ROTH gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) 31576/19

Die Rechtssache betrifft die hauptsächlich auf die Artikel 8 und 6 der Konvention gestützten Rügen des Beschwerdeführers betreffend die Weige­rung der innerstaatlichen Behörden, ihm in der Justizvollzugsanstalt zum Verfassen seiner Schriftsätze an Gerichte und zu Resozialisierungszwecken die Verwendung eines Computers zu erlauben.


EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
DRITTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 31576/19
ROTH gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) hat in seiner Sitzung am 5. Juli 2022 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Georgios A. Serghides, Präsident,
Anja Seibert-Fohr und
Peeter Roosma
sowie Olga Chernishova, Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf

die Individualbeschwerde (Nr. 31576/19) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die ein deutscher Staatsangehöriger, der 19.. geborene und in Straubing inhaftierte Herr R. („der Beschwerdeführer“), am 4. Juni 2019 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte,

nach Beratung wie folgt entschieden:

GEGENSTAND DER RECHTSSACHE

1. Die Rechtssache betrifft die hauptsächlich auf die Artikel 8 und 6 der Konvention gestützten Rügen des Beschwerdeführers betreffend die Weige­rung der innerstaatlichen Behörden, ihm in der Justizvollzugsanstalt zum Verfassen seiner Schriftsätze an Gerichte und zu Resozialisierungszwecken die Verwendung eines Computers zu erlauben.

2. Der Beschwerdeführer verbüßt seit 1997 eine lebenslange Freiheits­strafe wegen Mordes. 2017 bat er, dass ihm erlaubt werde, entweder selbst einen Computer zu kaufen oder den (üblicherweise für berufliche Schulungs­zwecke reservierten) Computerraum in der Justizvollzugsanstalt zu nutzen, damit erseineumfangreichen, diverse Maßnahmen der Vollzugsbehörden betreffenden Schriftsätze an Behörden und Gerichte schreiben, speichern und ausdrucken könne. Bisher erstellte der Beschwerdeführer diese Korrespon­denz mit einer manuellen Schreibmaschine; für seine Ablage bewahrte er Durchschriften davon auf. Er betonte, dass er keinen Zugang zum Internet fordere, und allen Sicherheitsmaßnahmen in Bezug auf den betreffenden Computer zustimme. Er habe 2003 in der Justizvollzugsanstalt einen Com­puterkurs absolviert.

3. 2018 bestätigten die für die Strafvollstreckung zuständigen Gerichte unter Verweis auf das Bayerische Strafvollzugsgesetz die Ablehnung des Antrags durch die Strafvollzugsbehörden. Sie stellten fest, dass die Nutzung von Computern in der Justizvollzugsanstalt mit erheblichen Sicherheits­risiken verbunden wäre, da Informationen betreffend Fluchtrouten, verbotene Außenkontakte, Verkäufe von Drogen an andere Gefangene oder andere ver­botene Kontakte zwischen Gefangen auf den Computern gespeichert werden und dann zwischen den Gefangen oder mit Personen außerhalb des Gefäng­nisses ausgetauscht werden könnten. Diese Risiken könnten nicht durch Kon­trollen seitens der Vollzugsbehörden beseitigt werden, da solche Kontrollen sehr zeitaufwändig und daher nicht praktikabel wären. Es sei zu berücksich­tigen, dass die Kontrollen auch in Bezug auf alle anderen Gefangenen durch­geführt werden müssten, die sich in einer mit der des Beschwerdeführers ver­gleichbaren Situation befänden und denen ebenfalls erlaubt werden müsse, einen Computer zu nutzen.

4. Mit Beschluss vom 27. März 2019 nahm das Bundesverfassungsgericht die von dem Beschwerdeführer erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Es stellte fest, dass die Einschätzung der Gerichte, Compu­ter stellten im Gefängnis ein Sicherheitsrisiko dar, nicht willkürlich sei. In Anbetracht dieser legitimen Sicherheitsinteressen könnten die Gefangenen nicht verlangen, zu Resozialisierungszwecken Zugang zu einem Computer zu erhalten. Der Beschwerdeführer habe ein gewichtiges Interesse daran, seine Rechte gerichtlich zu verteidigen, aber die Weigerung, ihm die Nutzung eines Computers zu erlauben, habe seinen Zugang zu einem Gericht nicht unzu­mutbar erschwert und er habe nicht dargelegt, warum er nicht, wie von den Vollzugsbehörden vorgeschlagen, eine elektrische Schreibmaschine nutzen wolle.

5. Der Beschwerdeführer rügte insbesondere, dass er dadurch, dass ihm verboten worden sei, in der Justizvollzugsanstalt einen Computer zu nutzen, um seine umfangreiche Korrespondenz mit den Gerichten zu erledigen, die dazu diene, seine Rechte als Gefangener zu verteidigen und seine Resoziali­sierung in die moderne Gesellschaft zu ermöglichen, in seinem Recht auf Zu­gang zu einem Gericht und Waffengleichheit nach Artikel 6 der Konvention sowie in seinen Rechten nach Artikel 8 der Konvention verletzt worden sei.

WÜRDIGUNG DURCH DEN GERICHTSHOF

I. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention

6. Die Rüge des Beschwerdeführers hinsichtlich des Verbots, zur Führung seiner zahlreichen gerichtlichen Verfahren im Gefängnis einen Computer zu nutzen, ist zunächst einmal nach Artikel 8 Absatz 1 zu prüfen, der das Recht auf Achtung seiner Korrespondenz beinhaltet.

7. Zwar ergibt sich ein Problem, wenn die Korrespondenz eines Gefange­nen stark erschwert wird, jedoch garantiert Artikel 8 den Gefangenen für ihre Kommunikation mit Gerichten keine Wahl der Schreibmaterialien (siehe Cotleţ ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 38565/97, Rdnr. 61, 3. Juni 2003). Artikel 8 kann auch nicht so ausgelegt werden, als garantiere er Gefangenen das Recht, mit bestimmten Geräten (insbesondere internetfähi­gen Geräten) mit der Außenwelt zu kommunizieren; dies gilt insbesondere, wenn alternative Kontaktmöglichkeiten verfügbar und ausreichend sind (siehe Ciupercescu ./. Rumänien (Nr. 3), Individualbeschwerden Nrn. 41995/14 und 50276/15, Rdnr. 105, 7. Januar 2020).

8. Selbst unter der Annahme, dass das Verbot, einen Computer zu nutzen, im Lichte dieser Rechtsprechung einen Eingriff in das Recht des Beschwer­deführers auf Achtung seiner Korrespondenz darstellt, befindet der Gerichts­hof, dass der Eingriff gemäß den anwendbaren Bestimmungen des Bayeri­schen Strafvollzugsgesetzes gesetzlich vorgesehen und daher im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 der Konvention rechtmäßig war. Der Eingriff diente der Auf­rechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten in der Voll­zugsanstalt.

9. Hinsichtlich der Frage, ob das Verbot in einer demokratischen Gesell­schaft notwendig war, stellt der Gerichtshof fest, dass Gefangene – wie auch der Beschwerdeführer – nach innerstaatlichem Recht keinen Anspruch darauf hatten, für die Korrespondenz mit Behörden und Gerichten einen Computer zu nutzen. Die innerstaatlichen Gerichte legten detailliert dar, dass die Mög­lichkeit, Daten auf dem Computer zu speichern, zu Sicherheitsrisiken führe, da Informationen zu illegalen Aktivitäten oder Fluchtrouten zwischen Perso­nen innerhalb und außerhalb der Haftanstalt ausgetauscht werden könnten. Sie erläuterten, dass die notwendigen Kontrollen der Computer der Gefange­nen in der Praxis nicht umsetzbar seien. Weiterhin prüften sie, welche alter­nativen Mittel dem Beschwerdeführer zur Korrespondenz mit Behörden und Gerichten zur Verfügung standen oder angeboten wurden, nämlich die Nutzung einer manuellen oder elektrischen Schreibmaschine. Diesbezüglich haben sie das gewichtige Interesse des Beschwerdeführers an einem Zugang zu den Gerichten anerkannt, aber festgestellt, dass er trotz des Verbots, einen Computer zu nutzen, faktisch in der Lage gewesen war, zahlreiche Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten zu führen. Der Gerichtshof ist deshalb der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte stichhaltige und ausreichende Gründe für das Verbot der Computernutzung angeführt haben, und dass die­ses Verbot im Hinblick auf die legitimen Sicherheitsinteressen, die unter den im Fall des Beschwerdeführers gegebenen Umständen verfolgt wurden, ver­hältnismäßig gewesen ist.

10. Der Beschwerdeführer rügte ferner nach Artikel 8, dass die Weige­rung, ihm die Nutzung eines Computers zu gestatten, seiner Resozialisierung in eine Gesellschaft, in der Computer unverzichtbar seien, entgegenstehe. Selbst unter der Annahme, dass das Verbot, einen Computer zu nutzen, in dieser Hinsicht einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Ach­tung seines Privatlebens darstellte, war dieser Eingriff rechtmäßig und ver­folgte das legitime Ziel der Verhütung von Straftaten (vgl. Rdnr. 8). In Anbetracht der mit der Nutzung eines Computers in einer Justizvollzugsan­stalt verbundenen Risiken, die von den innerstaatlichen Gerichten dargelegt wurden (siehe Rdnr. 9), und der Tatsache, dass dem Beschwerdeführer Gele­genheit gegeben wurde, im Gefängnis einen Computerkurs zu absolvieren, wovon er auch Gebrauch machte, ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass das Verbot im Hinblick auf die legitimen Sicherheitsinteressen, die unter den im Fall des Beschwerdeführers gegebenen Umständen verfolgt wurden, ver­hältnismäßig war.

11. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a und Absatz 4 der Konvention als offensichtlich unbe­gründet zurückzuweisen ist.

II. Behauptete Verletzung von Artikel 6 der Konvention

12. Nach Artikel 6 der Konvention rügte der Beschwerdeführer darüber hinaus, dass ihm hinsichtlich der Verteidigung seiner Rechte der Zugang zu einem Gericht und Waffengleichheit in dem aktuellen wie in künftigen Gerichtsverfahren versagt worden sei, da ihm verwehrt werde, zur Abfassung seiner Schriftsätze in diesen Verfahren einen Computer zu nutzen.

13. Die allgemeinen Grundsätze bezüglich des Zugangs zu einem Gericht zur Klärung eigener zivilrechtlicher Ansprüche sind u. a. in Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich (28. Mai 1985, Rdnr. 57, Serie A Band 93) und Lawyer Partners a.s. ./. Slowakei(Individualbeschwerden Nrn. 54252/07 und 14 weitere, Rdnr. 52, ECHR 2009) dargelegt worden. Der Gerichtshof merkt an, dass der Beschwerdeführer, obwohl er seine Schriftsätze auf einer Schreibma­schine erstellen musste, was beschwerlicher und zeitaufwändiger war, als sie auf einem Computer zu verfassen, in der Lage war, seine Anträge und Vor­bringen in den hier in Rede stehenden Verfahren einzureichen. In diesen Ver­fahren lag also keine gesetzliche oder tatsächliche Einschränkung seines Zugangs zu einem Gericht vor. Was den Grundsatz der Waffengleichheit in diesen Verfahren betrifft (hinsichtlich der anwendbaren Grundsätze siehe Kress ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 39594/98, Rdnr. 72, ECHR 2001‑VI, und Regner ./. Tschechische Republik [GK], Individual­beschwerde Nr. 35289/11, Rdnr. 146, 19. September 2017), hat der Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt, dass er keine angemes­sene Möglichkeit hatte, seinen Fall unter Voraussetzungen zu vertreten, die ihn gegenüber der anderen Partei nicht wesentlich benachteiligten. Daraus folgt, dass auch dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Absatz 3 Buch­stabe a und Absatz 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurück­zuweisen ist.

14. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Artikel 6 in künf­tigen Gerichtsverfahren rügt, hat er die innerstaatlichen Rechtsbehelfe inso­weit nicht erschöpft, als er nicht vorgebracht hat, dass er infolge der mühsa­men Art und Weise des Verfassens seiner Schriftsätze nicht in der Lage gewesen sei, einen bestimmten Fall vor Gericht zu bringen. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Absätze 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen.

III. Weitere Rügen

15. Der Beschwerdeführer erhob weitere Rügen, die er auf verschiedene Konventionsbestimmungen stützte. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese Rügen entweder die in den Artikel 34 und 35 der Konvention niedergelegten Zulassungskriterien nicht erfüllen oder keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Proto­kollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten erkennen lassen.

16. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Absatz 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 28. Juli 2022.

Olga Chernishova                                Georgios A. Serghides
Stellvertretende Sektionskanzlerin                     Präsident

Zuletzt aktualisiert am November 11, 2022 von eurogesetze

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