Die Beschwerden betreffen die Vereinbarkeit des Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz), welches Kollisionen regelt, die auftreten, wenn in einem Betrieb mehrere Tarifverträge anwendbar sind, mit Artikel 11 der Konvention. Dem Gesetz zufolge wird im Falle einer solchen Kollision der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die in dem Betrieb weniger Mitglieder hat, verdrängt.
EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
DRITTE SEKTION
RECHTSSACHE X. UND Y. U. A. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerden Nrn. 815/18 und 4 weitere – siehe beigefügte Liste)
URTEIL
Artikel 11 • Gründung und Beitritt zu Gewerkschaften • Gesetz, durch das von einer Minderheitsgewerkschaft abgeschlossene kollidierende Tarifverträge verdrängt werden, im Ermessensspielraum des beschwerdegegnerischen Staates • Begrenztes Ausmaß der Einschränkung beeinträchtigt kein Kernelement der Gewerkschaftsfreiheit • Eingriff zum gewichtigen Ziel der Sicherung der ordnungsgemäßen Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie im Interesse der Beschäftigten und der Arbeitgeberseite
STRASSBURG
5. Juli 2022
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache X. und Y. u. a. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Georges Ravarani, Präsident,
Georgios A. Serghides,
María Elósegui,
Darian Pavli,
Anja Seibert-Fohr,
Andreas Zünd,
Frédéric Krenc
sowie Milan Blaško, Sektionskanzler,
im Hinblick auf:
die Individualbeschwerden (Nr. 815/18, 3278/18, 12380/18, 12693/18 und 14883/18) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die drei deutsche Gewerkschaften – der X., der Y. und der Z. – sowie mehrere deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger – Frau A. u. a. (siehe beigefügte Tabelle) und Herr R. („die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer“) – an den jeweils in der beigefügten Tabelle aufgeführten Daten nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten;
die Entscheidung der deutschen Regierung („die Regierung“), die Beschwerde bezüglich der Vereinbarkeit der Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes mit der Vereinigungsfreiheit der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer gemäß Artikel 11 der Konvention zur Kenntnis zu bringen und die Beschwerden im Übrigen abzuweisen;
die Stellungnahmen der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderungen der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer;
die Stellungnahmen der drittbeteiligten Organisationen, dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Deutsche Bahn AG gemeinsam mit dem Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister e.V. und dem Arbeitgeberverband Luftverkehr e.V.,
welche jeweils vom Vizepräsidenten der Sektion zur Beteiligung ermächtigt worden waren (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs);
nach nicht öffentlicher Beratung am 10. Mai 2022 und am 31. Mai 2022
das folgende Urteil erlassen, das an dem zuletzt genannten Tag angenommen wurde:
EINLEITUNG
1. Die Beschwerden betreffen die Vereinbarkeit des Gesetzes zur Tarifeinheit (Tarifeinheitsgesetz), welches Kollisionen regelt, die auftreten, wenn in einem Betrieb mehrere Tarifverträge anwendbar sind, mit Artikel 11 der Konvention. Dem Gesetz zufolge wird im Falle einer solchen Kollision der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die in dem Betrieb weniger Mitglieder hat, verdrängt.
SACHVERHALT
2. Die Geburts- bzw. Gründungs- oder Registrierungsdaten der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer sowie deren Wohn- bzw. Verbandssitze sind in der beigefügten Tabelle aufgeführt. Vertreten wurden sie von Herrn D., D. (erster Beschwerdeführer), von Herrn S., G. (zweiter Beschwerdeführer) und von Herrn F., F. (Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer der dritten, vierten und fünften Individualbeschwerde).
3. Die Regierung wurde von einem ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, und Herrn T. Giegerich, Professor an der Universität des Saarlands, vertreten.
4. Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:
5. Bei dem ersten Beschwerdeführer handelt es sich um eine Vereinigung von Landesbünden und Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und des Privatsektors. Zu seinen Aufgaben zählt die Aushandlung von Tarifverträgen für die Mitglieder seiner Mitgliedsgewerkschaften.
6. Der zweite Beschwerdeführer schließt seit 2006 Tarifverträge für seine als Ärztinnen und Ärzte beschäftigten Mitglieder ab.
7. Die dritte Beschwerdeführerin, ihre Aufgabe ist es, Tarifverträge für ihre im Bahnwesen beschäftigten Mitglieder abzuschließen.
8. Die Beschwerdeführerin und die Beschwerdeführer in der vierten Rechtssache (Frau A. und der Beschwerdeführer der fünften Individualbeschwerde (Herr R.) sind Mitglieder der dritten beschwerdeführenden Gewerkschaft.
I. HINTERGRUND ZUR VERABSCHIEDUNG DES TARIFEINHEITSGESETZES
9. Ein Unternehmen darf mit unterschiedlichen Gewerkschaften, die Beschäftigte dieses Unternehmens vertreten, Tarifverhandlungen führen und mit diesen Gewerkschaften mehrere Tarifverträge für Beschäftigte aus demselben Betrieb abschließen. Hieraus können sich Konflikte ergeben, bei denen für Beschäftigte in vergleichbaren Positionen innerhalb eines Betriebs unterschiedliche Tarifverträge mit voneinander abweichenden Bestimmungen gelten (hier spricht man auch von „kollidierenden Tarifverträgen“). Für derartige Fälle hatte das Bundesarbeitsgericht ursprünglich in seiner Rechtsprechung ab dem Jahr 1957 die Auffassung vertreten, dass nur der Tarifvertrag gelten solle, der am gezieltesten auf den betreffenden Betrieb zugeschnitten sei. Im Jahr 2010 vollzog das Bundesarbeitsgericht eine Wende in seiner Rechtsprechung (von der es zuvor einige Abweichungen gegeben hatte); es sah nun keine ausreichende rechtliche Grundlage mehr und gestattete die Anwendung unterschiedlicher Tarifverträge auf Beschäftigte in vergleichbaren Positionen innerhalb eines Betriebs je nach Gewerkschaftsmitgliedschaft der betreffenden Beschäftigten.
10. In der Folge verabschiedete der Gesetzgeber am 3. Juli 2015 mit dem Ziel, eine neue Lösung für den Fall kollidierender Tarifverträge vorzusehen, das Tarifeinheitsgesetz, welches am 10. Juli 2015 in Kraft trat. Nach diesem Gesetz, welches insbesondere das Tarifvertragsgesetz um den neuen § 4a ergänzte (siehe Rdnr. 27), ist nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die im betreffenden Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat; andere Tarifverträge werden verdrängt (§ 4a Abs. 2 Satz 2).
11. Die Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wurde, hat das Recht, die Rechtsnormen des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft nachzuzeichnen. Nimmt ein Arbeitgeber mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags auf, so muss er darüber hinaus die anderen Gewerkschaften im betreffenden Unternehmen darüber in Kenntnis setzen und alle Gewerkschaften haben das Recht, der Arbeitgeberseite ihre Forderungen vorzutragen (§ 4a Abs. 4 und 5 Tarifvertragsgesetz; Einzelheiten dazu siehe Rdnr. 27).
12. Durch das Tarifeinheitsgesetz wurden ferner § 2a Abs. 1 Nr. 6 und § 99 in das Arbeitsgerichtsgesetz eingefügt (Einzelheiten dazu siehe Rdnr. 30). Darin wird für den Fall einer Tarifkollision ein Verfahren für die Bestimmung des innerhalb eines bestimmten Betriebs anwendbaren Tarifvertrags festgelegt.
II. DAS VERFAHREN VOR DEM BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
13. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer erhoben unmittelbar gegen das Tarifeinheitsgesetz gerichtete Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht und brachten vor, dass die durch dieses Gesetz geänderten Rechtsnormen sie insbesondere in ihrem Recht auf Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nach Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz verletzten.
14. In einem Leiturteil vom 11. Juli 2017 u. a. zu den Verfassungsbeschwerden des ersten und des zweiten Beschwerdeführers stellte das Bundesverfassungsgericht mit sechs zu zwei Stimmen fest, dass § 4a des Tarifvertragsgesetzes in der durch das Tarifeinheitsgesetz geänderten Fassung lediglich hinsichtlich eines Aspekts nicht mit Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz vereinbar sei. Es fehle an ausreichenden Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz verdrängt werde, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt würden. Im Übrigen sei das Tarifeinheitsgesetz in seiner Auslegung im Sinne der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundgesetz vereinbar; die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer wurden folglich im Wesentlichen abgewiesen (1 BvR 1571/15 u. a.).
15. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der erste und der zweite Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt selbst unmittelbar von den angegriffenen Bestimmungen betroffen gewesen seien, da sie auf Grund ebendieser im Hinblick auf ihre aktuelle Tarifverhandlungsstrategie und Organisationsstruktur gezwungen gewesen seien, eine potenzielle Verdrängung der durch sie zukünftig ausgehandelten Tarifverträge mit einzukalkulieren. Folglich sei ihre Beschwerdebefugnis gegeben.
16. Das Gericht stellte ferner fest, dass § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz das Recht auf Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nach Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz erheblich beeinträchtige. Die Vorschrift führe zur Nichtanwendbarkeit der Bestimmungen eines durch die Tarifverhandlungen einer Gewerkschaft ausgehandelten Tarifvertrags. Die Mitglieder der betreffenden Gewerkschaft hätten folglich keinen Tarifvertrag mehr.
17. Darüber hinaus führe diese Vorschrift dazu, dass Minderheitsgewerkschaften in einem Unternehmen durch die Arbeitgeberseite nicht weiter als ernst zu nehmende Tarifverhandlungspartner wahrgenommen würden. Dadurch werde die Fähigkeit dieser Gewerkschaften zur Gewinnung neuer Mitglieder und zur Streikmobilisierung ihrer Mitglieder geschwächt. Ferner werde die Vereinigungsfreiheit der Gewerkschaften beeinträchtigt, da sie nun verpflichtet werden könnten, im Rahmen von arbeitsgerichtlichen Verfahren zu dem Zweck der Mehrheitsfeststellung ihren Mitgliederbestand innerhalb eines Betriebs (siehe § 2a Abs. 1 Nr. 6 und § 99 Arbeitsgerichtsgesetz, Rdnr. 30) und damit ihre Stärke im Falle von Arbeitskampfmaßnahmen offenzulegen. Darüber hinaus würden die Entscheidungen der Gewerkschaft hinsichtlich Verhandlungsstrategie und Verhandlungsprofil und insbesondere hinsichtlich der von ihnen zu vertretenden Berufsgruppen von dieser Vorschrift beeinflusst. Allerdings schränke die Vorschrift nicht das Streikrecht einer Gewerkschaft ein, auch nicht in den Fällen, in denen bereits im Vorfeld bekannt sei, dass die Arbeitskampfmaßnahmen ergreifende Gewerkschaft einen kleineren Mitgliederbestand habe als eine andere Gewerkschaft in dem betreffenden Unternehmen.
18. Die durch die angegriffenen Bestimmungen erfolgenden Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit fielen, ausgelegt im Lichte des Grundgesetzes, größtenteils in den Ermessensspielraum des Staates und seien somit begründet.
19. Die Vereinigungsfreiheit könne durch Rechtsnormen, die das Verhältnis konkurrierender Gewerkschaften regelten, eingeschränkt werden. Die angegriffenen Bestimmungen verfolgten das wichtige legitime Ziel, in Tarifverträgen einen fairen Ausgleich in der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gewährleisten und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie zu sichern. Die Bestimmungen zielten darauf ab, gewerkschaftliche Aktivitäten dahingehend zu beeinflussen, dass die intergewerkschaftliche Kooperation gefördert und eine Aushandlung unterschiedlicher Tarifverträge für Beschäftigte in vergleichbaren Positionen vermieden werde. Wenn Beschäftigte mit Schlüsselpositionen in den Betrieben ihre Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen separat verhandelten und folglich die Möglichkeit der anderen Beschäftigten einschränkten, auf Augenhöhe mit der Arbeitgeberseite zu verhandeln, würde dies zu einer Beeinträchtigung fairer Tarifverhandlungen führen.
20. Das Gericht erklärte, dass die angegriffenen Bestimmungen zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit restriktiv ausgelegt werden müssten. Zunächst könnten alle Tarifvertragsparteien in einem Betrieb vereinbaren, dass der Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft im Falle des Abschlusses mehrerer kollidierender Tarifverträge nicht nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz verdrängt werden solle. Darüber hinaus werde ein Tarifvertrag nur unter bestimmten Umständen verdrängt, das heißt, nur falls und so lange es eine Überschneidung in räumlicher, zeitlicher, betrieblich-fachlicher und persönlicher Hinsicht mit dem Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft gebe und falls sich die Bestimmungen zu den Arbeitsbedingungen in den Tarifverträgen zumindest in Teilen unterschieden (kollidierende Tarifverträge). Selbst wenn ein solcher Konflikt eintrete, könnten langfristig angelegte, die Lebensplanung der Beschäftigten berührende Leistungen oder Garantien aus dem Minderheitstarifvertrag, wie z. B. langfristig angelegte Leistungen zur Alterssicherung, Arbeitsplatzgarantien oder Bestimmungen zur Lebensarbeitszeit nicht verdrängt werden, sofern der Mehrheitstarifvertrag keine vergleichbaren Leistungen oder Garantien vorsehe.
21. Außerdem sei der Anspruch auf Nachzeichnung des Mehrheitstarifvertrags in § 4a Abs. 4 Tarifvertragsgesetz weit auszulegen und auf den gesamten Mehrheitstarifvertrag anzuwenden, und nicht nur auf die Punkte, bei denen eine Überschneidung der Verträge vorliege. Ein Tarifvertrag werde darüber hinaus nicht verdrängt, wenn die Regeln zur Bekanntgabe der Aufnahme von Tarifverhandlungen und zur Anhörung anderer konkurrierender Gewerkschaften (§ 4a Abs. 5 Tarifvertragsgesetz), welche das Ziel des Schutzes der Rechte der Minderheitsgewerkschaft nach Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz verfolgten, nicht eingehalten worden seien. Schließlich müsse das Verfahren nach § 99 Arbeitsgerichtsgesetz in einer Weise geführt werden, die eine Offenlegung des Mitgliederbestands einer bestimmten Gewerkschaft, soweit möglich, verhindere. Dies könne z. B. durch eine notarielle Bescheinigung ausschließlich darüber, welche Gewerkschaft die Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb organisiere, geschehen, ohne dabei die Namen der Mitglieder oder den Mitgliederbestand einer betreffenden Gewerkschaft offenzulegen.
22. § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz sei jedoch insofern nicht verhältnismäßig als er keine Schutzvorkehrungen gegen eine Vernachlässigung der Interessen der Angehörigen einzelner Berufsgruppen und Branchen durch die Mehrheitsgewerkschaft (in welcher diese Beschäftigten möglicherweise nicht vertreten oder unterrepräsentiert seien) im Tarifvertrag ebendieser Gewerkschaft vorsehe. Diese Vorschrift bleibe bis zu ihrer Änderung durch den Gesetzgeber (spätestens bis zum 31. Dezember 2018) mit der Maßgabe anwendbar, dass ein Tarifvertrag nur verdrängt werden könne, wenn nachgewiesen worden sei, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt werde, ernsthaft und wirksam berücksichtigt habe.
23. Völkerrechtliche Normen, u. a. Artikel 11 der Konvention und die Europäische Sozialcharta, enthielten keine über den durch Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz hinausgehenden Schutz.
24. Mit Beschluss vom 10. August 2017, der den Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer am 28. September 2017 zugestellt wurde, lehnte es das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf sein Leiturteil vom 11. Juli 2017 ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer der dritten, vierten und fünften Individualbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1803/15).
EINSCHLÄGIGER RECHTSRAHMEN
I. DER INNERSTAATLICHE RECHTSRAHMEN
A. Bestimmungen des Grundgesetzes
25. Artikel 9 Grundgesetz, zur Vereinigungsfreiheit, lautet, soweit maßgeblich:
„3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. […]“
B. Bestimmungen des Tarifvertragsgesetzes und des Tarifeinheitsgesetzes
26. Nach § 3 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz binden Tarifverträge die Arbeitgeberseite und die Mitglieder der Gewerkschaft, die den Tarifvertrag abgeschlossen haben.
27. § 4a Tarifvertragsgesetz zur Tarifkollision in der durch das Tarifeinheitsgesetz abgeänderten und zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung lautet:
„1) Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von Rechtsnormen des Tarifvertrags werden Tarifkollisionen im Betrieb vermieden.
2) Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden sein. Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat (Mehrheitstarifvertrag); […]
4) Eine Gewerkschaft kann vom Arbeitgeber oder von der Vereinigung der Arbeitgeber die Nachzeichnung der Rechtsnormen eines mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifvertrags verlangen. […]
5) Nimmt ein Arbeitgeber oder eine Vereinigung von Arbeitgebern mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über den Abschluss eines Tarifvertrags auf, ist der Arbeitgeber oder die Vereinigung von Arbeitgebern verpflichtet, dies rechtzeitig und in geeigneter Weise bekannt zu geben. Eine andere Gewerkschaft, zu deren satzungsgemäßen Aufgaben der Abschluss eines Tarifvertrags […] gehört, ist berechtigt, dem Arbeitgeber oder der Vereinigung von Arbeitgebern ihre Vorstellungen und Forderungen mündlich vorzutragen.“
28. Laut der von der Regierung dem Bundestag vorgelegten Begründung zum Entwurf für das Tarifeinheitsgesetz ziele das Gesetz auf die Sicherung der ordnungsgemäßen Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie durch eine Verhinderung von Tarifkollisionen ab. Ziel des Gesetzes sei auch die Sicherung der Ordnungsfunktion, Verteilungsfunktion, Schutzfunktion sowie Befriedungsfunktion von Tarifverträgen. Diese Funktionen würden beeinträchtigt werden, wenn kollidierende Tarifverträge gelten würden, welche nicht den Wert der Arbeitsleistung unterschiedlicher Beschäftigter innerhalb eines Betriebs zueinander widerspiegelten, sondern vor allem Ausdruck der jeweiligen Schlüsselpositionen oder anderen Positionen der betreffenden Beschäftigten im Betriebsablauf seien. Das Gesetz solle insbesondere die Solidarität unter den Beschäftigten wahren, indem vermieden werde, dass Gewerkschaften, die Beschäftigte in Schlüsselpositionen vertreten, Tarifverträge zum Nachteil anderer Beschäftigter verhandelten. Weiteres Ziel des Gesetzes sei es, die Herstellung eines Gesamtkompromisses innerhalb eines Betriebs zu erleichtern, was insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten mit Blick auf die Beschäftigungssicherung wichtig sei. Die Bestimmungen des Gesetzes würden darauf abzielen, Gewerkschaften dazu anzuhalten, vom Abschluss kollidierender Tarifverträge für Beschäftigte in vergleichbaren Positionen abzusehen. Von verschiedenen Fachleuten vorgeschlagene alternative Herangehensweisen zur Vermeidung von Tarifkollisionen seien nicht als vergleichbar geeignete Mittel zur Erreichung dieses Ziels gesehen worden (siehe Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4062 vom 20. Februar 2015, S. 8 ff.).
29. Mit einem am 1. Januar 2019 in Kraft getretenen Gesetz (Bundesgesetzblatt I, S. 2651) wurde § 4a Abs. 2 Tarifvertragsgesetz durch den Gesetzgeber geändert, um dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen. Die geänderte Fassung des § 4a Abs. 2 besagt ferner, dass die Rechtsnormen des von der Minderheitsgewerkschaft geschlossenen Tarifvertrags anwendbar bleiben, wenn die Interessen der auch vom Minderheitstarifvertrag umfassten Beschäftigtengruppen zum Zeitpunkt des Zustandekommens des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft nicht ernsthaft und wirksam berücksichtigt wurden.
C. Bestimmungen des Arbeitsgerichtsgesetzes
30. Der durch das Tarifeinheitsgesetz eingefügte § 2a Abs. 1 Nr. 6 Arbeitsgerichtsgesetz besagt, dass für die Entscheidung über den nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz innerhalb eines Betriebs anwendbaren Tarifvertrag im Falle mehrerer kollidierender Tarifverträge ausschließlich die Gerichte für Arbeitssachen zuständig sind. Der neu eingefügte § 99 Arbeitsgerichtsgesetz beschreibt das hierbei anzuwendende Vorgehen. Er legt insbesondere fest, dass das Verfahren auf Antrag einer Tarifvertragspartei eines kollidierenden Tarifvertrags eingeleitet werden kann. Der rechtskräftige Beschluss darüber, welcher Tarifvertrag im betreffenden Betrieb anwendbar ist, hat erga omnes-Wirkung.
II. VÖLKERRECHT UND VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS
31. Internationale Organe haben in Bezug auf innerstaatliche Rechtssysteme, in denen von Gewerkschaften für Tarifverhandlungen und Tarifvertragsabschlüsse die Einhaltung bestimmter Repräsentativitätskriterien verlangt wird, u. a. die im Folgenden dargestellten Feststellungen getroffen.
32. Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit (Committee on Freedom of Association – CFA) der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO) hat unter Berücksichtigung u. a. des durch Deutschland ratifizierten Übereinkommens über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen (Nr. 98), 1949, seine diesbezügliche Praxis wie folgt zusammengefasst:
„1350.Die Empfehlung betreffend der Förderung von Kollektivverhandlungen, 1981 (Nr. 163), zählt verschiedene Möglichkeiten der Förderung von Tarifverhandlungen auf, einschließlich der Anerkennung repräsentativer Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände (Rdnr. 3 Buchst. a). […]
1351. Tarifsysteme, in denen für die repräsentativste Gewerkschaft Exklusivrechte gelten, und Systeme, in denen mehrere Tarifverträge durch unterschiedliche Gewerkschaften innerhalb eines Unternehmens abgeschlossen werden können, sind jeweils mit den Grundsätzen der Vereinigungsfreiheit vereinbar. […]
1360. Sowohl Systeme, die grundsätzlich nur einen (den repräsentativsten) Verhandlungsführer vorsehen, als auch Systeme, die nach klaren, im Vorfeld feststehenden Kriterien zur Bestimmung der zu Tarifverhandlungen berechtigten Vereinigungen sämtliche oder die repräsentativsten Vereinigungen einbeziehen, sind mit dem Übereinkommen Nr. 98 vereinbar. […]
1387. Der Ausschuss rief die Position des ILO-Sachverständigenausschusses für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen in Erinnerung, der zufolge Minderheitsgewerkschaften in Systemen, in denen das Recht eines Staates eine Unterscheidung zwischen der repräsentativsten Gewerkschaft und anderen Gewerkschaften treffe, nicht in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden dürften und diese zumindest das Recht haben müssten, die Forderungen ihrer Mitglieder vorzutragen und diese auch hinsichtlich individueller Beschwerden zu vertreten.“ (Siehe Zusammenstellung der Entscheidungen des CFA-Ausschusses für Vereinigungsfreiheit der ILO (2018), mit weiteren Nachweisen.)
33. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee of Social Rights – ECSR) stellte in Bezug auf das Recht auf Kollektivverhandlungen nach Artikel 6 der Europäischen Sozialcharta (von Deutschland zum maßgeblichen Zeitpunkt in ihrer ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 1961 ratifiziert) fest:
„Es steht Vertragsstaaten frei, von Gewerkschaften unter bestimmten Bedingungen die Einhaltung einer Repräsentativitätsverpflichtung zu fordern. Im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 2 darf die Möglichkeit, wirksam an Tarifverhandlungen teilzunehmen, für Gewerkschaften nicht übermäßig durch eine solche Anforderung eingeschränkt werden. Um Artikel 6 Abs. 2 zu entsprechen, muss das Repräsentativitätskriterium gesetzlich vorgeschrieben, objektiv und angemessen sein sowie einer gerichtlichen Überprüfung offenstehen, was einen angemessenen Schutz vor willkürlicher Versagung bieten würde. […]” (Siehe Rechtsprechungssammlung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte [Digest of the Case Law of the ECSR], Dezember 2018, S. 100, mit weiteren Nachweisen.)
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. VERBINDUNG DER BESCHWERDEN
34. Angesichts des ähnlichen Gegenstands der Individualbeschwerden erachtet es der Gerichtshof für angemessen, diese zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden (Artikel 42 Abs. 1 Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 11 DER KONVENTION
35. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer rügten, dass die angegriffenen Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes ihr Recht, Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten, verletzten, einschließlich des Rechts auf Tarifverhandlungen nach Artikel 11 der Konvention, der wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.
(2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.“
A. Zulässigkeit
36. Die Parteien waren sich insbesondere dahingehend einig, dass alle Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer geltend machen können, im Sinne des Artikels 34 der Konvention unmittelbar Opfer einer Verletzung des Artikels 11 durch die angegriffenen Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes zu sein.
37. Der Gerichtshof merkt an, dass eine Person oder Personengruppe, um im Sinne des Artikels 34 geltend machen zu können, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, unmittelbar von der angegriffenen Maßnahme betroffen sein muss (siehe umfassende Darstellung der diesbezüglich einschlägigen Rechtsprechung in Yusufeli İlçesini Güzelleştirme Yaşatma Kültür Varlıklarını Koruma Derneği ./. Türkei (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 37857/14, Rdnrn. 37-39, 7. Dezember 2021). Es steht einer Person jedoch auch dann, wenn es an einer individuellen Vollzugsmaßnahme fehlt, offen, zu behaupten, dass ein Gesetz sie in ihren Rechten verletze und sie dadurch im Sinne des Artikels 34 Opfer einer Verletzung sei, wenn sie entweder ihr Verhalten ändern muss, um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entgehen, oder einem Personenkreis angehört, der Gefahr läuft, von dem Gesetz unmittelbar betroffen zu sein (siehe u. a. Burden ./. das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13378/05, Rdnrn. 33-34, ECHR 2008, und Michaud ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 12323/11, Rdnr. 51, ECHR 2012).
38. Der Gerichtshof stellt fest, dass die beschwerdeführenden Gewerkschaften mit Inkrafttreten des angegriffenen Gesetzes und mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2017 ihre Tarifverhandlungsstrategie und möglicherweise ihre Organisationsstruktur im Einklang mit dem Ziel dieses Gesetzes anpassen mussten, um zu vermeiden, dass zukünftig von ihnen ausgehandelte Tarifverträge verdrängt werden (siehe auch die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in den Rdnrn. 15 und 17 sowie die Rdnrn. 46-47 und 46). Die beschwerdeführenden Gewerkschaften wie auch die Gewerkschaftsmitglieder, an deren Interessen die Gewerkschaften ihre Tarifverhandlungsstrategien ausgerichtet und angepasst haben, sind dementsprechend Mitglieder einer Gruppe, die Gefahr läuft, unmittelbar von dem angegriffenen Gesetz betroffen zu sein. Daraus folgt, dass alle Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer geltend machen können, Opfer der behaupteten Konventionsverletzung zu sein.
39. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass diese Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen in Artikel 35 der Konvention aufgeführten Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Stellungnahmen der Parteien
a) Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer
40. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer rügten, dass die angegriffenen Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes in schwerwiegender Weise in ihr in Artikel 11 der Konvention niedergelegtes Recht auf Vereinigungsfreiheit eingriffen. Auf Grund des Gesetzes seien die beschwerdeführenden Gewerkschaften nicht mehr in der Lage, anwendbare Tarifverträge in Unternehmen abzuschließen, in denen eine andere Gewerkschaft mehr Mitglieder verzeichne und die Arbeitgeberseite nicht mehr mit ihnen verhandeln wolle.
41. Der Eingriff sei nicht im Sinne des Artikels 11 Abs. 2 gesetzlich vorgesehen. Die angegriffenen Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes seien nicht hinreichend präzise und vorhersehbar anzuwenden. In der Praxis sei es sehr schwierig zu bestimmen, welche Unternehmenseinheit den maßgeblichen „Betrieb“ darstelle, welche Mitarbeitenden zu den „Beschäftigten“ gezählt würden und welche der Gewerkschaften folglich in einem Betrieb die Mehrheit der Mitglieder verzeichne. Der erste Beschwerdeführer brachte ferner vor, dass die angegriffenen Bestimmungen kein legitimes Ziel verfolgten, da sie bezwecken würden, die intergewerkschaftliche Kooperation zu fördern, obgleich die Entscheidung über die Art und Weise der Aushandlung von Tarifverträgen den Gewerkschaften vorbehalten sei.
42. Schließlich stehe der durch die angegriffenen Bestimmungen erfolgende Eingriff in ein wesentliches Element der Vereinigungsfreiheit der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, namentlich das Recht auf Tarifverhandlungen, nicht im Verhältnis zu dem Ziel der Ausgewogenheit in Tarifverhandlungen. Der Eingriff werde nicht angemessen durch das Recht der Minderheitsgewerkschaft auf Anhörung und Nachzeichnung des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft ausgeglichen, da die Gewerkschaften hierdurch ihre Unabhängigkeit und ihre Attraktivität für die Mitglieder einbüßten. Ferner sei es schwierig, die Mitglieder für einen Streik zu mobilisieren, wenn von Beginn an feststehe, dass das dadurch erzielte und in einem Tarifvertrag abgebildete Ergebnis letztendlich nicht anwendbar wäre. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer hoben insbesondere hervor, dass das angegriffene Gesetz, das auch Gewerkschaften wie den ersten Beschwerdeführer, der keine Beschäftigten in Schlüsselpositionen vertrete, betreffe, folglich dazu führe, dass kleinere Gewerkschaften bestimmter Berufsgruppen benachteiligt und in ihrer Existenz bedroht würden.
43. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer trugen ferner vor, dass es vor Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes in der Praxis teilweise zu Situationen gekommen sei, in denen innerhalb eines Betriebs für dieselbe Berufsgruppe unterschiedliche Tarifverträge anwendbar gewesen seien und dass nicht belegt sei, dass dies zu besonderen Schwierigkeiten geführt hätte. Der wahre Grund für die Verabschiedung des angegriffenen Gesetzes sei die Schaffung einer Monopolstruktur auf der Beschäftigtenseite. Es sei zwar zutreffend, dass § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz in der Praxis niemals angewendet werden musste, doch dies liege auch an der Tatsache, dass die Tarifvertragsparteien in einigen Branchen vereinbart hätten, die Anwendung der Vorschrift für bestimmte Tarifverträge von Minderheitsgewerkschaften auszuschließen, wodurch Letztere anwendbar geblieben seien (zu dieser Möglichkeit siehe Rdnr. 20).
b) Die Regierung
44. Die Regierung trug vor, dass der durch das angegriffene Gesetz erfolgte Eingriff in die Vereinigungsfreiheit der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, welche ein Recht auf Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberseite enthalte, im Sinne des Artikels 11 Abs. 2 gerechtfertigt sei. Der Eingriff sei gesetzlich vorgesehen, und zwar durch das Tarifeinheitsgesetz in der strikten Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht. Insbesondere der Begriff „Betrieb“ aus dem neuen § 4a Abs. 2 Tarifvertragsgesetz werde seit langem im Arbeitsrecht verwendet und auf vorhersehbare Weise durch die Arbeitsgerichte ausgelegt.
45. Der Eingriff verfolge das legitime Ziel, die Rechte und Freiheiten anderer Gewerkschaften und ihrer Mitglieder zu schützen. Er diene dem Schutz des deutschen Systems der Tarifautonomie insgesamt, indem verhindert werde, dass sich eine Minderheitsgewerkschaft, die Beschäftigte in Schlüsselpositionen vertrete, einen unverhältnismäßig hohen Anteil des Unternehmensgewinns sichere. Die Regierung trug vor, dass seit dem Jahr 2000 mehrere dieser Gewerkschaften, die u. a. Pilotinnen und Piloten, Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter, beschäftigte Ärztinnen und Ärzte sowie Zugführerinnen und Zugführer vertreten, separate Tarifverhandlungen sowie intensive Arbeitskampfmaßnahmen zur Erreichung besonderer Vorteile für ihre Mitglieder durchgeführt hätten.
46. Der Eingriff sei ferner in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Rechte anderer erforderlich. Der Gesetzgeber habe in dieser Hinsicht einen weiten Ermessensspielraum, da sich das Gesetz auf Deutschlands Sozial- und Wirtschaftspolitik beziehe und nur einen Nebenaspekt der Gewerkschaftsfreiheit berühre. Das Gesetz betreffe alle Gewerkschaften, ob groß oder klein, auf dieselbe Weise, da die Antwort auf die Frage, welche Gewerkschaft in einem bestimmten Betrieb die Mehrheit der Mitglieder habe, für gewöhnlich ungewiss sei. Das Gesetz rege daher lediglich alle Gewerkschaften gleichermaßen dazu an, ihre Tarifverhandlungsbestrebungen untereinander abzustimmen, während das Recht auf Tarifverhandlungen und ggf. die Ergreifung von Arbeitskampfmaßnahmen erhalten bleibe. Außerdem seien Verfahrensrechte zum Schutz von Minderheitsgewerkschaften geschaffen worden.
47. Die Regierung trug vor, dass dieses System in der Praxis funktionsfähig sei; insbesondere § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz sei bisher niemals angewendet worden. Keine der kleineren Gewerkschaften habe infolge des angegriffenen Gesetzes eine wesentliche Anzahl an Mitgliedern oder an Bedeutung in Tarifverhandlungen verloren. Im Wesentlichen habe das Gesetz den Grundsatz der Tarifeinheit wieder eingeführt, den das Bundesarbeitsgericht bis zur Änderung seiner Rechtsprechung über Jahrzehnte angewendet habe (siehe Rdnr. 9).
c) Die Drittbeteiligten
48. Sowohl der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) als auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) vertraten die Auffassung, dass das Tarifeinheitsgesetz mit Artikel 11 der Konvention vereinbar sei, auch im Lichte des Internationalen Dienstrechts, welches es gestatte, repräsentative Gewerkschaften zu privilegieren (siehe die in Rdnr. 32 zitierte Praxis des CFA-Ausschusses für Vereinigungsfreiheit der ILO).
Sie hoben ferner hervor, dass die meisten Vertragsparteien der Konvention gemäß den von ihnen zusammengetragenen und vorgelegten rechtsvergleichenden Materialien über Regeln verfügten, welche die Anwendung unterschiedlicher kollidierender Tarifverträge verhindern würden. Sie bestätigten, dass Minderheitsgewerkschaften in der Praxis weiterhin in der Lage gewesen seien, anwendbare Tarifverträge abzuschließen, sei es durch Vereinbarungen über den Ausschluss der Anwendung des § 4a Abs. 2 Tarifvertragsgesetz (siehe auch Rdnrn. 20 und 43) oder durch den ex ante-Ausschluss von Kollisionen in den unterschiedlichen ausgehandelten Tarifverträgen.
49. Die Deutsche Bahn AG und der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister e.V. (AGV MOVE) erklärten, dass es der Deutsche Bahn AG durch das Tarifeinheitsgesetz ermöglicht worden sei, nahezu identische Tarifverträge mit zwei Gewerkschaften abzuschließen, da das Gesetz die dritte Beschwerdeführerin und eine konkurrierende Gewerkschaft zu einem Mindestmaß an Kooperation veranlasst habe, und dass es somit eine unterbrechungsfreie Bereitstellung von Verkehrsdienstleistungen sowie die Gleichbehandlung unterschiedlicher Beschäftigtengruppen ermöglicht habe.
50. Sowohl die letztgenannte Drittbeteiligte als auch der Arbeitgeberverband Luftverkehr (AGVL) trugen ferner vor, dass das angegriffene Gesetz eine angemessene und praktikable Lösung für den Fall einer Tarifkollision und somit Rechtssicherheit biete, u. a. in Bezug auf Arbeitszeitmodelle. Dies sei für die Führung eines Bahn- oder Luftverkehrsunternehmens, welches ein komplexes System zur Koordinierung der Arbeit unterschiedlicher Beschäftigter erfordere, von herausragender Bedeutung.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Gab es einen Eingriff?
51. Der Gerichtshof stellt fest, dass die angegriffenen Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes, durch welche insbesondere § 4a Abs. 2 Satz 2 in das Tarifvertragsgesetz eingefügt wurde, dazu führen können, dass ein von einer Gewerkschaft mit der Arbeitgeberseite geschlossener Tarifvertrag vollständig verdrängt wird, wenn ein kollidierender Tarifvertrag – der zumindest in Teilen abweichende Bestimmungen zu den Arbeitsbedingungen enthält und sich mit dem Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft in räumlicher, zeitlicher, betrieblich-fachlicher und persönlicher Hinsicht überschneidet (siehe Rdnrn. 9 und 20) – durch eine andere Gewerkschaft mit einem größeren Mitgliederbestand in dem Betrieb des betreffenden Unternehmens geschlossen wurde. Infolge der angegriffenen Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes, durch welche § 2a Abs. 1 Nr. 6 und § 99 in das Arbeitsgerichtsgesetz eingefügt wurden (siehe Rdnr. 30), können Gewerkschaften ferner dazu verpflichtet werden, ihren Mitgliederbestand innerhalb eines Betriebs, und damit ihre Stärke für den Fall von Arbeitskampfmaßnahmen, im Rahmen eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens zur Bestimmung der Mehrheitsgewerkschaft offenzulegen. Diese Bestimmungen greifen in das Recht der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer ein, nach Artikel 11 Abs. 1 der Konvention Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten, welches das Recht beider Gewerkschaften und ihrer Mitglieder beinhaltet, Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberseite zu führen (vgl. u. a. Demir und Baykara ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 34503/97, Rdnr. 154, ECHR 2008).
b) War der Eingriff gerechtfertigt?
i) Gesetzlich vorgesehen
52. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Rechtsgrundlage für den Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten, namentlich das Tarifeinheitsgesetz i. V. m. den durch dieses Gesetz geänderten Bestimmungen (insbesondere § 4a Tarifvertragsgesetz und § 2a Abs. 1 Nr. 6 sowie § 99 Arbeitsgerichtsgesetz) hinreichend präzise formuliert war, um es den betroffenen Personen zu ermöglichen, ihr Verhalten anzupassen, und daher in der Anwendung vorhersehbar ist. Insbesondere die Tatsache, dass es sich bei der Auslegung des Begriffs „Betrieb“ in § 4a Tarifvertragsgesetz und den Kriterien für die Einstufung von Personen als „Beschäftigte“ im Sinne dieser Vorschrift um Fragen der gerichtlichen Praxis handelt, ändert nichts an dieser Feststellung, da diese Begriffe in der Praxis der Arbeitsgerichte häufig vorkommen. Der Eingriff ist daher im Sinne des Artikels 11 Abs. 2 „gesetzlich vorgesehen“.
(ii) Verfolgung eines legitimen Ziels
53. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes insbesondere mit gegenläufigen Interessen unterschiedlicher Beschäftigtengruppen aus miteinander konkurrierenden Gewerkschaften sowie den Interessen der Arbeitgeberseite konfrontiert war. Der Gerichtshof ist grundsätzlich der Auffassung, dass die Einräumung einer uneingeschränkten Freiheit, insbesondere von Gewerkschaften zum Abschluss einer Vielzahl von Tarifverträgen innerhalb eines Betriebs, dem legitimen Interesse der Sicherung des Friedens und der Solidarität innerhalb dieses Betriebs entgegenstehen könnte. Daher ist es gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber bestrebt ist, einen gerechten Ausgleich zwischen dem Ziel der Friedens- und Solidaritätssicherung innerhalb eines Betriebs einerseits und der uneingeschränkten Freiheit konkurrierender Gewerkschaften zur Verhandlung separater Tarifverträge innerhalb desselben Betriebs andererseits, herbeizuführen. Der Gerichtshof hat ferner anerkannt, dass staatliche Maßnahmen zur Sicherung einer kohärenten und ausgewogenen Personalpolitik, bei denen die beruflichen Interessen aller Beschäftigten und nicht nur bestimmter Beschäftigtengruppen innerhalb eines Betriebs angemessen berücksichtigt werden, ein legitimes Ziel verfolgen (siehe National Union of Belgian Police ./. Belgien, 27. Oktober 1975, Rdnr. 48, Serie A Band 19, vor dem Hintergrund des Artikels 11 i. V. m. Artikel 14). Der Gerichtshof stellt fest, dass die angegriffenen Bestimmungen des Tarifeinheitsgesetzes das Ziel verfolgen, die ordnungsgemäße und gerechte Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie zu sichern, indem verhindert wird, dass Gewerkschaften, die Beschäftigte in Schlüsselpositionen vertreten, Tarifverträge separat und zum Nachteil anderer Beschäftigter aushandeln, und um die Herstellung eines Gesamtkompromisses zu erleichtern (siehe Rdnrn. 19 und 28). Die Bestimmungen dienen daher dem Schutz der Rechte anderer, und zwar insbesondere der Rechte der Beschäftigten, welche keine Schlüsselpositionen innehaben, sowie der ihre Interessen vertretenden Gewerkschaften, aber auch dem Schutz der Rechte der Arbeitgeberseite; folglich verfolgen sie ein legitimes Ziel im Sinne des Artikels 11 Abs. 2.
(iii) Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft
α) Einschlägige Grundsätze
54. Der Gerichtshof weist hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in gewerkschaftliche Aktivitäten erneut darauf hin, dass der Umfang des Ermessensspielraums des Staates in die Gewerkschaftsfreiheit betreffenden Fällen von Art und Ausmaß der Einschränkung des betreffenden Gewerkschaftsrechts, dem mit der angegriffenen Einschränkung verfolgten Ziel und den widerstreitenden Rechten und Interessen anderer Mitglieder der Gesellschaft, die unter einer uneingeschränkten Ausübung dieses Rechts leiden würden, abhängig ist (siehe National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 31045/10, Rdnr. 86, ECHR 2014). Hinsichtlich der in dem Fall aufgeworfenen Frage kann außerdem der Grad der Übereinstimmung zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats wie auch ein sich in den einschlägigen internationalen Instrumenten abzeichnender internationaler Konsens maßgeblich sein (siehe Demir und Baykara, a. a. O., Rdnr. 85; National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, a. a. O., Rdnr. 86 und Association of Academics ./. Island (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 2451/16, Rdnr. 25, 15. Mai 2018).
55. Die Tatsache, dass das Erreichen eines gerechten Ausgleichs zwischen den jeweiligen Interessen der Beschäftigten und der Geschäftsführung heikle gesellschaftliche und politische Fragen aufwirft und es große Unterschiede zwischen den einzelnen innerstaatlichen Systemen in diesem Bereich gibt, legt einen weiten Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Frage nahe, wie die Gewerkschaftsfreiheit und der Schutz beruflicher Interessen von Gewerkschaftsmitgliedern gesichert werden können (siehe Sindicatul „Păstorul cel Bun” ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 2330/09, Rdnr. 133, ECHR 2013 (Auszüge); National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, a. a. O., Rdnrn. 86 und 91; und Norwegian Confederation of Trade Unions (LO) und Norwegian Transport Workers’ Union (NTF) ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 45487/17, Rdnrn. 97 und 114, 10. Juni 2021). Im Hinblick auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Strategie des beschwerdegegnerischen Staates, mit der die Möglichkeit von Gewerkschaften im Zusammenhang stehen, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, hat der Gerichtshof gewöhnlich einen weiten Ermessensspielraum gewährt, aus dem Grund, dass die nationalen Behörden und insbesondere die demokratisch gewählten Parlamente wegen ihrer direkten Kenntnis der Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse grundsätzlich eher als der internationale Richter in der Lage sind, zu ermessen, was aus sozialen oder wirtschaftlichen Gründen im öffentlichen Interesse ist und welche gesetzgeberischen Maßnahmen unter den Bedingungen in ihrem Land am besten zur Umsetzung der gewählten Sozial-, Wirtschafts- und Industriepolitik geeignet sind (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, a. a. O., Rdnr. 89). Auf Grund seines Wesens ist ein derartiger Eingriff hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Ausübung der Gewerkschaftsfreiheit folglich mit größerer Wahrscheinlichkeit verhältnismäßig (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, a. a. O., Rdnr. 87).
56. Der Kernbereich der Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 wird durch zwei Leitprinzipien geprägt. Erstens: Der Gerichtshof berücksichtigt innerhalb seines Ermessensspielraums die Gesamtheit der durch den betreffenden Staat ergriffenen Maßnahmen zur Sicherung der Gewerkschaftsfreiheit. Zweitens: Der Gerichtshof akzeptiert keine Einschränkungen der Kernelemente der Gewerkschaftsfreiheit, ohne die diese Freiheit ihrer Substanz beraubt werden würde (siehe Demir und Baykara ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 34503/97, Rdnr. 144, ECHR 2008; Association of Academics, a. a. O., Rdnr. 23; und Norwegian Confederation of Trade Unions (LO) und Norwegian Transport Workers’ Union (NTF), a. a. O., Rdnr. 94).
57. Als Kernelemente der Vereinigungsfreiheit wurden in einer nicht abschließenden, der Weiterentwicklung zugänglichen Aufzählung festgelegt: das Recht, Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten; das Verbot von Closed-Shop-Abreden; das Recht einer Gewerkschaft, die Arbeitgeberseite darum zu ersuchen, sie im Namen ihrer Mitglieder anzuhören; und grundsätzlich das Recht auf Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberseite (siehe Demir und Baykara, a. a. O., Rdnrn. 145 und 154 und Sindicatul „Păstorul cel Bun”, a. a. O., Rdnr. 135).
58. Grundprinzip der freiwilligen Tarifautonomie ist, dass es einer nicht durch die Arbeitgeberseite anerkannten Gewerkschaft möglich sein muss, Schritte zu ergreifen, erforderlichenfalls einschließlich der Durchführung von Arbeitskampfmaßnahmen, um die Arbeitgeberseite zur Aufnahme von Tarifverhandlungen hinsichtlich von Fragen, welche die Gewerkschaft als wesentlich für die Interessen ihrer Mitglieder erachtet, zu bewegen (siehe Wilson, National Union of Journalists u. a. ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerden Nrn. 30668/96 und 2 weitere, Rdnr. 46, ECHR 2002‑V, und Norwegian Confederation of Trade Unions (LO) und Norwegian Transport Workers’ Union (NTF), a. a. O., Rdnr. 95).
59. Zwar wird das Recht auf Ergreifung von Arbeitskampfmaßnahmen nicht als Kernelement der Gewerkschaftsfreiheit gesehen, das Streikrecht ist jedoch eindeutig durch Artikel 11 als Teil der gewerkschaftlichen Aktivität geschützt (siehe Association of Academics, a. a. O., Rdnrn. 24-27, mit weiteren Nachweisen und National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, a. a. O., Rdnr. 84). Das Recht auf Tarifverhandlungen wurde bislang nicht dahingehend ausgelegt, als beinhalte es das „Recht“ auf einen Tarifvertrag (siehe National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, a. a. O., Rdnr. 85; und Norwegian Confederation of Trade Unions (LO) und Norwegian Transport Workers’ Union (NTF), a. a. O., Rdnr. 93).
60. Staaten sind in der Gestaltung ihres Tarifvertragssystems frei und sie können daher bestimmten repräsentativen Gewerkschaften ggf. einen Sonderstatus verleihen (siehe Demir und Baykara, a. a. O., Rdnr. 154 und Tek Gıda İş Sendikası ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 35009/05, Rdnr. 33, 4. April 2017). Der Gerichtshof hat folglich eine allgemeine Praxis, bei der die Organisationen, welche (formal) in Tarifverhandlungsprozessen konsultiert werden und mit denen Tarifverträge abgeschlossen werden können, auf größere oder für die Gesamtheit der Beschäftigten eines Betriebs repräsentativere Gewerkschaften begrenzt werden, als vereinbar mit der Gewerkschaftsfreiheit befunden, sofern die anderen Gewerkschaften anderweitig Gehör finden (vergleiche National Union of Belgian Police, a. a. O., Rdnrn. 39-41 und 48; SwedishEngine Drivers’ Union ./. Schweden, 6. Februar 1976, Rdnrn. 8-9, 40-42 und 46, Serie A Band 20; und Schettini u. a. ./. Italien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 29529/95, 9. November 2000). Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang ferner bestätigt, dass eine solche Praxis das Recht von Gewerkschaftsmitgliedern auf Beitritt oder Verbleib in einer kleineren oder weniger repräsentativen Gewerkschaft nicht verletzt, sondern vollständig aufrechterhält, auch wenn die nachteilige Position dieser Gewerkschaften zu einem Rückgang ihres Mitgliederbestands führen könnte (siehe National Union of Belgian Police, a. a. O., Rdnr. 41 und Swedish Engine Drivers’ Union, a. a. O., Rdnr. 42).
β) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
61. Den Vertragsstaaten muss im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Bestimmungen ein Ermessensspielraum eingeräumt werden. Wie groß dieser Spielraum ist, hängt u. a. von Art und Ausmaß der durch diese Bestimmungen innerhalb des gesamten regulatorischen Kontexts erfolgenden Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit und insbesondere des Rechts auf Tarifverhandlungen ab (vgl. Rdnr. 54).
62. Der Gerichtshof stellt in dieser Hinsicht fest, dass die wesentliche, durch das Tarifeinheitsgesetz bewirkte Einschränkung darin besteht, dass ein kollidierender Tarifvertrag, der sich mit einem anderen Tarifvertrag in räumlicher, zeitlicher, betrieblich-fachlicher und persönlicher Hinsicht überschneidet und zumindest in Teilen abweichende Bestimmungen zu den Arbeitsbedingungen enthält (siehe Rdnrn. 9 und 20), und der von einer anderen Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die nicht über die höchste Anzahl von innerhalb des Betriebs des betreffenden Unternehmens beschäftigten Mitgliedern verfügt, verdrängt wird (siehe den neuen § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz unter Rdnr. 27).
63. Der Gerichtshof stellt fest, dass die betreffenden Gewerkschaften nicht ihr eigentliches Recht auf Tarifverhandlungen – und erforderlichenfalls auf Ergreifung von diesbezüglichen Arbeitskampfmaßnahmen – sowie auf Abschluss von Tarifverträgen verlieren. § 4a Tarifvertragsgesetz soll Gewerkschaften dazu anhalten, ihre Tarifverhandlungen untereinander abzustimmen. Er sieht für den Fall des Scheiterns dieser Abstimmungen unterschiedliche rechtliche Wirkungen hinsichtlich der mit der Arbeitgeberseite geschlossenen kollidierenden Tarifverträge vor (und zwar insofern, als dass nur der Tarifvertrag, der von der Mehrheitsgewerkschaft innerhalb eines Betriebs geschlossen wurde, anwendbar bleibt).
64. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Ausmaß der durch die besagte Vorschrift bewirkten Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit und insbesondere des Rechts auf Tarifverhandlungen in mehrfacher Hinsicht begrenzt ist. So gilt insbesondere im Einklang mit § 4a Abs. 4 Tarifvertragsgesetz in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts (siehe Rdnrn. 27 und 21), dass die Gewerkschaften, deren Tarifverträge verdrängt werden, das Recht auf vollumfängliche Nachzeichnung der Rechtsnormen des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft haben. Folglich müssen diese Gewerkschaften nicht gegen ihren Willen auf jeglichen Tarifvertrag verzichten.
65. Ferner haben Minderheitsgewerkschaften nach § 4a Abs. 5 Tarifvertragsgesetz (siehe Rdnr. 27) weiterhin das Recht, der Arbeitgeberseite zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder ihre Vorstellungen und Forderungen wirksam vorzutragen und mit dieser zu verhandeln und Tarifverträge abzuschließen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Auslegung dieser Vorschrift das Recht von Minderheitsgewerkschaften auf Anhörung sogar weiter gestärkt. Das Gericht hat festgestellt, dass kollidierende Tarifverträge von Minderheitsgewerkschaften nicht verdrängt werden würden, wenn der gesetzlichen Pflicht auf Anhörung dieser Gewerkschaften nicht nachgekommen worden sei (siehe Rdnr. 21). Ferner werde ein konkurrierender Tarifvertrag nur dann gemäß § 4a Abs. 2 Tarifvertragsgesetz verdrängt, wenn die Interessen der Beschäftigten der bestimmten Berufsgruppe oder Branche, deren Tarifvertrag verdrängt wurde, von der Mehrheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam berücksichtigt worden seien (siehe Rdnrn. 14 und 22).
66. Außerdem würden langfristig angelegte Leistungen, wie z. B. Leistungen zur Alterssicherung aus dem Minderheitstarifvertrag, nur verdrängt werden, wenn der Mehrheitstarifvertrag vergleichbare Leistungen enthalte (siehe Rdnr. 20). Weiterhin ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts möglichst zu vermeiden, dass der Mitgliederbestand der Gewerkschaften innerhalb eines Betriebs in dem Verfahren zur Bestimmung der Mehrheitsgewerkschaft und des folglich nach § 99 Arbeitsgerichtsgesetz in diesem Betrieb anwendbaren Tarifvertrags offengelegt wird (siehe Rdnrn. 30 und 21).
67. Angesichts des Ausmaßes der Einschränkung des Rechts auf Tarifverhandlungen kann der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer auf Tarifverhandlungen nicht als Beeinträchtigung eines Kernelements der Gewerkschaftsfreiheit gesehen werden, ohne welches diese Freiheit ihrer Substanz beraubt werden würde. Wie oben dargestellt (siehe Rdnr. 59) beinhaltet das Recht auf Tarifverhandlungen kein „Recht“ auf einen Tarifvertrag. Wesentlich ist, dass Gewerkschaften der Arbeitgeberseite Forderungen vortragen und von dieser angehört werden können; dies wird von den angegriffenen Bestimmungen des Tarifvertragsgesetzes wirksam und in der Praxis garantiert. Ferner wurde vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klargestellt (siehe Rdnr. 17), dass das Streikrecht von Minderheitsgewerkschaften als wichtiges Instrument zum Schutz der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder durch die angegriffenen Bestimmungen nicht beeinträchtigt werde.
68. Der Gerichtshof merkt an, dass er in seiner Rechtsprechung bereits weitreichendere Einschränkungen des Rechts auf Tarifverhandlungen, insbesondere den vollständigen Ausschluss von Minderheitsgewerkschaften oder weniger repräsentativen Gewerkschaften von dem Recht, überhaupt Tarifverträge abzuschließen, als mit Artikel 11 vereinbar befunden hat (siehe Rdnr. 60).
69. In diesem Zusammenhang erinnert der Gerichtshof daran, dass die Weite des Ermessensspielraums des Staates auch von dem von der angegriffenen Einschränkung verfolgten Ziel und den widerstreitenden Rechten anderer, die unter einer uneingeschränkten Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen leiden würden, abhängig ist (siehe Rdnr. 54). Der Gerichtshof verweist auf seine obige Feststellung, dass die angegriffenen Bestimmungen insbesondere das Ziel verfolgen, die gerechte Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie zu sichern, indem verhindert wird, dass Beschäftigte in Schlüsselpositionen vertretende Gewerkschaften Tarifverträge separat und zum Nachteil anderer Beschäftigter aushandeln, und die Herstellung eines Gesamtkompromisses zu erleichtern. Diese Ziele, welche dem Schutz der Rechte besagter anderer Beschäftigter und der ihre Interessen vertretenden Gewerkschaften, aber auch der Arbeitgeberseite dienen, müssen als sehr gewichtig gesehen werden, da sie die Stärkung des gesamten Systems der Tarifautonomie und somit auch der Gewerkschaftsfreiheit selbst bezwecken.
70. Der Gerichtshof stellt fest, dass er wiederholt große Unterschiede zwischen den innerstaatlichen Systemen zum Schutz von Gewerkschaftsrechten festgestellt hat (siehe Rdnr. 55). Aus seiner Rechtsprechung geht ebenfalls hervor, dass mehrere andere Staaten genau wie der beschwerdegegnerische Staat, über Systeme verfügen, die auf die eine oder andere Weise den Abschluss von (anwendbaren) Tarifverträgen auf größere oder für die Gesamtheit der Beschäftigten eines Betriebs repräsentativere Gewerkschaften beschränken (siehe in Rdnr. 60 zitierte Rechtssachen). Das von den Drittbeteiligten vorgelegte und von den Parteien nicht angefochtene rechtsvergleichende Material (siehe Rdnr. 48) bestätigte ebenso, dass die meisten Vertragsparteien der Konvention über Regeln verfügten, welche die Anwendung unterschiedlicher kollidierender Tarifverträge verhindern. Rechtssysteme, die es ausschließlich „repräsentativen“ Gewerkschaften erlauben, Tarifverträge abzuschließen – welche mehr Einschränkungen als die in Rede stehenden angegriffenen Bestimmungen im vorliegenden Fall vorsehen – wurden ferner als vereinbar sowohl mit den einschlägigen ILO‑Instrumenten – insbesondere, wenn wie in der vorliegenden Rechtssache das Recht von Minderheitsgewerkschaften gewahrt wird, Forderungen im Namen ihrer Mitglieder vorzutragen – als auch mit der Europäischen Sozialcharta gesehen (siehe Rdnrn. 31-33).
71. Angesichts der vorstehenden Aspekte – insbesondere das begrenzte Ausmaß der durch die angegriffenen Bestimmungen im gesamten regulatorischen Kontext bewirkten Einschränkung des Rechts v. a. von kleineren Gewerkschaften auf Tarifverhandlungen und das gewichtige Ziel der Sicherung, im Interesse der Beschäftigten und der Arbeitgeberseite, einer ordnungsgemäßen Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie selbst – gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der beschwerdegegnerische Staat hinsichtlich der in Rede stehenden Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit einen Ermessensspielraum hatte.
72. Dieser Ermessensspielraum muss umso mehr gewährt werden als der Gesetzgeber heikle politische Entscheidungen treffen musste, um einen gerechten Ausgleich zwischen den jeweiligen Interessen der Beschäftigten – einschließlich der widerstreitenden Interessen unterschiedlicher Gewerkschaften – und der Geschäftsführung zu erzielen. Die Parteien haben nicht die ordnungsgemäße Durchführung des Gesetzgebungsverfahrens, welches zur Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes führte, bemängelt (siehe auch Rdnr. 28).
73. Der Gerichtshof fügt im Lichte seiner Rechtsprechung (siehe Rdnr. 60) ferner hinzu, dass die Tatsache, dass die angegriffenen Bestimmungen zu einem Verlust der Attraktivität und folglich zu einem Rückgang der Mitgliederzahlen kleinerer Gewerkschaften, die häufig spezifische Berufsgruppen vertreten, führen könnten, das – vollständig erhalten bleibende – Recht von Gewerkschaftsmitgliedern auf Beitritt oder Verbleib in einer Gewerkschaft nicht als solches verletzt.
74. Nach alledem kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Sachverhalt in der vorliegenden Rechtssache keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer auf Tarifverhandlungen erkennen lässt, da sie die Kernelemente dieses Rechts im Rahmen der Mitgliedervertretung und der im Namen ihrer Mitglieder geführten Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite ausüben können. Da der beschwerdegegnerische Staat über einen weiten Ermessensspielraum in diesem Bereich verfügt, der auch die angegriffenen Bestimmungen umfasst, besteht kein Grund, davon auszugehen, dass diese Bestimmungen eine unverhältnismäßige Einschränkung der Rechte der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer nach Artikel 11 bewirken.
75. Folglich ist Artikel 11 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:
1. Er beschließt einstimmig, die Individualbeschwerden zu verbinden;
2. er erklärt die Individualbeschwerden einstimmig für zulässig;
3. er erkennt mit fünf zu zwei Stimmen, dass Artikel 11 der Konvention nicht verletzt worden ist.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 5. Juli 2022 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Georges Ravarani
Kanzler Präsident
____________
Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die gemeinsame abweichende Meinung der Richter Serghides und Zünd beigefügt.
G.R.
M.B
GEMEINSAME ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTER SERGHIDES UND ZÜND
1. Wir können uns Punkt 3 der Urteilsformel, welcher besagt, dass Artikel 11 der Konvention nicht verletzt worden sei, nicht anschließen. Insbesondere können wir uns der Auffassung nicht anschließen, dass die angegriffenen Eingriffe auf der Grundlage von § 4a, insbesondere § 4a Abs. 2 Tarifvertragsgesetz in der durch das Tarifeinheitsgesetz geänderten Fassung, nicht das Recht der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer nach Artikel 11 Abs. 1 der Konvention verletzten, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.
2. Unserer Ansicht nach standen die Mittel der angegriffenen Eingriffe in einem völligen Missverhältnis zu ihrem legitimen Ziel, namentlich der Verhinderung kollidierender Tarifverträge, da a) sie den Kern oder den Wesensgehalt der in Artikel 11 Abs. 1 der Konvention niedergelegten Rechte der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer beeinträchtigten und unwirksam machten, und b) eingesetzt wurden, obwohl mildere Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels zur Verfügung standen, einschließlich Verhandlungen und Mediations- und Schiedsverfahren (es ist jedoch nicht unsere Aufgabe, weitere Ausführungen zu diesen milderen Mitteln zu machen).
3. Nach Artikel 11 Abs. 1 der Konvention hat jede Person das Recht, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten. Dies schließt das Recht einer Gewerkschaft ein, die Arbeitgeberseite darum zu ersuchen, sie im Namen ihrer Mitglieder anzuhören sowie das Recht auf Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberseite (siehe Demir und Baykara ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 34503/97, Rdnrn. 145, 153 und 154, ECHR 2008).
4. Wenn von vornherein feststeht, dass ein Tarifvertrag verdrängt werden wird, weil er durch eine Minderheitsgewerkschaft geschlossen wurde, wird das Recht dieser Gewerkschaft auf Vertretung ihrer Mitglieder zum Schutz ihrer Interessen, auf Anhörung durch die Arbeitgeberseite und auf Tarifverhandlungen seiner Substanz beraubt. Der Versuch, Interessen zu schützen, ohne dass zumindest die Möglichkeit bestünde, dass diese Interessen von der Arbeitgeberseite gehört und anerkannt werden könnten, stellt eine Farce dar und würde das Recht, Forderungen vorzutragen, zu einem stumpfen Schwert machen. Selbst die Ergreifung von Arbeitskampfmaßnahmen, eines der mächtigsten Mittel, das einer Gewerkschaft zur Verfügung steht, hat gewöhnlich zum Ziel, die Arbeitgeberseite zur Aufnahme von Tarifverhandlungen mit der oder den in Rede stehenden Gewerkschaften und Beschäftigten zu bewegen. Wäre ein potenzieller Tarifvertrag sowieso nicht anwendbar, würden derartige gewerkschaftliche Maßnahmen ihrer Wirksamkeit beraubt werden. Den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zufolge (siehe Rdnr. 17 des vorliegenden Urteils):
„führe diese Vorschrift [§ 4a Abs. 2 Satz 2] dazu, dass Minderheitsgewerkschaften in einem Unternehmen durch die Arbeitgeberseite nicht weiter als ernst zu nehmende Partnerinnen in Tarifverhandlungen wahrgenommen würden. Dadurch werde die Fähigkeit dieser Gewerkschaften zur Gewinnung neuer Mitglieder und zur Streikmobilisierung ihrer Mitglieder geschwächt. Ferner werde die Vereinigungsfreiheit der Gewerkschaften beeinträchtigt, da sie nun verpflichtet werden könnten, im Rahmen von arbeitsgerichtlichen Verfahren zu dem Zweck der Mehrheitsfeststellung ihren Mitgliederbestand innerhalb eines Betriebs […] und damit ihre Stärke im Falle von Arbeitskampfmaßnahmen offenzulegen. Darüber hinaus würden die Entscheidungen der Gewerkschaft hinsichtlich Verhandlungsstrategie und Verhandlungsprofil und insbesondere hinsichtlich der von ihnen zu vertretenden Berufsgruppen von dieser Vorschrift beeinflusst.“
Wir begrüßen, dass die Mehrheit (siehe Rdnr. 67 des vorliegenden Urteils) ebenfalls der Auffassung ist, dass die Gewerkschaftsfreiheit das Streikrecht einschließt; allerdings erkennt die Mehrheit nicht, dass mit einem Streik auf Verhandlungen und Tarifverhandlungen abgezielt wird und dass es das Recht auf Tarifverhandlungen ist, das durch die angegriffenen Bestimmungen eingeschränkt wird, sodass auf Grund dessen das Streikrecht ebenfalls unwirksam und zum puren Schein ohne jegliches reelles Ziel herabgesetzt wird.
5. Neben den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit wurde durch die angegriffenen Eingriffe ferner der Grundsatz des Diskriminierungsverbots nach Artikel 14 der Konvention missachtet. Artikel 14 verbietet jegliche Diskriminierung und das angegriffene Gesetz diskriminiert Gewerkschaften auf Grund der Größe ihres Mitgliederbestands. Diese Diskriminierung hat zur Folge, dass die Rechtsnormen aus Tarifverträgen, die von einer Gewerkschaft mit mehr Mitgliedern geschlossen wurden – selbst wenn der Mitgliederbestand dieser Gewerkschaft den Bestand jeder anderen Gewerkschaft nur um eine Person übersteigt – die Rechtsnormen der Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaften verdrängen werden. Hierbei handelt es sich nicht um objektive und angemessene Unterscheidungen, welche eine Diskriminierung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs rechtfertigen würden. Darüber hinaus sind derartige Unterscheidungen aus unserer Sicht nicht vereinbar mit dem in Rede stehenden Recht gemäß Artikel 11 Abs. 1. Dennoch können wir keine Verletzung von Artikel 14 i. V. m. Artikel 11 feststellen, da dieser Punkt von den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern nicht vorgebracht wurde.
6. Die Stimmenvielfalt, d. h. auch die gewerkschaftliche Vielfalt, ist ein wesentlicher Bestandteil jeder demokratischen Gesellschaft und des Demokratieprinzips, auf dem die Konvention fußt. Das Demokratieprinzip würde ebenfalls verletzt werden, wenn eine Gewerkschaft wie in der vorliegenden Rechtssache auf der Grundlage eines numerischen Kriteriums andere Minderheitsgewerkschaften verdrängen, ihnen faktisch ihre Stimme nehmen oder sie hinsichtlich bestimmter Tarifverträge „in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigen“ würde (siehe Rdnr. 1387 der Zusammenstellung der Entscheidungen des CFA-Ausschusses für Vereinigungsfreiheit der ILO (2018), auf die in Rdnr. 32 des vorliegenden Urteils Bezug genommen wurde). Derartige Eingriffe wären nicht als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig” im Sinne des Artikels 11 Abs. 2 der Konvention zu rechtfertigen.
7. Wir sind der Auffassung, dass das vorstehend Gesagte unabhängig davon, ob das in Artikel 11 Abs. 1 niedergelegte Recht neben dem Recht auf Tarifverhandlungen auch das Recht auf einen Tarifvertrag enthält, gelten sollte. Wir sind der Meinung, dass Artikel 11 Abs. 1 auch ein Recht auf Abschluss eines Tarifvertrags enthält, wenn zwischen einer Gewerkschaft und der Arbeitgeberseite letzten Endes ein Kompromiss erzielt wird. Folglich muss sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs nach dem Grundsatz, dass es sich bei der Konvention um ein lebendiges Instrument handelt, das stets an die aktuellen Bedingungen angepasst werden muss, in diese Richtung entwickeln (siehe hinsichtlich dieses Grundsatzes in Bezug auf das in Artikel 11 garantierte Recht Demir und Baykara, a. a. O., Rdnr. 146). Im Einklang mit dem Wirksamkeitsprinzip sollte ein solches Recht nach Artikel 11 Abs. 1 weit ausgelegt werden. In jedem Fall wird in dieser Vorschrift die Formulierung „dazu gehört auch“ verwendet, wodurch ausdrücklich ein weiter Auslegungsspielraum ermöglicht wird. Es wäre widersinnig, wenn Artikel 11 Abs. 1 zwar für Tarifverhandlungen, nicht jedoch für den im Ergebnis dieser Verhandlungen tatsächlich erreichten Tarifvertrag gelten würde. Die Argumentation, dass einerseits das Recht besteht, etwas zu versuchen, aber nicht das Recht, es letztendlich zu verwirklichen. ist nicht nachvollziehbar. Es kann nicht Zweck der Konvention sein, ohne effet utile etwas zu schützen, was keinen Nutzen erbringt. Dies würde dem Wirksamkeitsprinzip entgegenstehen, welches u. a. garantieren soll, dass alle Bestimmungen der Konvention zur Vermittlung der ihnen zugedachten Bedeutung zweckmäßig und erforderlich sind (siehe zu diesem Aspekt des Wirksamkeitsprinzips Daniel Rietiker, „The Principle of ‘Effectiveness’ in the Recent Jurisprudence of the European Court of Human Rights: Its Different Dimensions and its Consistency with Public International Law – No Need for the Concept of Treaty Sui Generis”, Nordic Journal of International Law 79 (2010), S. 256; und Georgios A. Serghides, The Principle of Effectiveness and its Overarching Role in the Interpretation and Application of the ECHR: The Norm of All Norms and the Method of All Methods, Straßburg, 2022, S. 8485 ff.).
8. Ferner sollte das oben Gesagte unabhängig vom Bestreben des Bundesverfassungsgerichts gelten, eine interpretatorische Einschränkung in das Gesetz einzufügen (siehe Rdnr. 65 des vorliegenden Urteils), welche zur maßgeblichen Zeit nicht in dem Gesetz enthalten war, auch wenn sie am 1. Januar 2019 aufgenommen wurde (siehe Rdnr. 29 des vorliegenden Urteils), d. h. nachdem die vorliegenden Individualbeschwerden eingereicht wurden. Die Einschränkung, sei sie juristischer oder gesetzlicher Natur, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Beschäftigten einer kleineren Gewerkschaft ernsthaft und wirksam berücksichtigen muss, hat jedoch nach wie vor nicht zur Folge, dass die angegriffenen Eingriffe mit Artikel 11 Abs. 1 vereinbar wären. Das ist u. a. deswegen so, weil Artikel 11 Abs. 1 ausdrücklich den „Schutz [eigener] Interessen“ mit dem Recht, „Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“ verknüpft. Besonders wesentlich ist in diesem Zusammenhang der Anschluss durch die Formulierung „zum Schutz“, durch die das Recht auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft mit dem Streben nach dem Schutz der eigenen Interessen durch ebendiese Gewerkschaft in Verbindung gebracht wird. Folglich stellt Artikel 11 Abs. 1 den Schutz der Interessen von Beschäftigten, die einer bestimmten Gewerkschaft beigetreten sind, nicht mit dem Schutz ebendieser Interessen durch eine andere Gewerkschaft, in der die Beschäftigten nicht Mitglied sind, in Zusammenhang. In jedem Fall kann eine Situation eintreten, in der die Gewerkschaft mit dem größten Mitgliederbestand hinsichtlich einer bestimmten arbeitsrechtlichen Frage nur eine Mehrheit in sich vereint, die kleiner ist als die diesbezügliche Mehrheit einer anderen Gewerkschaft mit geringerer Mitgliederzahl.
9. Zusätzlich zur Feststellung einer Verletzung von Artikel 11 Abs. 1 würden wir nur jenen Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern, die entsprechende Forderungen geltend gemacht haben, Ersatz der Prozesskosten sowie des materiellen und immateriellen Schadens zusprechen (es wurden unterschiedliche Forderungen erhoben). Da wir uns jedoch in der Minderheit befinden, sehen wir keine Notwendigkeit zu spezifizieren, auf welche Höhe wir die Summen für diese Posten bemessen würden.
__________
ANHANG
Liste der Beschwerden
Nr. | Individualbeschwerde Nr. | Bezeichnung der Rechtssache | Eingereicht am | Beschwerdeführer/-in
Tag der Geburt / Registrierung / Gründung Wohnsitz / Verbandssitz |
1. | 815/18 | X. ./. Deutschland | 21.12.2017 | X.; 19..; B. |
2. | 3278/18 | Y. ./. Deutschland | 10.01.2018 | Y.; 20..; B. |
3. | 12380/18 | Z. ./. Deutschland | 08.03.2018 | Z.; 18..; F. |
4. | 12693/18 | A. u. a. ./. Deutschland | 08.03.2018 | A.
19..; L.; B. 19..; B.; H. 19..; G.; L. 19..; B.; W. 19..; F. |
5. | 14883/18 | R. ./. Deutschland | 21.03.2018 | R.
19..; M. |
Zuletzt aktualisiert am November 11, 2022 von eurogesetze
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