RECHTSSACHE EL KAADA ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 2130/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE E. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 2130/10)
URTEIL
STRASSBURG
12. November 2015

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache E. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Josep Casadevall, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ganna Yudkivska,
Helena Jaderblom,
Ales Pejchal und

Siofra O’Leary, sowie Milan Blasko, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 20. Oktober 2015

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 2130/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, E. („der Beschwerdeführer“), am 11. Januar 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn W., Rechtsanwalt in G., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte, mit denen die Aussetzung einer gegen ihn im Jahr 2008 ausgesprochenen Freiheitsstrafe widerrufen worden seien, ihn in seinem Recht auf Achtung der Unschuldsvermutung aus Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt hätten.

4. Am 8. Januar 2014 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist in G., Deutschland, wohnhaft. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt E. inhaftiert.

A. Der Hintergrund des Falls

6. Am 9. Oktober 2008 verurteilte das Amtsgericht Gladbeck den Beschwerdeführer wegen Erpressung, Raub, Einbruchdiebstahl, Unterschlagung und Körperverletzung in mehreren Fällen. Gegen ihn wurde eine Jugendstrafe von zwei Jahren verhängt. Das Amtsgericht setzte die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus. Mit einer vom selben Tag datierenden gesonderten Entscheidung wurden dem Beschwerdeführer Auflagen für die Bewährungszeit erteilt, die bis zum 16. Oktober 2010 laufen sollte. Ihm wurde aufgegeben, sich straffrei zu führen und u. a. mindestens 200 unentgeltliche Sozialstunden abzuleisten.

7. Am 11. Dezember 2008 teilte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers dem Amtsgericht mit, dass er den Beschwerdeführer in dem Verfahren über dessen Bewährung vertrete.

8. Am 15. Juni 2009 erließ das Amtsgericht Gladbeck Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer; der Haftbefehl wurde im Haftprüfungsverfahren bestätigt. Die Gerichte stellten fest, dass der dringende Verdacht bestehe, dass der Beschwerdeführer am 31. Mai/1. Juni 2009 in einem Hotel in Gladbeck einen Einbruchdiebstahl begangen habe. Der Verdacht stütze sich auf die Zeugenaussage der ehemaligen Freundin des Beschwerdeführers, S., gegenüber der Polizei.

9. Mit Schreiben vom 5. Oktober 2009 teilte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers der Staatsanwaltschaft Essen, bei der das Schreiben am 8. Oktober 2009 einging, mit, dass er den Beschwerdeführer auch in dem Ermittlungsverfahren wegen des Einbruchsdiebstahls am 31. Mai/1. Juni 2009 vertrete.

10. Am 7. Oktober 2009 wurde der Beschwerdeführer festgenommen. Am 8. Oktober 2009 wurde er ohne anwaltlichen Beistand von dem Ermittlungsrichter am Amtsgericht Herford zu dem Verdacht angehört, am 31. Mai 2009/1. Juni 2009 den Einbruchdiebstahl in einem Hotel in Gladbeck begangen zu haben. Der Beschwerdeführer, der über sein Recht, sich nicht zu äußern und jederzeit einen Anwalt zu befragen, belehrt worden war, gestand, die in dem Haftbefehl vom 15. Juni 2009 beschriebene Straftat begangen zu haben.

11. Am 20. Oktober 2009 widerrief der Beschwerdeführer im Beisein seines Anwalts im Haftprüfungstermin vor dem Amtsgericht Gladbeck sein Geständnis vom 8. Oktober 2009. Er erklärte, den Einbruchdiebstahl vom 31. Mai/1. Juni 2009 nur deswegen gestanden zu haben, weil ein Polizist ihm bei der Festnahme gesagt habe, er hätte in diesem Fall gute Chancen, aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden.

12. In der Folge erhob die Staatsanwaltschaft Essen am 23. Oktober 2009 Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen des in Gladbeck begangenen Einbruchdiebstahls.

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Gladbeck

13. Am 22. Oktober 2009 widerrief das Amtsgericht Gladbeck unter Berufung auf § 26 Abs. 1 JGG (siehe Rdnr. 28) die Strafaussetzung zur Bewährung aus seinem Urteil vom 9. Oktober 2008.

14. Das Amtsgericht führte aus, dass dem Beschwerdeführer mit Bewährungsbeschluss vom 9. Oktober 2008 aufgegeben worden sei, sich in der Bewährungszeit straffrei zu führen. Dagegen habe er verstoßen, da er geständig sei, am 31. Mai/1. Juni 2009 in Gladbeck einen Einbruchdiebstahl begangen zu haben. Seine neuerliche Tat sei von ähnlichem Gewicht wie die Taten, für die er am 9. Oktober 2008 verurteilt worden sei.

15. Ferner habe der Beschwerdeführer weitere Auflagen aus dem Bewährungsbeschluss nicht eingehalten. Insbesondere habe er ohne genügende Entschuldigung die ihm aufgegebenen Stunden unentgeltlicher sozialer Arbeit nicht abgeleistet und keinen Kontakt zu seinem Bewährungshelfer aufgenommen.

2. Der Beschluss des Landgerichts Essen

16. Der Beschwerdeführer erhob am 27. Oktober 2009 sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts. Er bestritt die Feststellung des Gerichts, dass er erneut straffällig geworden sei. Er wies insbesondere darauf hin, dass er sein Geständnis vom 8. Oktober 2009 widerrufen habe. Außerdem reiche ein Geständnis, dessen Glaubhaftigkeit nicht überprüft worden sei, für sich genommen nicht aus, um einer Straftat überführt zu sein. In jedem Fall könne nach europarechtlichen Standards ein Bewährungswiderruf nur auf ein rechtskräftiges Urteil wegen einer neuerlichen Straftat gestützt werden. Bis zum gesetzlichen Beweis seiner Schuld gelte er als unschuldig.

17. Am 16. November 2009 wies das Landgericht Essen die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Amtsgerichts zurück. Das Landgericht war der Auffassung, dass der Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers zur Bewährung nach § 26 JGG nicht darauf gestützt werden könne, dass der Beschwerdeführer die ihm mit dem Bewährungsbeschluss auferlegten unentgeltlichen Sozialstunden nicht abgeleistet habe, da das Amtsgericht nicht ausreichend konkretisiert habe, in welcher Einrichtung der Beschwerdeführer diese Leistung erbringen solle.

18. Das Landgericht stellte weiter fest: „Der Widerruf der Bewährung ist jedoch im Ergebnis gleichwohl zu Recht erfolgt, denn der Verurteilte ist, wie das Amtsgericht zutreffend angenommen hat, innerhalb der Bewährungszeit erneut straffällig geworden.“

19. Das Landgericht bekräftigte, dass für den Widerruf der Bewährung des Beschwerdeführers keine rechtskräftige Verurteilung wegen der Tat vorliegen müsse, die Anlass für den Widerruf sei. Vielmehr reiche es aus, wenn das Widerrufsgericht sich auf anderem Wege eine sichere Überzeugung von der Tatbegehung durch den Betroffenen bilden könne. Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention. Diese Vermutung beziehe sich nur auf Verfahren, in denen über Tatvorwürfe gegen den Beschuldigten entschieden werden müsse, und nicht auf Verfahren hinsichtlich des Bewährungswiderrufes. Unter Berufung insbesondere auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Dezember 2004 (siehe Rdnrn. 30-31) stellte das Landgericht daher fest, dass es insbesondere genüge, wenn das Widerrufsgericht auf der Grundlage eines von dem Betroffenen vor einem Richter abgelegten glaubhaften Geständnisses davon überzeugt sei, dass dieser sich erneut einer Straftat schuldig gemacht habe.

20. In dem ihm vorliegenden Fall stellte das Landgericht dann fest, dass es sich in Anbetracht des Geständnisses, das der Beschwerdeführer am 8. Oktober 2009 vor dem Ermittlungsrichter abgelegt habe, eine „sichere Überzeugung von der erneuten Begehung einer Straftat durch den Verurteilten“, nämlich eines Einbruchdiebstahls am 31. Mai/1. Juni 2009 in einem Hotel in Gladbeck, gebildet habe. Das Geständnis des Beschwerdeführers sei insbesondere deshalb glaubhaft, da es von der detaillierten Beschreibung, die die Zeugin S. den Polizeibeamten hinsichtlich des Verhaltens des Beschwerdeführers vor und nach der Tat gegeben habe, gestützt werde. Der anschließende Widerruf des Geständnisses durch den Beschwerdeführer, der ferner die von S. gemachten Aussagen bestritten und vorgetragen habe, dass S. sich für das Scheitern ihrer Beziehung rächen wolle, sei im Lichte der bis dahin vorliegenden Ermittlungsergebnisse nicht überzeugend. Das Landgericht nahm diesbezüglich insbesondere auf die Protokolle der Aussagen Bezug, welche die Zeugen S. und Z., ein Angestellter des betroffenen Hotels, gegenüber der Polizei gemacht hatten. Das Landgericht schloss daraus, dass der Beschwerdeführer durch die neuerliche Straftat gezeigt habe, dass er die Erwartungen, die der Strafaussetzung zur Bewährung zugrunde gelegen hätten, nicht erfüllt habe.

21. Am 7. Dezember 2009 wurde die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts Gladbeck unterbrochen, so dass er die mit dem Urteil des Amtsgerichts Gladbeck vom 9. Oktober 2008 gegen ihn verhängte Jugendstrafe antreten konnte.

3. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

22. Am 10. Dezember 2009 erhob der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Gladbeck vom 22. Oktober 2009 und des Landgerichts Essen vom 16. November 2009 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er rügte insbesondere, dass mit der allein nach Aktenlage getroffenen Feststellung der genannten Gerichte, er habe einen weiteren Einbruchdiebstahl begangen, das Rechtsstaatsprinzip und die durch das Grundgesetz und Artikel 6 Abs. 1 und 2 der Konvention garantierte Unschuldsvermutung missachtet worden seien. Sein ursprüngliches Geständnis vor dem Ermittlungsrichter sei unerheblich, da er dieses Geständnis, dessen Glaubhaftigkeit von den Gerichten, die den Widerruf der Strafaussetzung beschlossen hätten, nicht geprüft worden sei, zurückgezogen habe. Er war überdies der Ansicht, dass die Frage, ob er einen neuerlichen Einbruchdiebstahl begangen habe, der Prüfung durch die zuständigen Fachgerichte im Rahmen einer Hauptverhandlung bedürfe. Die Feststellung der innerstaatlichen Gerichte, er habe einen weiteren Einbruchdiebstahl begangen, bevor er für diesen rechtskräftig verurteilt worden sei, stelle außerdem eine Missachtung der Feststellungen dar, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 3. Oktober 2002 (B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 37568/97) getroffen habe.

23. Am 23. Dezember 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde (2 BvR 2888/09) des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.

C. Weitere Entwicklungen

24. Am 19. Januar 2010 verurteilte das Amtsgericht Gladbeck den Beschwerdeführer wegen Einbruchdiebstahls, begangen am 31. Mai/1. Juni 2009 in einem Hotel in Gladbeck, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Das Urteil wurde am 2. Juni 2010 rechtskräftig.

25. Der Beschwerdeführer wurde am 5. August 2011 aus der Strafhaft entlassen.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Die einschlägigen Bestimmungen des Jugendgerichtsgesetzes

26. Das Jugendgerichtsgesetz findet Anwendung, wenn ein Jugendlicher, der zur Tatzeit vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist, oder ein Heranwachsender, der zur Tatzeitachtzehn, aber noch nicht 21 Jahre alt ist, eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist (§ 1 JGG).

27. § 21 Abs. 1 und 2 JGG enthält Vorschriften über die Strafaussetzung. Er besagt, dass das Gericht die Vollstreckung einer Jugendstrafe von nicht mehr als einem Jahr zur Bewährung aussetzt, wenn zu erwarten ist, dass der Jugendliche sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs unter der erzieherischen Einwirkung in der Bewährungszeit künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird. Dies gilt, wenn nicht die Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen geboten ist.

28. § 26 JGG, über den Widerruf der Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung, besagt, soweit einschlägig:

„1. „Das Gericht widerruft die Aussetzung der Jugendstrafe, wenn der Jugendliche

(1) in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.

(2) gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung der Bewährungshelferin oder des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass er erneut Straftaten begehen wird, oder

(3) gegen Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt.“

B. Die maßgebliche Vorschrift des Strafgesetzbuchs (StGB)

29. § 56f StGB, der den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung regelt, sieht, soweit einschlägig, vor:

„1. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person

(1) in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat,

(2) gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung der Bewährungshelferin oder des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass sie erneut Straftaten begehen wird, oder

(3) gegen Auflagen gröblich oder beharrlich verstößt.“

C. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

30. Mit Beschluss vom 9. Dezember 2004 (2 BvR 2314/04) befand das Bundesverfassungsgericht, dass es in erster Linie Sache des Gesetzgebers sei, die Auswirkungen der im Rechtsstaatsprinzip und in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention wurzelnden, Verfassungsrang beanspruchenden Unschuldsvermutung auf das Verfahrensrecht zu konkretisieren. Allerdings spreche vieles dafür, § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB so auszulegen, dass der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuerlichen Straftat mit Blick auf die verfassungsrechtlich geschützte Unschuldsvermutung regelmäßig voraussetze, dass der Täter wegen dieser neuen Straftat verurteilt worden sei. Das Gericht nahm auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. Oktober 2002 in der Rechtssache B. ./. Deutschland Bezug.

31. Das Bundesverfassungsgericht war jedoch der Auffassung, dass der Widerruf der Strafaussetzung wegen einer neuen Straftat des Betroffenen auch ohne deren Aburteilung der Unschuldsvermutung nicht widerstreite, wenn der Betroffene die neue Straftat glaubhaft gestanden habe. Das Gericht nahm erneut auf das Urteil in der Rechtssache B., a. a. O., Bezug und brachte vor, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Fall von Fällen unterschieden habe, in denen der Widerruf der Strafaussetzung auf das Schuldeingeständnis der betreffenden Person zurückzuführen gewesen sei.

32. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Rechtsprechung später bekräftigt (siehe insbesondere 2 BvR 1448/08, Beschluss vom 12. August 2008 mit weiteren Nachweisen).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSATZ 2 DER KONVENTION

33. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte, mit denen die Aussetzung seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung widerrufen worden sei, die Unschuldsvermutung verletzt hätten. Die Entscheidungen hätten darauf beruht, dass die Gerichte festgestellt hätten, er habe erneut eine Straftat begangen, obwohl er dieser Straftat noch nicht schuldig gesprochen worden sei. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 2 der Konvention, der wie folgt lautet:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

34. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

35. Die Regierung äußerte Zweifel an der Zulässigkeit der Beschwerde. Sie brachte vor, dass dem Beschwerdeführer durch den Widerruf der Aussetzung seiner Jugendstrafe kein erheblicher Nachteil im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe b der Konvention entstanden sei. Wäre diese Strafe gegen ihn nicht vollstreckt worden, wäre der Beschwerdeführer wegen der neuen Straftat in Untersuchungshaft verblieben, da er diese erfolglos angefochten habe. Die angegriffenen Entscheidungen hätten daher weder zu einer längeren Haftdauer noch zu einem früheren Hafteintritt geführt.

36. Der Beschwerdeführer trat dem Vorbringen der Regierung entgegen. Er brachte vor, dass ihm dadurch, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung in dem in Rede stehenden Verfahren verletzt worden sei, ein erheblicher Nachteil entstanden sei. Darüber hinaus hätte er, wenn die gegen ihn wegen der ersten Straftat verhängte Freiheitsstrafe nicht infolge der Verletzung der Unschuldsvermutung zur maßgeblichen Zeit vollstreckt worden wäre, die Fortdauer seiner Untersuchungshaft wegen der neuen Straftat anfechten können.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

(a) Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention

37. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 6 Abs. 2 Anwendung findet, wenn eine Gerichtsentscheidung, die in einem Verfahren erging, das nicht gegen den Betroffenen als „Angeklagten“ gerichtet war, ihn aber dennoch betraf und mit einem gleichzeitig gegen ihn geführten Strafverfahren in Verbindung stand, eine vorzeitige Bewertung seiner Schuld implizieren kann (siehe B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 37568/97, Rdnr. 67, 3.Oktober 2002, und Diamantides ./. Griechenland (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 71563/01, Rdnr. 44, 19. Mai 2005; und K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17103/10, Rdnr. 41, 27. Februar 2014). Artikel 6 Abs. 2 findet daher auf das hier in Rede stehende, den Widerruf der Strafaussetzung betreffende Verfahren Anwendung, in dem auf das gegen den Beschwerdeführer anhängige neue strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Begehung eines neuen Einbruchdiebstahls Bezug genommen wird.

(b) Anwendbarkeit von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe b der Konvention

38. Was den Einwand der Regierung nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe b der Konvention angeht, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass diese Bestimmung durch das Protokoll Nr. 14 zur Konvention, das am 1. Juni 2010 in Kraft trat, in die Konvention eingefügt wurde. Nach Artikel 20 des Protokolls Nr. 14 findet Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe b mit Inkrafttreten dieses Protokolls auf alle beim Gerichtshof anhängigen BeschwerdenAnwendung, ausgenommen diejenigen, die für zulässig erklärt worden sind. Da die vorliegende Beschwerde, die am 11. Januar 2010 eingereicht wurde, nicht vor dem 1. Juni 2010 für zulässig erklärt wurde, findet Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe b auf sie Anwendung.

39. Hauptelement des in Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe b der Konvention niedergelegten Kriteriums ist die Frage, ob dem Beschwerdeführer ein erheblicher Nachteil entstanden ist (siehe Ionescu ./. Rumänien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 36659/04, 1. Juni 2010; Korolev ./. Russland (Entsch.), Individualbescherde Nr. 25551/05, ECHR 2010; und Shefer ./. Russland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45175/04, Rdnr. 17, 13. März 2012).

40. Das Kriterium beruht auf dem Gedanken, dass eine Rechtsverletzung, wenn sie auch aus rein rechtlicher Sicht sehr real ist, ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um eine Prüfung durch ein internationales Gericht zu rechtfertigen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist naturgemäß relativ und hängt von den gesamten Umständen des Falls ab. Die Beurteilung der Schwere einer Verletzung sollte sowohl die subjektive Wahrnehmung des Beschwerdeführers als auch die Bedeutung dessen berücksichtigen, was in dem betreffenden Fall objektiv auf dem Spiel steht (siehe Korolev, a. a. O.; Van Velden ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 30666/08, Rdnr. 36, 19. Juli 2011; und Diacenco ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 124/04, Rdnr. 42, 7. Februar 2012).

41. Im Lichte der in seiner Rechtsprechung niedergelegten Kriterien ist der Gerichtshof der Auffassung, dass u. a. folgende Faktoren zu berücksichtigen sind, wenn zu beurteilen ist, ob die Verletzung eines Rechts das Mindestmaß an Schwere erreicht: die Art des angeblich verletzten Rechts, die Schwere der Auswirkungen der angeblichen Verletzung auf die Ausübung eines Rechts und/oder die möglichen Folgen der Verletzung für die persönliche Situation des Beschwerdeführers (siehe Giusti ./. Italien, Nr. 13175/03, § 34, 18. Oktober 2011; und Gagliano Giorgi ./. Italien, Nr. 23563/07, Rdnr. 56, ECHR 2012 (Auszüge)).

42. Das Gericht stellt in dem vorliegenden Fall fest, dass der Beschwerdeführer rügte, er sei durch die Widerrufsgerichte entgegen dem Grundsatz der Unschuldsvermutung eines Einbruchdiebstahls für schuldig befunden worden, bevor er in einem tatgerichtlichen Verfahren dieser Straftat schuldig gesprochen worden sei. Das Recht auf Achtung der Unschuldsvermutung dient dazu, Personen vor Äußerungen von Amtsträgern zu schützen, welche die Öffentlichkeit dahingehend beeinflussen, die Betreffenden für schuldig zu halten, bevor der gesetzliche Beweis ihrer Schuld erbracht worden ist, und der Bewertung des Sachverhalts durch die zuständigen Tatgerichte vorgreifen, und so ein faires Verfahren vor diesen Gerichten sicherzustellen (vgl. Allenet de Ribemont ./. Frankreich, 10. Februar 1995, Rdnrn. 35 and 41, Serie A Band 308; und Mokhov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 28245/04, Rdnr. 28, 4. März 2010). Nimmt man an, dass der Gerichtshof eine Verletzung dieses Recht feststellt, so bringt diese Rechtsverletzung mit sich, dass der Beschwerdeführer ungerechtfertigterweise als einer Straftat schuldig bezeichnet wird, was gravierende Auswirkungen auf seine persönliche Reputation (vgl. auch Diacenco, a. a. O., Rdnr. 46) sowie auf die Fairness des gegen ihn anhängigen Verfahrens hat. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer, wie die Regierung vorbringt, zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte ohnehin hätte inhaftiert sein können, ändert an diesen Auswirkungen nichts.

43. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zum dem Ergebnis, dass nicht angenommen werden kann, dem Beschwerdeführer sei nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe b der Konvention ein erheblicher Nachteil entstanden. Der Einwand der Regierung ist folglich zurückzuweisen.

(c) Weitere Unzulässigkeitsgründe und Schlussfolgerung

44. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

(a) Der Beschwerdeführer

45. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention garantierte Unschuldsvermutung dadurch verletzt worden sei, dass die innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Verfahren die Aussetzung seiner Strafe mit der Begründung widerrufen hätten, er habe in der Bewährungszeit einen weiteren Einbruchdiebstahl begangen. Zum Zeitpunkt des Widerrufs sei das Strafverfahren wegen des ihm vorgeworfenen erneuten Einbruchdiebstahls, den er bestreite, jedoch noch nicht durch ein rechtskräftiges Urteil, oder auch nur durch ein nicht rechtskräftiges Urteil, der für die Entscheidung über die neuen Vorwürfe zuständigen Gerichte abgeschlossen gewesen. Zur Stützung seiner Auffassung berief er sich auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache B.(a. a. O.).

46. Der Beschwerdeführer vertrat weiter die Ansicht, dass sich die innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Verfahren nur auf sein ursprüngliches Geständnis vor dem Ermittlungsrichter gestützt hätten. Dieses Geständnis sei jedoch unerheblich, da er es zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidungen bereits widerrufen habe.

(b) Die Regierung

47. Nach Auffassung der Regierung wurde Artikel 6 Abs. 2 der Konvention durch die Entscheidungen, mit denen die Aussetzung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers zur Bewährung widerrufen wurde, nicht verletzt.

48. Die Regierung brachte vor, dass die deutschen Gerichte die Feststellungen des Gerichtshofs in der Rechtssache B. (a. a. O.), nach denen innerstaatliche Gerichte in Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung keine Straftaten berücksichtigen dürfen, für die es an einem gesetzlichen Nachweis fehlt, beachtet hätten. Folglich widerriefen die deutschen Gerichte die Strafaussetzung wegen der Begehung einer neuen Straftat nach § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB und § 26 Absatz 1 Nr. 1 JGG (siehe Rdnrn. 28-29) in der Regel erst, wenn die betreffende Person durch rechtskräftiges Urteil der neuen Straftat schuldig gesprochen worden sei.

49. Unter den besonderen Umständen der vorliegenden Rechtssache stelle die Tatsache, dass die innerstaatlichen Gerichte die rechtskräftige Verurteilung des Beschwerdeführers nicht abgewartet hätten, jedoch keine Verletzung der Unschuldsvermutung dar, denn es handele sich bei dem Widerruf der Strafaussetzung nach § 26 JGG im Wesentlichen nur um die Korrektur einer ursprünglich positiven Prognoseentscheidung nach § 21 JGG (siehe Rdnr. 27). Aus dem Wortlaut und dem Sinn der erstgenannten Vorschrift ergebe sich zudem, dass die Entscheidung keiner Verurteilung gleichkomme. Um eine Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, müsse das Gericht nicht die Gewissheit erlangen, die erforderlich sei, um die betreffende Person wegen der Begehung einer neuen Straftat schuldig zu sprechen. Es reiche aus, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass die betreffende Person erneut eine Straftat begangen habe.

50. Außerdem hätten die innerstaatlichen Gerichte ihre die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufenden Entscheidungen in der vorliegenden Rechtssache auf das glaubwürdige Geständnis des Beschwerdeführers gestützt. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe Rdnrn. 30-32) und der Europäischen Menschenrechtskommission (die Regierung verwies auf eine Entscheidung vom 9. Oktober 1991, Nr. 15871/89) sei der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ausnahmsweise vor der rechtskräftigen Verurteilung der betreffenden Person möglich, wenn diese glaubhaft gestanden habe, die neue Straftat begangen zu haben, selbst wenn sie dieses Geständnis später widerrufen habe.

51. In dem vorliegenden Fall habe der Beschwerdeführer am 8. Oktober 2009 vor dem Amtsgericht gestanden, erneut eine Straftat begangen zu haben. Die innerstaatlichen Gerichte hätten dieses Geständnis für glaubwürdig erachtet, obwohl der Beschwerdeführer es später widerrufen habe. Die Gerichte hätten insbesondere berücksichtigt, dass das Geständnis des Angeklagten, der zu der Zeit anwaltlich vertreten gewesen sei, mit den Zeugenaussagen seiner ehemaligen Freundin S. übereingestimmt habe. Anders als in der Rechtssache B. (a. a. O.) hätten die innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Verfahren daher nicht die Rolle der für die Entscheidung über die Schuld des Beschwerdeführers hinsichtlich der neuen Straftat zuständigen Tatgerichte übernommen.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

52. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 6 Abs. 2 darauf abzielt, zu verhindern, dass die Fairness eines Strafverfahrens untergraben wird, indem in engem Zusammenhang mit diesem Verfahren nachteilige Äußerungen getätigt werden (siehe Mokhov, a. a. O, Rdnr. 28, und die darin zitierten Rechtssachen). Die Unschuldsvermutung ist eines der Merkmale eines fairen Strafverfahrens, wie es nach Absatz 1 vorgeschrieben ist (siehe Allenet de Ribemont, a. a. O., Rdnr. 35; und Mokhov, a. a. O.).

53. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung wird verletzt, wenn eine gerichtliche Entscheidung oder eine Äußerung eines Amtsträgers, die eine einer Straftat angeklagte Person betrifft, die Auffassung widerspiegelt, sie sei schuldig, bevor der gesetzliche Nachweis ihrer Schuld erbracht worden ist. Auch ohne formellen Schuldspruch reicht es aus, dass es Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Gericht oder der Amtsträger die angeklagte Person für schuldig hält (siehe Minelli ./. Schweiz, 25. März 1983, Rdnr. 37, Serie A Band 62; und B., a. a. O., Rdnr. 54).

54. Zwischen einer Äußerung, nach der jemand der Begehung einer Straftat nur verdächtig ist, und einer eindeutigen Erklärung – jedoch ohne rechtskräftige Verurteilung –, dass die Person die in Rede stehende Straftat begangen hat, muss eine grundsätzliche Unterscheidung vorgenommen werden (siehe Peltereau-Villeneuve ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 60101/09, Rdnr. 32, 28. Oktober 2014; hinsichtlich der Bedeutung der Rechtskraft der Verurteilung für den Grundsatz der Unschuldsvermutung siehe auch Konstas ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 53466/07, Rdnr. 35, 24. Mai 2011). Letzteres verletzt den Grundsatz der Unschuldsvermutung, während ersteres wiederholt als mit Artikel 6 vereinbar angesehen worden ist (siehe Marziano ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 45313/99, Rdnr. 31, 28. November 2002 und die darin zitierten Rechtssachen; und Peltereau-Villeneuve, a. a. O., Rdnr. 32).

55. Der Gerichtshof hat stets die Bedeutung betont, die der Wortwahl von Amtsträgern bei Äußerungen zukommt, die diese tätigen, bevor eine Person wegen einer bestimmten Straftat vor Gericht gestellt und verurteilt worden ist (siehe B., a. a. O., Rdnrn. 54 und 56; Ismoilov und andere ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 2947/06, Rdnrn. 166, 24. April 2008; und M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 54963/08, Rdnr. 46, 27. März 2014). Ob die Aussage eines Amtsträgers gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstößt, ist darüber hinaus im Zusammenhang mit den besonderen Umständen zu prüfen, unter denen die angegriffene Aussage gemacht wurde (siehe Konstas, a. a. O., Rdnr. 33; und M., a. a. O., Rdnr. 46).

(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

56. Der Gerichtshof hat im Lichte der oben genannten Grundsätze zu entscheiden, ob die Begründung der angegriffenen Entscheidungen der deutschen Gerichte, durch welche die Aussetzung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers widerrufen wurde, die Auffassung widerspiegelt, der Beschwerdeführer sei des am 31. Mai/1. Juni 2009 begangenen Einbruchdiebstahls schuldig, obwohl der gesetzliche Beweis seiner Schuld noch nicht erbracht worden war.

57. Der Gerichtshof stellt fest, dass gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts, er habe eine neue Straftat begangen, nämlich den Einbruchdiebstahl in einem Hotel in Glad-beck am 31. Mai/1. Juni 2009, bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, als die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidungen in dem hier in Rede stehenden Widerrufsverfahren erließen. Die für die Entscheidung über die neuen Vorwürfe zuständigen Tatgerichte hatten in dem gegen den Beschwerdeführer geführten Verfahren zum Zeitpunkt der angegriffenen Widerrufsentscheidungen jedoch noch kein ihn der neuen Straftat schuldig befindendes Urteil erlassen.

58. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte den Widerruf der Strafaussetzung insbesondere darauf stützten, dass der Beschwerdeführer am 8. Oktober 2009 vor einem Ermittlungsrichter zunächst gestanden hatte, den Einbruchdiebstahl am 31. Mai/1. Juni 2009 begangen zu haben. Die Gerichte hielten dieses Geständnis für glaubhaft, obwohl der Beschwerdeführer es wenig später, am 20. Oktober 2009, und somit vor den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte (insbesondere denen vom 22. Oktober und 2009) in dem in Rede stehenden Verfahren, bei einer gerichtlichen Anhörung widerrufen hatte.

59. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass der Beschwerdeführer, der einundzwanzig Jahre alt war, sein ursprüngliches Geständnis vor dem Ermittlungsrichter ohne anwaltlichen Beistand abgelegt hatte. Später brachte er vor, er habe gestanden, um aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden. Zum Zeitpunkt der die Strafaussetzung widerrufenden Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte hatte der Beschwerdeführer sein Geständnis widerrufen. Infolge dieses Widerrufs konnten die innerstaatlichen Gerichte ihre Schlussfolgerung, der Beschwerdeführer habe während der Bewährungszeit erneut eine Straftat begangen, nicht mehr auf ein gültiges Geständnis stützen, weshalb sie eine Einschätzung der Glaubwürdigkeit seiner verschiedenen Aussagen vornahmen (siehe insbesondere Rdnr. 20).

60. Die vorliegende Rechtssache ist insoweit von der Rechtssache G.S. ./. Deutschland zu unterscheiden (Nr. 15871/89, Kommissionsentscheidung vom 9. Oktober 1991), auf die sich die Regierung berufen hat (siehe Rdnr. 50). In jenem Fall wurde die Aussetzung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers widerrufen, nachdem er vor einem Ermittlungsrichter gestanden hatte, während der Bewährungszeit erneut eine Straftat begangen zu haben. Anders als in der vorliegenden Rechtssache hatte G.S. sein Geständnis, das er in Gegenwart seines Verteidigers abgelegt hatte, jedoch widerrufen, nachdem die Fachgerichte die Strafaussetzung widerrufen hatten.

61. In Anbetracht der Begründungen der angegriffenen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht Essen in dem in Rede stehenden Verfahren unter Bestätigung der Schlussfolgerungen des Amtsgerichts, der Beschwerdeführer habe den Einbruchdiebstahl am 31. Mai/1. Juni 2009 begangen, feststellte, der Beschwerdeführer sei „innerhalb der Bewährungszeit erneut straffällig geworden“ (siehe Rdnr. 18). In Anbetracht des Geständnisses des Beschwerdeführers vor dem Amtsgericht hatte sich das Landgericht „eine sichere Überzeugung von einer erneuten Begehung einer Straftat durch den Verurteilten“ gebildet (siehe Rdnr. 20).

62. Im Hinblick auf den Zusammenhang, in dem diese Feststellungen getroffen wurden, merkt der Gerichtshof an, dass sich der Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers durch die innerstaatlichen Gerichte auf § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG stützte. Gemäß dieser Bestimmung setzt der Widerruf der Strafaussetzung durch die innerstaatlichen Gerichte voraus, dass der Jugendliche „in der Bewährungszeit eine Straftat begeht“ (siehe Rdnr. 28). Der Gerichtshof ist in Übereinstimmung mit dem klaren Wortlaut der Bestimmung und entgegen der Auffassung, die sich aus der Stellungnahme der Regierung zu ergeben scheint (siehe Rdnr. 49), der Ansicht, dass die innerstaatlichen Gerichte sich davon, dass die betreffende Person erneut straffällig geworden sei, eine sichere Überzeugung hätten bilden müssen. Dass diese Gerichte feststellten, die betreffende Person der Begehung einer weiteren Straftat verdächtig sei, war nicht ausreichend. In der vorliegenden Rechtssache hat das Landgericht dementsprechend bekräftigt, dass es sich eine sichere Überzeugung davon habe bilden müssen, dass der Beschwerdeführer erneut straffällig geworden sei, und erklärt, dass es nach Prüfung der ihm vorliegenden Beweise davon überzeugt sei, dass der Beschwerdeführer den in Rede stehenden neuen Einbruchdiebstahl begangen habe (siehe Rdnrn. 19-20). Die Auffassung des Gerichtshofs wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Widerrufsentscheidung, wie die Regierung betonte, eine Korrektur der ursprünglichen Prognose nach § 21 JGG, der Beschwerdeführer werde, selbst wenn er seine Strafe nicht verbüßen müsse, nicht erneut straffällig werden, darstellt (vgl. bereits B., a. a. O., Rdnrn. §§ 61 f.).

63. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die angegriffenen Feststellungen im Urteil des Landgerichts ohne jeglichen Vorbehalt und ohne jeglichen Verweis auf eine Verdachtslage die Feststellung des Amtsgerichts bestätigten, der gemäß der Beschwerdeführer, wie nach den anwendbaren Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts erforderlich, erneut straffällig geworden war. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass durch diese Feststellungen eindeutig erklärt wurde, der Beschwerdeführer habe sich eines weiteren Einbruchdiebstahls schuldig gemacht, bevor der gesetzliche Nachweis seiner Schuld durch ein rechtskräftiges Urteil der zuständigen Tatgerichte erbracht worden war.

64. Ferner kommt der Gerichtshof nicht umhin, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Feststellung der innerstaatlichen Gerichte, der Beschwerdeführer habe sich einer neuen Straftat schuldig gemacht, auf § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG beruhte. Der Wortlaut dieser Vorschrift ist mit dem von § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB, der auf erwachsene Straftäter anwendbar ist, praktisch identisch, welcher der Feststellung der Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention in der Rechtssache B. im Jahre 2002 zugrunde lag (a. a O., Rdnrn 63 f). Der Gerichtshof merkt weiter an, dass er schon in jenem Urteil darauf hinwiesen hat, die deutsche Regierung habe bereits früher erklärt, sie werde prüfen, ob eine Änderung von § 56f Abs. 1 StGB erforderlich sei, um sicherzustellen, dass der Widerruf einer Strafaussetzung unter derartigen Umständen nicht mit Artikel 6 Abs. 2 der Konvention im Widerspruch stehe (a. a. O., Rdnr. 65).

65. Der Gerichtshof muss erneut feststellen, dass es in der Zwischenzeit keine gesetzlichen Änderungen gegeben hat. Er erkennt an, dass das Bundesverfassungsgericht zwar die Auffassung vertreten hat, dass es in erster Linie Sache des Gesetzgebers sei, die Auswirkungen der Unschuldsvermutung auf das Verfahrensrecht zu konkretisieren, jedoch Orientierungshilfen zur Auslegung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung im Rahmen von Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung gegeben hat (siehe Rdnrn. 30-32). Jedoch lässt das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache erkennen, dass § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG noch nicht in einer mit Artikel 6 Abs. 2 in Einklang stehenden Weise ausgelegt worden und Artikel 6 Abs. 2 somit auf der innerstaatlichen Ebene noch nicht vollständig umgesetzt ist.

66. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Begründung, die in den angegriffenen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte enthalten ist, durch welche die Aussetzung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers widerrufen wurde, den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt hat. Dementsprechend ist Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt worden.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

67. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

68. Der Beschwerdeführer forderte 7.500 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden. Er brachte vor, dass ihm die durch den Widerruf der Strafaussetzung verursachte Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention, vor seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen der neuen Straftat, jede Möglichkeit genommen habe, eine Aussetzung der Haftvollstreckung zu erreichen.

69. Die Regierung brachte vor, dem Beschwerdeführer sei infolge des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung keinerlei Schaden entstanden. Der Widerruf habe weder zu einer längeren noch zu einer früheren Haft geführt, denn der Beschwerdeführer wäre sonst in Untersuchungshaft verblieben, bis die Strafaussetzung nach seiner rechtskräftigen Verurteilung wegen der neuen Straftat widerrufen worden wäre.

70. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer zweifellos darunter gelitten hat, dass die in dem in Rede stehenden Verfahren ergangenen Entscheidungen, mit denen die Aussetzung seiner Freiheitsstrafe zur Bewährung widerrufen wurde, den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt haben. Der Gerichtshof setzt die Entschädigungssumme nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer in Bezug auf den immateriellen Schaden 7.500 EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.

B. Kosten und Auslagen

71. Unter Vorlage von Kopien der Rechnungen seines Rechtsanwalts forderte der Beschwerdeführer auch 1.278,30 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für die Rechtsanwaltsgebühren und Auslagen, die in dem innerstaatlichen Verfahren vor dem Landgericht Essen und dem Bundesverfassungsgericht entstanden waren. Er verlangte außerdem 949,14 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für die Rechtsanwaltsgebühren und Auslagen vor dem Gerichtshof.

72. Die Regierung bestritt, dass dem Beschwerdeführer überhaupt ein Schaden im Sinne von Artikel 41 der Konvention entstanden sei, nahm zu den Forderungen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Kosten und Auslagen jedoch nicht gesondert Stellung.

73. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof im Hinblick auf die ihm vorliegenden Unterlagen und die oben dargelegten Kriterien fest, dass der Beschwerdeführer nachgewiesen hat, dass ihm die geltend gemachten Kosten und Auslagen tatsächlich im Rahmen seiner Bemühungen entstanden sind, der Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 abzuhelfen, und hält den geforderten Betrag der Höhe nach für angemessen. Daher spricht der Gerichtshof dem Beschwerdeführer den gesamten geforderten Betrag von 2.227,44 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzüglich der ihm gegebenenfalls (zusätzlich) zu berechnenden Steuern zu.

C. Verzugszinsen

74. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lendingrate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 6 Abs. 2 der Konvention ist verletzt worden

3.

(a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:

i) 7.500 EUR (siebentausendfünfhundert Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;

ii) 2.227,44 EUR (zweitausendzweihundertsiebenundzwanzig Euro und vierundvierzig Cent) (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen, zuzüglich dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnender Steuern;

(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lendingrate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 12. November 2015 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                 Stellvertretender Kanzler

Josep Casadevall                             Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

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