Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 60879/12, 60889/12 und 60893/12
A.R. ./. Deutschland
H.R. ./. Deutschland
und M.R. ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 17. November 2015 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Erik Møse,
Faris Vehabović,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary
und Mārtiņš Mits
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, die am 17. September 2012 erhoben wurden,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Die 19.. geborene erste Beschwerdeführerin, H.R. (Individualbeschwerde Nr. 60889/12), ist deutsche Staatsangehörige und lebt in S. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn W., Rechtsanwalt in I., vertreten.
2. Die 19.. geborene zweite Beschwerdeführerin, M.R. (Individualbeschwerde Nr. 60893/12), ist deutsche Staatsangehörige und lebt in N. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Frau R., Rechtsanwältin in M., vertreten.
3. Die 19.. geborene dritte Beschwerdeführerin, A.R. (Individualbeschwerde Nr. 60879/12), ist deutsche Staatsangehörige und lebt in N. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Frau B., Rechtsanwältin in P., vertreten.
A. Die Umstände der Rechtssache
4. Der Sachverhalt, so wie er von den Beschwerdeführerinnen vorgebracht wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
1. Der Hintergrund der Rechtssachen
5. Die erste Beschwerdeführerin ist die Mutter der anderen beiden Beschwerdeführerinnen.
6. Die erste Beschwerdeführerin war mit R. R., dem Vater der anderen beiden Beschwerdeführerinnen, verheiratet.
7. R. R. verschwand in der Nacht vom 12. Oktober 2001 und tauchte anschließend – genau wie sein Auto, das in derselben Nacht verschwand – nicht wieder auf.
8. Am 14. Oktober 2001 meldete die erste Beschwerdeführerin R. R. als vermisst.
9. Zunächst wurden die Ermittlungen mangels Ergebnis eingestellt. Im November 2003 wurden sie von der Polizei Ingolstadt wieder aufgenommen.
10. Am 13. Januar 2004 wurden die Beschwerdeführerinnen und der Verlobte der zweiten Beschwerdeführerin, M. E., zur Polizeidirektion gebracht. Am selben Tag wurde das Haus der Beschwerdeführerinnen durchsucht, ohne dass Beweismittel gefunden worden wären. Alle drei Beschwerdeführerinnen wurden an diesem Tag zunächst als Zeuginnen und nach einigen Stunden als Beschuldigte vernommen. Sie wurden von diesem Tag an anwaltlich vertreten.
11. Bei ihrer Vernehmung an diesem Tag gestand die erste Beschwerdeführerin, dass R. R. in der Nacht vom 12. Oktober 2001 betrunken nach Hause gekommen sei und sie ihn während eines Streits gestoßen habe. Infolgedessen sei R. R. die Treppe hinuntergefallen. Sie und M. E. hätten den Leichnam von R. R. weggetragen. Am 14. Januar 2004 fügte sie hinzu, dass sie eine Blutlache weggewischt, den Leichnam zum Auto von R. R. getragen und noch in derselben Nacht sowohl das Auto als auch die Leiche in einem Weiher in der Nähe von I. versenkt habe. Am 21. Januar 2004 widerrief sie diese Geständnisse. Bei späteren Vernehmungen gab sie wiederholt an, R. R. sei in jener Nacht nicht nach Hause gekommen.
12. Die zweite Beschwerdeführerin gab bei ihrer ersten Befragung am 13. Januar 2004 an, dass ihr Vater in jener Nacht nicht nach Hause gekommen sei. Einige Tage später änderte sie ihre Aussage und behauptete, ihre Mutter habe den Vater aus Versehen gestoßen und dieser sei die Treppe hinuntergefallen. Am 4. Februar 2004 gab sie bei einer videodokumentierten Tatrekonstruktion mit der Polizei an, ihr Verlobter habe den Vater allein mit einem Holz getötet. An diesem Tag wurde ihr von einem Polizeibeamten mitgeteilt, dass es Gerüchte gebe, der Leichnam ihres Vaters sei an die Hunde verfüttert worden. Später am selben Tag gab sie an, auch ihre Mutter habe den Vater mit einem Holz geschlagen. Am 18. und 21. Februar 2004 gab sie an, ihr Verlobter habe den Vater allein getötet, den Leichnam zerteilt und an die Hunde verfüttert. Nachdem sie alle Geständnisse widerrufen hatte, beschuldigte sie sich am 1. Juni 2004 selbst, indem sie angab, den Vater mit einem Hammer getötet zu haben. Ihr Verlobter habe den Leichnam verbrannt. Auch dieses Geständnis widerrief sie, behauptete, von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein, und wiederholte einige der anderen Versionen.
13. Die dritte Beschwerdeführerin gab bei ihrer ersten Befragung am 13. Januar 2004 an, sie wisse nicht, ob ihr Vater in jener Nacht nach Hause gekommen sei oder nicht. Nachdem ein Polizeibeamter behauptet hatte, ihre Mutter und der Verlobte der zweiten Beschwerdeführerin hätten die Tötung gestanden, behauptete sie, ihr Vater habe sie in jener Nacht sexuell missbraucht, woraufhin ihre Eltern einen Streit gehabt hätten und ihre Mutter den Vater die Treppe hinuntergestoßen habe. Am 23. Januar 2004 erklärte sie, der Verlobte der zweiten Beschwerdeführerin und ihre Mutter hätten den Vater mit einem Holz getötet. Am 3. Februar 2004 änderte sie ihre Aussage und behauptete, dass ein Hammer verwendet worden sei. Am 19. März 2004 behauptete sie erneut, ihr Vater habe sie in jener Nacht missbraucht. Aufgrund dessen habe der Verlobte der zweiten Beschwerdeführerin ihn die Treppe hinuntergestoßen und den Leichnam zusammen mit dem Auto entsorgt. Am 28. April 2004 änderte sie ihre Aussage erneut und machte geltend, die tätliche Auseinandersetzung habe schon im Treppenhaus stattgefunden und der Leichnam ihres Vaters sei zerstückelt und an die Hunde verfüttert worden. Anschließend bestritt sie, überhaupt irgendetwas gesehen zu haben. Schließlich widerrief sie alle Geständnisse.
14. Der Verlobte der zweiten Beschwerdeführerin, M. E., gab bei seiner ersten Befragung an, die erste Beschwerdeführerin habe R. R. mit einem Holz getötet und er habe ihr dabei geholfen, den Leichnam und das Auto in einem Weiher bei I. zu entsorgen. Er wiederholte diese Aussage bis zum 15. April 2004 mehrmals. Dann behauptete er, er habe R. R. mit einer Latte geschlagen, den Leichnam in den Keller getragen, zerteilt, den Schädel ausgekocht und die Teile an die Hunde verfüttert. Später behauptete er, die erste und die zweite Beschwerdeführerin hätten R. R. ebenfalls geschlagen. Am 11. Mai 2004 änderte er sein Geständnis und behauptete, er allein habe R. R. ins Genick geschlagen. Im Oktober 2004 widerrief er alle Geständnisse.
15. Nachdem sie ihre Geständnisse widerrufen hatten, behaupteten die Beschwerdeführerinnen, ihre Geständnisse auf Druck der Polizeibeamten abgelegt zu haben.
16. Die Beschwerdeführerinnen befanden sich während des gesamten Strafverfahrens in Untersuchungshaft.
17. Am 13. Mai 2005 sprach das Landgericht Ingolstadt die erste Beschwerdeführerin und den Verlobten der zweiten Beschwerdeführerin, M. E., des Totschlags schuldig und verurteilte die erste Beschwerdeführerin zu acht Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe. Die zweite und die dritte Beschwerdeführerin wurden der Beihilfe zum Totschlag durch Unterlassen schuldig gesprochen und zu drei Jahren und sechs Monaten bzw. zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Das Landgericht Ingolstadt war überzeugt, dass R. R. in jener Nacht betrunken mit seinem Auto nach Hause gekommen sei, von der ersten Beschwerdeführerin und dem Verlobten der zweiten Beschwerdeführerin getötet und anschließend zerstückelt und an die Hunde verfüttert worden sei. Das Auto sei in einer Schrottpresse zerstört worden. Die zweite und die dritte Beschwerdeführerin hätten die Tötung beobachtet, ohne R. R. zu helfen. Die Feststellungen des Gerichts hinsichtlich des Tathergangs basierten auf den Aussagen der Polizeibeamten, die die Beschwerdeführerinnen und den Verlobten der zweiten Beschwerdeführerin im Rahmen der Ermittlungen befragt hatten. Zu diesem Zeitpunkt war weder der Leichnam von R. R. noch sein Auto aufgefunden worden.
18. Hinsichtlich der Schuldfähigkeit der Beschwerdeführerinnen berief sich das Landgericht eingehend auf zwei Sachverständigengutachten. Das erste Gutachten betraf den geistigen Gesundheitszustand der Beschwerdeführerinnen und von M. E. Darin hieß es, die erste Beschwerdeführerin habe einen Intelligenzquotienten von 53 und leide daher an Debilität im Grenzbereich zur Imbezillität, die zweite Beschwerdeführerin habe einen Intelligenzquotienten von 71, was als unterdurchschnittliche Intelligenz im Bereich der Lernbehinderung einzustufen sei, und die dritte Beschwerdeführerin habe einen Intelligenzquotienten von 63 und leide daher ebenfalls an Debilität. Beim Verlobten der zweiten Beschwerdeführerin, M. E., wurde ein Intelligenzquotient von 70 festgestellt. Das zweite Gutachten betraf die Frage, ob sie aufgrund ihrer verminderten geistigen Fähigkeiten vermindert schuldfähig oder schuldunfähig seien, was verneint wurde.
19. Die Beschwerdeführerinnen legten Revision ein. Am 10. Januar 2006 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision.
20. Die Beschwerdeführerinnen und M. E. verbüßten ihre Freiheitsstrafen: die erste Beschwerdeführerin bis zum 12. November 2009, die zweite Beschwerdeführerin bis zum 2. Februar 2006 und die dritte Beschwerdeführerin bis zum 27. Oktober 2005.
21. Am 10. März 2009 wurde der Leichnam von R. R. in seinem Auto sitzend bei der Donaustaustufe B. bei N. gefunden. Ein beauftragter Sachverständiger kam zu dem Schluss, dass R. R. nicht durch Gewalteinwirkung gegen seinen Kopf, die Wirbelsäule oder die Rippen getötet worden sei. Der Leichnam, der angesichts der Tatsache, dass er sich mehrere Jahre unter Wasser befunden habe, in recht gutem Zustand gewesen sei, zeige keine Anzeichen von äußerer Gewalteinwirkung.
22. Im Juli 2009 beantragten die Beschwerdeführerinnen und M. E. die Wiederaufnahme des Verfahrens und forderten finanzielle Entschädigung für die zu Unrecht erlittene Untersuchungs- und Strafhaft.
23. Am 17. November 2009 verwarf das Landgericht Landshut den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Auf die von den Beschwerdeführerinnen und M. E. gegen diesen Beschluss eingelegte sofortige Beschwerde hin gab das Oberlandesgericht München dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens statt.
2. Die in Rede stehenden Verfahren
a) Die Verfahren vor dem Landgericht Landshut
24. Am 31. März 2010 nahm das Landgericht Landshut das Verfahren wieder auf und hielt anschließend einige Verhandlungstermine ab. Das Verfahren gegen die dritte Beschwerdeführerin wurde wegen ihrer körperlichen Verfassung (siehe Rdnr. 33) von dem Verfahren gegen die erste und zweite Beschwerdeführerin und M. E. abgetrennt.
25. Am 25. Februar 2011 sprach das Landgericht Landshut die erste Beschwerdeführerin und M. E. vom Vorwurf des Totschlags und die zweite Beschwerdeführerin vom Vorwurf der Beihilfe zum Totschlag durch Unterlassen frei.
26. In Teil B des Urteils beurteilte das Landgericht die geistige Gesundheit der ersten und der zweiten Beschwerdeführerin. Es berief sich dabei auf zwei Sachverständigengutachten, die die im ersten Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten bestätigten, dass nämlich der Intelligenzquotient der ersten Beschwerdeführerin bei 53 und der der zweiten Beschwerdeführerin bei 71 liege und daher die geistige Fähigkeit bei beiden vermindert sei.
27. Teil E des Urteils enthielt die Gründe für den Freispruch. Das Gericht brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, dass R. R. um 00:45 Uhr zu Hause angekommen sei. Was sich dann genau ereignete, konnte das Gericht nicht feststellen, es war jedoch davon überzeugt, dass eine(r) oder mehrere der Angeklagten oder alle in einer Weise gehandelt hätten, die in jener Nacht letztlich zum Tod von R. R. geführt habe. Das Gericht konnte nicht feststellen, welche der angeklagten Personen daran beteiligt gewesen seien, auf welche Art und Weise der Tod von R. R. verursacht worden sei und wie sein Leichnam und das Auto in die Staustufe der Donau gelangt seien. Da nichts für einen Suizid oder einen gewaltsamen Tod auf dem Nachhauseweg spreche, musste der Tod von R. R. nach Ansicht des Gerichts nach seiner Ankunft zu Hause eingetreten sein. Die Tatsache, dass R. R. nach Hause gekommen sei, hätten die Beschwerdeführerinnen und M. E. im ersten Verfahren bestätigt.
28. Das Landgericht war der Auffassung, dass die Aussagen der Beschwerdeführerinnen und von M. E. verwertet werden durften, da nichts dafür spreche, dass verbotene Vernehmungsmethoden angewandt worden wären. Soweit die Polizeibeamten die Beschwerdeführerinnen in wenigen Einzelfällen mit falschen Tatsachen konfrontiert hätten, könne ihre Vernehmungsmethode als geringfügiger Irreführungsversuch gewertet werden, der das Schweigerecht der Beschwerdeführerinnen nicht beeinträchtigt habe. Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerinnen zu Beginn ihrer ersten Befragung als Zeuginnen und nicht unmittelbar als Beschuldigte vernommen worden seien, führe ebenfalls nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Darüber hinaus hätten während des gesamten Verfahrens weder die Beschwerdeführerinnen noch ihre Verteidiger konkret vorgetragen, dass die Polizeibeamten bei den Vernehmungen unrechtmäßigen Druck ausgeübt hätten. Die allgemeine diesbezügliche Behauptung sei nicht substantiiert und nichts in dem Verfahren deute darauf hin, dass die Polizeibeamten zur Erlangung von Geständnissen Suggestivfragen gestellt hätten. Darüber hinaus habe die videodokumentierte Tatrekonstruktion, die das Gericht angesehen habe, nicht den Eindruck erweckt, dass beim Gespräch über die Tat psychischer Druck auf die Willensfreiheit der Beschwerdeführerinnen ausgeübt worden wäre.
29. Zwei auf den den Freispruch enthaltenden Teil des Urteils folgende separate Teile enthielten auch eine Kostenentscheidung des Landgerichts und eine Entscheidung zur Entschädigung. Die Kostenentscheidung war mit „Teil F“ und die Entscheidung zur Entschädigung mit „Teil G“ überschrieben. Das Landgericht ordnete an, dass die Staatskasse die Kosten des Verfahrens zu tragen habe, aber lehnte die Erstattung der Auslagen der Beschwerdeführerinnen nach § 467 Abs. 3 StPO (siehe Rdnr. 45) ab. Des Weiteren wies es die Forderungen der Beschwerdeführerinnen nach finanzieller Entschädigung für ihre Untersuchungs- und Strafhaft gemäß § 5 Abs. 2 StrEG (siehe Rdnrn. 46-49) ab.
30. Das Gericht war der Auffassung, dass die Forderungen zurückzuweisen seien, da die Beschwerdeführerinnen sowohl die Untersuchungs- als auch die Strafhaft grob fahrlässig selbst verursacht hätten. Es führte aus, dass die Beschwerdeführerinnen grob fahrlässig gehandelt hätten, da sie sich selbst belastet hätten, indem sie entweder vorsätzlich Falschaussagen oder Aussagen gemacht hätten, deren Wahrheitsgehalt nicht habe überprüft werden können.
31. Im Hinblick auf die Geständnisse der ersten Beschwerdeführerin stellte das Gericht fest, dass ihre Aussage vom 14. Januar 2004, wonach sie den Leichnam von R. R. und das Auto in einem Weiher bei I. versenkt habe, falsch gewesen sei, da sowohl die Leiche als auch das Auto bei einer Donaustaustufe gefunden worden seien. Darüber hinaus habe sich die erste Beschwerdeführerin 2004 im ersten Verfahren selbst belastet, als sie ausgesagt habe, dass R. R. in der Nacht seines Verschwindens nach Hause gekommen sei, obwohl sie ihn 2001 vermisst gemeldet hatte. Demnach habe sie selbst den dringenden Tatverdacht begründet, dass sie R. R. getötet habe. Folglich habe sie ihre Anklage und das Urteil grob fahrlässig selbst verursacht. Hinsichtlich der Frage, ob die erste Beschwerdeführerin aufgrund ihrer verminderten geistigen Fähigkeit vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit befreit war, stellte das Gericht fest, dass sie dem Gerichtsverfahren habe folgen und die Fragen im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen im Jahr 2004 nach reiflicher Überlegung habe beantworten können. Ihr Geisteszustand sei nicht so weit herabgesetzt, dass sie nicht leicht hätte vorhersehen können, dass ihre Angaben zu dem dringenden Verdacht führen würden, dass sie R. R. getötet habe.
32. Soweit die zweite Beschwerdeführerin am 1. Juni 2004 gestanden habe, mit einem Hammer auf den Schädel von R. R. geschlagen zu haben, befand das Landgericht Landshut, dass diese Selbstbelastung unzutreffend gewesen sei, da der Sachverständige, der den Leichnam von R. R. untersucht habe, zu dem Schluss gekommen sei, dass sein Schädel intakt gewesen sei. Folglich habe die zweite Beschwerdeführerin hinsichtlich des Todes von R. R. einen dringenden Tatverdacht gegen sich selbst begründet. Darüber hinaus befand das Gericht, dass die zweite Beschwerdeführerin sich durch ihre Aussagen bei den Vernehmungen am 13. Januar sowie am 4., 18. und 21. Februar 2004 selbst belastet habe, auch wenn das Gericht den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen nicht habe prüfen können. Das Landgericht Landshut war davon überzeugt, dass die zweite Beschwerdeführerin 2004 trotz ihrer verminderten geistigen Fähigkeit habe voraussehen können, dass ihre Aussagen einen dringenden Tatverdacht gegen sie begründen würden, da die meisten ihrer selbstbelastenden Aussagen sehr schwerwiegend gewesen seien und sie sie wiederholt und nach Rücksprache mit ihrem Verteidiger getätigt habe. Nach Auffassung des Gerichts war die Beauftragung eines Sachverständigen aufgrund ihrer verminderten geistigen Fähigkeit daher nicht notwendig. Schließlich deute auch nichts darauf hin, dass diese Aussagen aufgrund unrechtmäßiger Fragemethoden getätigt worden seien.
33. Am 11. Mai 2011 wurde auch die dritte Beschwerdeführerin aus denselben, im Urteil des Landgerichts vom 25. Februar 2011 genannten Gründen vom Vorwurf der Beihilfe zum Totschlag durch Unterlassen freigesprochen. Das Landgericht stellte fest, dass sie einen Intelligenzquotienten von 63 habe und daher an Debilität leide. Im Hinblick auf die Auslagenerstattung und eine Entschädigung erhielt die dritte Beschwerdeführerin lediglich für den ersten Tag ihrer Unterbringung in der Untersuchungshaft eine finanzielle Entschädigung. Das freisprechende Gericht befand, die dritte Beschwerdeführerin habe sowohl ihre Untersuchungs- als auch ihre Strafhaft grob fahrlässig selbst verursacht. Ihre Aussage vom 28. April 2004, wonach M. E. R. R. mit einem Hammer getötet habe und der Leichnam zerstückelt und an die Hunde verfüttert worden sei, sei nicht zutreffend gewesen, da der Leichnam bei der Staustufe gefunden worden sei. Folglich habe auch die dritte Beschwerdeführerin hinsichtlich des Todes von R. R. einen dringenden Tatverdacht gegen sich selbst begründet. Bezüglich ihrer Behauptung, R. R. habe sie in der Nacht seines Verschwindens sexuell missbraucht, konnte das Gericht den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht prüfen. Da sie diese Aussagen später widerrufen habe, sei dies jedoch nur von geringer Bedeutung, da sie ihre Anklage und Inhaftierung gleichermaßen grob fahrlässig verursacht habe. Das Gericht befand, dass die dritte Beschwerdeführerin nicht aufgrund ihrer verminderten geistigen Fähigkeit vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit befreit gewesen sei. Sie habe sich trotz dieser Einschränkung klar ausdrücken können und habe sich wiederholt schwer selbst belastet, während sie anwaltlich vertreten gewesen sei. Nichts deute darauf hin, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, die Wichtigkeit und Bedeutung ihrer Aussagen zu erfassen. Darüber hinaus habe sie ihre Aussagen in Anwesenheit ihres Verteidigers gemacht.
b) Die Verfahren vor dem Oberlandesgericht München
34. Die Beschwerdeführerinnen legten sofortige Beschwerde gegen die Versagung der finanziellen Entschädigung und der Auslagenerstattung durch das Landgericht Landshut ein.
35. Am 14. Juli 2011 (hinsichtlich der dritten Beschwerdeführerin) und am 26. Juli 2011 (hinsichtlich der ersten und zweiten Beschwerdeführerin) verwarf das Oberlandesgericht München die sofortigen Beschwerden gegen die Versagung einer finanziellen Entschädigung für ihre Inhaftierung. Das Gericht wies darauf hin, dass bei der Beurteilung der Frage, ob das Strafverfahren und die Verurteilungen durch grobe Fahrlässigkeit verursacht worden seien, der zum Zeitpunkt des ersten Verfahrens eingenommene Standpunkt entscheidend sei. Die Versagung einer finanziellen Entschädigung nach § 5 Abs. 2 StrEG sei auf Fälle begrenzt, bei denen die betroffene Person grob fahrlässig gehandelt habe. Es genüge nicht, einen Verdacht auf sich zu ziehen. Die betroffene Person müsse das Strafverfahren oder die Verurteilung durch ihr Verhalten wesentlich beeinflusst haben.
36. Unter Anwendung dieser Grundsätze auf die Fälle der Beschwerdeführerinnen schloss sich das Oberlandesgericht München den rechtlichen Ausführungen des Landgerichts Landshut in Teil G des Urteils, der die Entschädigung betraf, vollumfänglich an. Die angebliche Ausübung psychischen Drucks im Rahmen der polizeilichen Vernehmungen ändere nichts an dieser Einschätzung. Selbst wenn es zu einer solchen Situation gekommen sein sollte, seien sowohl die Konstanz und die Schwere der Selbstbelastungen und die Tatsache, dass die Beschwerdeführerinnen während ihrer verschiedenen Aussagen anwaltlich vertreten gewesen seien, zu berücksichtigen. Darüber hinaus ergäben sich angesichts der 2004 und während des in Rede stehenden Verfahrens in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerinnen zum Zeitpunkt ihrer Aussagen vermindert oder nicht schuldfähig gewesen wären. Das Oberlandesgericht München führte aus, dass das Landgericht Landshut während der Verhandlungen von einem Psychologen und einem Psychiater beraten gewesen sei. Es habe kein Grund bestanden, aufgrund des entsprechenden Beweisantrags ein zusätzliches psychologisches Sachverständigengutachten im Hinblick auf die Aussagen der Beschwerdeführerinnen im ersten Verfahren einzuholen.
37. In dem Beschluss vom 26. Juli 2011 hinsichtlich der Versagung einer Entschädigung für die erste und zweite Beschwerdeführerin wies das Oberlandesgericht München zusätzlich darauf hin, dass das Landgericht Landshut das in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention garantierte Recht der Beschwerdeführerinnen auf Unschuldsvermutung gewahrt habe. Es führte aus, das Landgericht Landshut habe einen verbliebenen Tatverdacht gegen die Beschwerdeführerinnen zum Ausdruck bringen dürfen, solange eindeutig erkennbar sei, dass es sich dabei nicht um eine Schuldfeststellung handelte. Diese Anforderung sei erfüllt, da das Landgericht, das seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht habe, dass eine(r) oder mehrere der Angeklagten den Tod von R. R. verursacht hätten, ohne feststellen zu können, wer von ihnen in welcher Form daran beteiligt gewesen sei, sich nicht zur Schuld der Beschwerdeführerinnen, sondern dazu geäußert habe, ob aufgrund der ihm vorliegenden Beweismittel Verdachtsmomente blieben.
38. Am 12. September 2011 verwarf das Oberlandesgericht München ferner die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerinnen gegen die Versagung der Auslagenerstattung, wobei es sich der Begründung des Oberlandesgerichts München in dessen Beschluss vom 26. Juli 2011 vollumfänglich anschloss und auf Teil F des landgerichtlichen Urteils Bezug nahm.
39. Die erste Beschwerdeführerin machte hinsichtlich beider Beschlüsse des Oberlandesgerichts München eine Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör geltend. Die zweite Beschwerdeführerin legte Anhörungsrüge und eine Gegenvorstellung hinsichtlich der Versagung einer finanziellen Entschädigung durch das Oberlandesgericht ein. Die dritte Beschwerdeführerin legte Anhörungsrüge hinsichtlich der Versagung einer finanziellen Entschädigung und Gegenvorstellung hinsichtlich der Versagung der Auslagenerstattung ein. Diese Anträge wies das Oberlandesgericht München zurück.
c) Die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
40. Die erste Beschwerdeführerin legte gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts, mit denen eine Entschädigung und eine Auslagenerstattung versagt worden waren, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Ihrem Vorbringen zufolge legten die zweite und die dritte Beschwerdeführerin lediglich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts, mit denen die Auslagenerstattung versagt worden war, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Alle Beschwerdeführerinnen machten geltend, die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München verletzten ihr Recht auf rechtliches Gehör, auf Unschuldsvermutung und auf wirksame Beschwerde.
41. Am 15. März 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der zweiten Beschwerdeführerin hinsichtlich der Versagung der Auslagenerstattung zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2192/11).
42. Am 16. März 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der ersten Beschwerdeführerin hinsichtlich der Versagung der Auslagenerstattung und der finanziellen Entschädigung zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2368/11).
43. Am 16. März 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde der dritten Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2374/11).
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
1. Die maßgeblichen Bestimmungen der Strafprozessordnung
44. § 467 Abs. 1 StPO sieht unter anderem vor, dass die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last fallen, soweit der Angeschuldigte freigesprochen wird.
45. § 467 Abs. 3 der Strafprozessordnung lautet wie folgt:
„(3) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn der Angeschuldigte die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er in einer Selbstanzeige vorgetäuscht hat, die ihm zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Das Gericht kann davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er
1. die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er sich selbst in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen belastet oder wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat, obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat, oder […]“
2. Die maßgeblichen Bestimmungen des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen
46. Die Entschädigung für Schäden, die unter anderem durch unrechtmäßige Strafverfolgung, Untersuchungs- oder Strafhaft entstanden sind, ist im Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) geregelt.
47. Nach § 1 StrEG hat ein Angeklagter insbesondere Anspruch auf Entschädigung für einen aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung erlittenen Schaden, wenn die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren fortfällt.
48. Nach § 2 Abs. 1 StrEG kann eine Person, die in Untersuchungshaft untergebracht war, Entschädigung fordern, wenn sie freigesprochen oder das Verfahren gegen sie eingestellt wurde.
49. Gemäß § 5 Abs. 2 StrEG ist die Entschädigung nach diesem Gesetz ausgeschlossen, wenn der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Letzteres gilt, wenn bei einem Beschuldigten davon auszugehen ist, dass er das strafrechtliche Verfahren durch ein Verhalten ausgelöst hat, das dem grundlegenden Umstand nicht Rechnung getragen hat, dass ein solches Verhalten offensichtlich zu einem Strafverfahren führen würde.
RÜGEN
50. Die Beschwerdeführerinnen rügten nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, eine Entschädigung für den durch die Inhaftierung entstandenen Schaden und die Erstattung der Auslagen zu versagen, auf unrechtmäßig erlangte Aussagen gestützt worden sei. Darüber hinaus habe das freisprechende Gericht die Bestimmungen des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen in einer Art und Weise falsch ausgelegt, dass die Versagung der finanziellen Entschädigung Willkür darstelle. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 2 der Konvention machten die Beschwerdeführerinnen geltend, dass durch die Beschlüsse des Landgerichts Landshut und des Oberlandesgerichts München, mit denen ihre Entschädigungsforderungen zurückgewiesen und die Auslagenerstattung abgelehnt worden seien, ihr Recht auf Unschuldsvermutung verletzt worden sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Verbindung der Beschwerden
51. Aufgrund ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds entscheidet der Gerichtshof, die drei Individualbeschwerden nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu verbinden.
B. Umfang der Rechtssache
52. Im Hinblick auf die Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten und die Vorbringen der Beschwerdeführerinnen hält es der Gerichtshof für notwendig, zunächst klarzustellen, dass es sich bei den in den vorliegenden Individualbeschwerdeverfahren in Rede stehenden Beschlüssen lediglich um die Entscheidungen des Landgerichts Landshut und des Oberlandesgerichts handelt, der Staatskasse die Zahlung der Auslagen der Beschwerdeführerinnen und einer Entschädigung nicht aufzuerlegen. Das die Gründe für den Freispruch beinhaltende Urteil des Landgerichts selbst war weder Gegenstand des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten noch des vorliegenden Individualbeschwerdeverfahrens.
C. Behauptete Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 der Konvention
53. Die Beschwerdeführerinnen rügten unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass die Versagung der finanziellen Entschädigung und der Auslagenerstattung durch die innerstaatlichen Gerichte auf Aussagen gestützt worden sei, die von den Ermittlern im Rahmen des ersten Verfahrens durch Anwendung psychischen Drucks erlangt worden seien. Aufgrund dessen stütze sich die Einschätzung des freisprechenden Gerichts, wonach die Beschwerdeführerinnen ihre Untersuchungs- und Strafhaft grob fahrlässig selbst verursacht hätten, auf unrechtmäßig erlangte Beweismittel. Darüber hinaus hätten die innerstaatlichen Gerichte die Bedingungen für die Anwendung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen nicht ordnungsgemäß berücksichtigt. Daher stelle ihre Entscheidung Willkür dar. Sie beriefen sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche […] von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“
54. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich mit Tatsachen- und Rechtsirrtümern zu befassen, die einem innerstaatlichen Gericht unterlaufen sein sollen, sofern und soweit die nach der Konvention geschützten Rechte und Freiheiten hierdurch nicht verletzt worden sind (siehe Perez ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 47287/99, Rdnr. 82, ECHR 2004‑I; und García Ruiz ./. Spanien [GK], Individualbeschwerde Nr. 30544/96, Rdnr. 28, ECHR 1999‑I). Artikel 6 garantiert zwar das Recht auf ein faires Verfahren, stellt aber keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln als solche auf; diese richtet sich in erster Linie nach dem innerstaatlichem Recht (siehe Bochan ./. Ukraine (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerde Nr. 22251/08, Rdnr. 61, ECHR 2015; Karuna ./. Ukraine (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 43788/05, 3. April 2007). Es ist daher nicht Aufgabe des Gerichtshofs, grundsätzlich zu entscheiden, ob bestimmte Arten von Beweismitteln – wie z. B. Beweismittel, die nach innerstaatlichem Recht in unrechtmäßiger Weise erlangt wurden – zulässig sind. Zu klären ist die Frage, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise, wie die Beweise erlangt wurden, fair war (siehe E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnr. 66, ECHR 2000‑VIII; H. ./. Frankreich, 24. Oktober 1989, S. 23, Rdnrn. 60-61, Serie A Band 162‑A).
55. Der Gerichtshof erkennt an, dass im vorliegenden Fall das freisprechende Gericht, das seine Entscheidung, die Auslagenerstattung und die Zahlung einer Entschädigung zu versagen, auf die selbstbelastenden Aussagen der Beschwerdeführerinnen im ersten Verfahren stützte, dazu verpflichtet war, sorgfältig zu prüfen, ob der geistige Gesundheitszustand der Beschwerdeführerinnen bei ihren Vernehmungen im ersten Verfahren hinreichend berücksichtigt worden war. Der Gerichtshof stellt fest, dass das freisprechende Gericht dies im den Freispruch enthaltenden Teil des Urteils getan hat (vgl. Rdnrn. 27 und 28). Es hat die Möglichkeit, dass die Polizeibeamten unrechtmäßige Vernehmungsmethoden angewandt haben könnten, eingehend geprüft. Es hat festgestellt, dass die Beschwerdeführerinnen in keiner Weise spezifiziert hätten, inwieweit die Polizeibeamten Suggestivfragen angewandt hätten. Aus der videodokumentierten Tatrekonstruktion sei ebenfalls nicht hervorgegangen, dass die Polizeibeamten die Willensfreiheit der Beschwerdeführerinnen beim Gespräch über die Tat in unrechtmäßiger Weise beeinflusst hätten. In seiner Begründung für die Versagung der Auslagenerstattung und der Entschädigung ging das freisprechende Gericht auch ausführlich darauf ein, dass die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerinnen verschiedene Versionen des Tötens von R. R. gestanden hätten, und befand, dass die Beschwerdeführerinnen trotz ihrer verminderten geistigen Fähigkeiten hätten vorhersehen können, dass diese Aussagen einen dringenden Tatverdacht gegen sie begründen würden. Es führte aus, dass nichts darauf hindeute, dass die Polizeibeamten die Beschwerdeführerinnen dazu gebracht hätten, selbstbelastende Aussagen zu machen. Das freisprechende Gericht kam zu dem Schluss, dass es hinsichtlich der Beurteilung der Frage, ob die Beschwerdeführerinnen grob fahrlässig gehandelt haben, keine Gründe für einen Ausschluss dieser Aussagen aus dem ersten Verfahren gebe.
56. Im Hinblick auf die zusätzliche Begründung des Oberlandesgerichts ist der Gerichtshof überzeugt, dass das Oberlandesgericht die Frage, ob die verminderten geistigen Fähigkeiten der Beschwerdeführerinnen rechtliche Folgen hatten, besonders berücksichtigt und darauf hingewiesen hat, dass das freisprechende Gericht nicht nur zwei Sachverständigengutachten zu den verminderten geistigen Fähigkeiten der Beschwerdeführerinnen bestellt hat, sondern während der Verhandlung auch von einem Psychologen und einem Psychiater beraten war.
57. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl das freisprechende Gericht als auch das Oberlandesgericht bei der Beurteilung der im ersten Verfahren gemachten Aussagen dem geistigen Gesundheitszustand der Beschwerdeführerinnen besonderes Augenmerk geschenkt haben. Weder die Begründungen der innerstaatlichen Gerichte noch die Ausführungen der Beschwerdeführerinnen legen nahe, dass sie die ihnen vorliegenden Beweise willkürlich gewürdigt hätten. Auch ließ die Anwendung des innerstaatlichen Rechts durch die innerstaatlichen Gerichte keine Willkür erkennen.
58. Im Lichte dieser Erwägungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Versagung einer Entschädigung und der Auslagenerstattung durch die innerstaatlichen Gerichte keine Anzeichen für eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention erkennen lässt.
59. Daher ist die diesbezügliche Rüge der Beschwerdeführerinnen offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
D. Behauptete Verletzung von Artikel 6 Absatz 2 der Konvention
60. Die Beschwerdeführerinnen trugen vor, die Begründungen des Landgerichts Landshut und des Oberlandesgerichts München, die ihre Forderungen nach Entschädigung und Auslagenerstattung mit der Begründung zurückgewiesen hätten, dass sie ihre Inhaftierung grob fahrlässig selbst verursacht hätten, habe das in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verankerte Recht auf Unschuldsvermutung verletzt; diese Bestimmung lautet wie folgt:
„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“
1. Allgemeine Grundsätze
61. Der Gerichtshof ist unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung der Auffassung, dass „Unschuldsvermutung“ bedeutet, dass in Fällen, in denen strafrechtliche Anklage erhoben wurde und das Strafverfahren mit einem Freispruch endete, die Person, gegen die sich das Strafverfahren richtete, rechtlich gesehen unschuldig ist und in einer Art und Weise zu behandeln ist, die dieser Unschuld Rechnung trägt. Insoweit besteht die Unschuldsvermutung daher auch nach Beendigung des Strafverfahrens fort, damit sichergestellt ist, dass die Unschuld der betroffenen Person hinsichtlich jedes nicht bewiesenen Vorwurfs beachtet wird (siehe Allen ./. das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, Rdnr. 103, ECHR 2013).
62. Wann immer sich die Frage der Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 2 im Zusammenhang mit nachfolgenden Verfahren stellt, muss der Beschwerdeführer nachweisen, dass ein Zusammenhang zwischen dem beendeten Strafverfahren und dem nachfolgenden Verfahren besteht (siehe Allen, a. a. O., Rdnr. 104). Der Gerichtshof hat einen solchen Zusammenhang unter anderem in Fällen festgestellt, in denen der ehemalige Beschuldigte Entschädigung für eine Untersuchungshaft oder eine andere durch das Strafverfahren entstandene Belastung forderte (siehe E. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 35, Serie A Band 123; Sekanina ./. Österreich, 25. August 1993, Rdnr. 22, Serie A Band 266‑A) oder in denen er die Erstattung seiner Verteidigungskosten forderte (siehe L. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnrn. 56-57, Serie A Band 123; Leutscher ./. Niederlande, 26. März 1996, Rdnr. 29, Reports 1996‑II).
63. Wurde zwischen beiden Verfahren ein Zusammenhang festgestellt, muss der Gerichtshof prüfen, ob die Unschuldsvermutung unter den Umständen der Rechtssache beachtet wurde. Der Gerichtshof hat Verletzungen von Artikel 6 Abs. 2 festgestellt, wenn die für die Versagung einer finanziellen Entschädigung nach Beendigung des Verfahrens angeführten Gründe die Auffassung widerspiegelten, dass der Beschuldigte einer Straftat schuldig sei, ohne dass er dieser tatsächlich schuldig gesprochen wurde (siehe Bok ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 45482/06, Rdnr. 38, 18. Januar 2011; Tendam ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 25720/05, Rdnr. 36, 13. Juli 2010; Baars ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 4420/98, Rdnr. 31, 28. Oktober 2003; Lamanna ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 28923/95, Rdnrn. 38-40, 10. Juli 2001). Eine Schuldfeststellung ohne rechtskräftige Verurteilung ist in diesem Zusammenhang von der Beschreibung einer „Verdachtslage“ zu unterscheiden. Während Ersteres den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt, galt Letzteres in zahlreichen vom Gerichtshof geprüften Situationen als nicht zu beanstanden (vgl. L., a. a. O., Rdnr. 62; E., a. a. O., Rdnr. 39; N. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 39, Serie A Band 123; und Virabyan ./. Armenien, Individualbeschwerde Nr. 40094/05, Rdnr. 186, 2. Oktober 2012). In allen Fällen und unabhängig von der angewandten Herangehensweise ist die von der entscheidenden Person gewählte Formulierung bei der Beurteilung der Frage, ob die Entscheidung und ihre Gründe mit Artikel 6 Abs. 2 vereinbar sind, von wesentlicher Bedeutung (siehe C. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 48144/09, Rdnr. 54, 15. Januar 2015; Allen, a. a. O., Rdnr. 126; Reeves ./. Norwegen (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 4248/02, 8. Juli 2004).
2. Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
64. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention auf den vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass Verfahren nach § 1 StrEG einen Freispruch nach vorausgegangener Verurteilung voraussetzen. Die Aufhebung der Verurteilung begründet das Recht, wegen eines Fehlurteils eine Entschädigung zu beantragen. § 467 StPO setzt gleichermaßen einen Freispruch in einem Strafverfahren voraus. Um über die Entschädigungsforderungen der Beschwerdeführerinnen und darüber zu entscheiden, ob die Auslagen der Beschwerdeführerinnen der Staatskasse aufzuerlegen waren, hatten die innerstaatlichen Gerichte das Verhalten der Beschwerdeführerinnen während des zu ihrer Verurteilung führenden Strafverfahrens zu beurteilen, was allein durch Prüfung des Urteils des verurteilenden Gerichts möglich war.
65. Der Gerichtshof ist daher davon überzeugt, dass zwischen dem Strafverfahren und dem Kostenfestsetzungsverfahren der notwendige Zusammenhang bestand, im vorliegenden Fall umso mehr, da die Kostenentscheidung und die Entscheidung zur Entschädigung Teil des freisprechenden Urteils waren. Daher ist Artikel 6 Abs. 2 der Konvention in den vorliegenden Fällen anwendbar.
66. Der Gerichtshof hat im Lichte der oben genannten Grundsätze zu entscheiden, ob die Begründung der innerstaatlichen Gerichte in ihren Entscheidungen, eine finanzielle Entschädigung und die Auslagenerstattung zu versagen, mit dem Recht der Beschwerdeführerinnen auf Unschuldsvermutung vereinbar war.
67. Der Gerichtshof weist eingangs darauf hin, dass das Landgericht Landshut in seinem Urteil den Freispruch (Teil E des Urteils, siehe Rdnrn. 27 und 28) und die Versagung der Auslagenerstattung und der finanziellen Entschädigung (Teile F und G des Urteils, siehe Rdnrn. 29 bis 32) separat begründet hat. Während das Landgericht im erstgenannten Teil zu dem Schluss kam, dass die Beschwerdeführerinnen freizusprechen seien, weil trotz der Überzeugung des Gerichts, dass eine der Beschwerdeführerinnen oder M. E. in einer Weise gehandelt habe, die schließlich zum Tod von R. R. geführt habe, nicht habe festgestellt werden können, wer von ihnen es gewesen sei, führte es in den beiden anderen Teilen lediglich Gründe für seine Auffassung an, dass die Beschwerdeführerinnen ihre Untersuchungs- und Strafhaft gemäß § 5 Abs. 2 StrEG und § 467 Abs. 3 StPO grob fahrlässig verursacht hätten (siehe Rdnrn. 44 bis 49).
68. Der Gerichtshof hält diese Unterscheidung zwischen den Gründen für den Freispruch und denjenigen für die Versagung der Auslagenerstattung und der finanziellen Entschädigung im vorliegenden Fall für entscheidend. Nach Ansicht des Gerichtshofs ging die Unterscheidung zwischen den Gründen für den Freispruch und den Gründen für die Entscheidungen zu Auslagen und Entschädigung aus der Struktur des Urteils klar hervor, auch wenn der Freispruch und die Entscheidungen zu Auslagen und Entschädigung in ein und demselben Dokument enthalten waren. Daher ist er davon überzeugt, dass die Entscheidung des Landgerichts, eine Auslagenerstattung und Entschädigung zu versagen, keine Schuldfeststellung enthielt.
69. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Oberlandesgericht München sich in seinen Beschlüssen vollumfänglich den rechtlichen Ausführungen des Landgerichts Landshut angeschlossen hat. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts hat das Landgericht Landshut mit der Begründung seiner Entscheidung, der Staatskasse die Zahlung der Auslagen der Beschwerdeführerinnen und einer finanziellen Entschädigung nicht aufzuerlegen (Teile F und G des Urteils, siehe Rdnrn. 29-32) in keiner Weise dazu Stellung genommen, ob die Umstände der Rechtssachen und die Beweismittel für die Schuld oder Unschuld der Beschwerdeführerinnen sprachen, sondern lediglich beurteilt, ob die Beschwerdeführerinnen ihre Untersuchungs- und Strafhaft grob fahrlässig verursacht haben. Das Oberlandesgericht München fügte dann hinzu, dass das Urteil des Landgerichts das in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention garantierte Recht auf Unschuldsvermutung nicht verletze, da es lediglich Feststellungen dahingehend enthalte, dass die Beschwerdeführerinnen das Strafverfahren verursacht hätten, was nicht einer Schuldfeststellung gleichkomme.
70. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass das Oberlandesgericht in seinen Entscheidungen hinreichend zwischen der Beurteilung der Voraussetzungen für eine Versagung der Auslagenerstattung und der finanziellen Entschädigung einerseits und der Frage, ob das landgerichtliche Urteil eine Schuldfeststellung enthielt, andererseits unterschieden hat. Darüber hinaus hat das Oberlandesgericht München hinreichend verdeutlicht, dass eine Schuldzuweisung an die Beschwerdeführerinnen der Unschuldsvermutung zuwiderlaufen würde (vgl. A. L. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 72758/01, Rdnr. 38, 28. April 2005). Daher ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts keine Schuldfeststellung darstellte.
71. Darüber hinaus ist der Gerichtshof nicht der Auffassung, dass behauptet werden kann, die von den innerstaatlichen Gerichten bei der Beurteilung der gesetzlichen Voraussetzungen für ihre Versagung der Auslagenerstattung und einer Entschädigung gewählten Formulierungen hätten den Freispruch der Beschwerdeführerinnen unterlaufen oder sie in einer mit ihrer Unschuld unvereinbaren Art und Weise behandelt.
72. Schließlich weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Artikel 6 Abs. 2 einer einer Straftat angeklagten Person kein Recht auf Entschädigung für rechtmäßige Untersuchungshaft oder auf Auslagenerstattung gewährt, wenn das Verfahren anschließend eingestellt wird oder in einem Freispruch endet (siehe u. a. Allen, a. a. O., Rdnr. 82, E., a. a. O., Rdnr. 40). Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die Weigerung, der Staatskasse die Zahlung der Auslagen der Beschwerdeführerinnen und einer finanziellen Entschädigung aufzuerlegen, an sich nicht mit einer Strafe oder einer strafähnlichen Maßnahme gleichgesetzt werden kann (vgl. Leutscher, a. a. O., Rdnr. 29; A. L., a. a. O., Rdnr. 38).
73. Folglich lassen die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte keine Anzeichen einer Verletzung des in Artikel 6 Abs. 2 garantierten Rechts auf Unschuldsvermutung erkennen.
74. Daher ist die diesbezügliche Rüge der Beschwerdeführerinnen offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:
Die Individualbeschwerden werden verbunden;
die Individualbeschwerden werden für unzulässig erklärt.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 10. Dezember 2015.
Claudia Westerdiek Ganna Yudkivska
Kanzlerin Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze
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