrstündigen Sitzung umfassend aufzuzeichnen, sei nicht möglich gewesen. Die fehlende Möglichkeit, sich während den Sitzungen handschriftliche Notizen zu machen, beeinträchtige auch ihre Möglichkeit, sich gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt publizistisch zu der Angelegenheit zu äußern.

WÜRDIGUNG DURCH DEN GERICHTSHOF

7.  In dem Verfahren Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn ([GK], Individualbeschwerde Nr. 18030/11, Rdnrn. 149‑180, 8. November 2016) hat der Gerichtshof allgemeine Grundsätze festgelegt, was das Recht von Journalisten und anderen Akteuren, denen eine „öffentliche Wächterrolle“ zukommt, auf Zugang zu Informationen einer öffentlichen Behörde angeht. Ein solches Recht oder eine solche Verpflichtung kann entstehen, wenn der Zugang zu den Informationen für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung der betroffenen Person, insbesondere die „Freiheit, Informationen zu empfangen und weiterzugeben“, von maßgeblicher Bedeutung ist und die Versagung dieses Zugangs einen Eingriff in dieses Recht darstellt (ebd., Rdnr. 156).

8.  Die Beschwerdeführerin, eine Privatperson, wohnte den Sitzungen der Hauptverhandlung gegen O.G. als Zuhörerin im Zuschauerbereich bei. Abgesehen davon, dass die Beschwerdeführerin nicht dargelegt hat, dass ihr eine „öffentliche Wächterrolle“ zukam, aufgrund derer sie möglicherweise einen Anspruch auf Zugang zu Informationen hatte (siehe ebd., Rdnrn. 164-168), stellt der Gerichtshof fest, dass sie die in Rede stehenden Informationen durch persönliche Beobachtung des Prozesses empfing und somit nicht behaupten kann, dass ihr der Zugang zu diesen Informationen verweigert wurde. Tatsächlich stellt ihre Rüge hauptsächlich darauf ab, dass es ihr nicht möglich gewesen sei, die Informationen, die sie während der Sitzungen empfing, durch die Anfertigung handschriftlicher Notizen aufzuzeichnen und zu verarbeiten. Das in der Rechtsprechung des Gerichtshofs dargelegte Recht, Informationen zu empfangen, beinhaltet jedoch keinen Anspruch darauf, Informationen, die man in einer bestimmten Weise empfangen hat, aufzuzeichnen. Soweit sich die Beschwerdeführerin auf einen solchen Anspruch beruft, ist ihre Rüge rationemateriae mit Artikel 10 der Konvention unvereinbar.

9.  Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, die fehlende Möglichkeit, sich während der Sitzungen handschriftliche Notizen zu machen, schränke auch ihre Möglichkeit ein, Informationen über die Angelegenheit weiterzugeben, u. a. in Form etwaiger Publikationen, stellt der Gerichtshof fest, dass zwischen den Parteien unstrittig ist, dass die Beschwerdeführerin zu keinem Zeitpunkt während des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten oder vor dem Gerichtshof behauptet hat, ein Mitglied der Presse zu sein. Ferner hat sie vor den innerstaatlichen Gerichten nicht vorgetragen, dass sie beabsichtige, sich publizistisch zu dem Prozess gegen O.G. oder zu damit in Zusammenhang stehenden Angelegenheiten zu äußern, und dass die handschriftlichen Notizen, die sie habe anfertigen wollen, einen Vorbereitungsschritt hierfür dargestellt hätten (siehe Magyar Helsinki Bizottság, a. a. O., Rdnr. 158). Ihr Vortrag vor dem Gerichtshof zu etwaigen künftigen Publikationen ist abstrakter Natur. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die Beschwerdeführerin nicht dargelegt hat – und zwar weder vor den innerstaatlichen Gerichten, noch vor diesem Gerichtshof –, dass sie dadurch, dass ihr die Anfertigung handschriftlicher Notizen während der Sitzungen nicht gestattet wurde, in der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung, insbesondere ihres Rechts, Informationen zu empfangen und weiterzugeben, in einer Weise beeinträchtigt worden ist, dass die Substanz ihrer Rechte aus Artikel 10 angegriffen war (vgl. Georgian Young Lawyers’Association, Individualbeschwerde Nr. 2703/12, Rdnrn. 30-34, 19. Januar 2021; Centre for Democracy and the Rule of Law ./. Ukraine (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 75865/11, Rdnr. 54, 3. März 2020). Daraus folgt, dass Artikel 10 der Konvention nicht anwendbar ist und dass der Teil der Rüge der Beschwerdeführerin, der die Weitergabe von Informationen betrifft, rationemateriae mit Artikel 10 der Konvention unvereinbar ist.

10.  Soweit die Beschwerdeführerin schließlich geltend macht, dass sie sich zu dem Prozess gegen O.G. und zu den darin aufgeworfenen Fragen keine Meinung habe bilden können, weil ihr nicht gestattet war, sich während der Sitzungen handschriftliche Notizen zu machen, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass sie ihre Sache nicht schlüssig dargelegt hat. Sie hat den Prozess beobachtet, indem sie den Sitzungen als Zuhörerin im Zuschauerbereich persönlich beiwohnte und die Informationen aus erster Hand empfing. Der Gerichtshof kann grundsätzlich nicht erkennen, dass die Anfertigung handschriftlicher Notizen während einer mündlichen Verhandlung für einen Prozessbeobachter einen notwendigen Schritt darstellt, um sich eine Meinung zu bilden. Während ein Richter Zeugenaussagen gründlich dokumentieren muss, um seine rechtliche Würdigung auf der Grundlage genau festgestellter Tatsachen vorzunehmen, und die Möglichkeit, Aussagen gründlich zu dokumentieren, für die Verfahrensbeteiligten auch ein wichtiger Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Konvention sein kann, treffen diese Erwägungen nicht im selben Maße auf einen Prozessbeobachter zu, der nicht am Verfahren beteiligt ist. Zudem hatte die Beschwerdeführerin die Möglichkeit, sich in den Pausen und nach dem Ende der jeweiligen Sitzungen aus dem Gedächtnis Notizen zu machen. Auch hatte sie die Gelegenheit, sich ergänzend aus der umfangreichen Berichterstattung über den Prozess sowie letztlich aus dem Urteil zu informieren. Soweit die Beschwerdeführerin vorgebracht hat, dass die Berichterstattung durch die Massenmedien selektiv gewesen sei, kann auch dies nicht als Argument für die Feststellung dienen, dass ihr die Anfertigung handschriftlicher Notizen hätte gestattet werden sollen. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin, deren Vortrag eher abstrakt war, nicht substantiiert dargelegt hat, warum und in welcher Weise sie ungebührlich in ihrer Meinungsbildung zu dem Prozess, dem sie als Zuhörerin im Zuschauerbereich persönlich beiwohnte, eingeschränkt gewesen sein soll. Daher gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass kein Eingriff in die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin nach Artikel 10 Abs. 1 der Konvention vorliegt.

11.  Daraus folgt, dass die Rüge der Beschwerdeführerin nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention als unzulässig zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 13. Januar 2022.

Olga Chernishova                                           Georgios A. Serghides
Stellvertretende Sektionskanzlerin                                   Präsident

____________

[1] Anm.: Bezüge so in der englischen Fassung.

Zuletzt aktualisiert am November 11, 2022 von eurogesetze

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