DAS UNIVERSELLE LEBEN ALLER KULTUREN WELTWEIT E.V. gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 60369/11

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 60369/11
U.e.V.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 17. November 2015 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
KhanlarHajiyev,
André Potocki,
YonkoGrozev,
Síofra O’Leary,
und Mārtiņš Mits,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 13. September 2011 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Bei dem Beschwerdeführer, U. e.V., handelt es sich um einen deutschen Verein mit Sitz in M. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn S., Rechtsanwalt in M., vertreten.

A. Die Umstände des Falles

2. Der Sachverhalt, wie er von dem Beschwerdeführer vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Der Beschwerdeführer ist ein eingetragener Verein, der angibt, die Interessen der religiösen Gemeinschaft „U.“ zu vertreten, die Menschen „in einem neuen, wahren christlichen Glauben, offenbart durch eine von Gott gesandte neue Prophetin“ zusammenbringt. Der Verein machte keine weitere Angaben zu seinen Mitgliedern oder spezifischen Aktivitäten.

4. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (im Folgenden: „Das Bundesministerium“) wies das Bundesverwaltungsamt an, eine Informationsstelle „Sogenannte Jugendsekten und Psychogruppen“ zu betreiben und im Rahmen der Tätigkeiten dieser Stelle Informationen über den Beschwerdeführer zu sammeln.

5. Unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz (siehe Rdnr. 11) beantragte der Beschwerdeführer Akteneinsicht in Bezug auf alle vom Bundesverwaltungsamt insoweit zusammengetragenen Informationen. Am 30. März 2007 lehnte das Bundesverwaltungsamt den Antrag des Beschwerdeführers ab.

6. Daraufhin erhob der Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht Köln Klage gegen die Ablehnung des Antrags. Während des gerichtlichen Verfahrens wies das Gericht das Bundesverwaltungsamt an, die dort vorhandenen Dokumente aufzulisten und zu beschreiben, damit der Beschwerdeführer seine Forderung spezifizieren könne und die Rechtmäßigkeit der Ablehnung umfassend beurteilt werden könne.

7. Das Bundesministerium, das die Informationssammlung ursprünglich erbeten hatte und daher als Drittpartei an dem Verfahren beteiligt war, gab eine Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 VwGO ab (siehe Rdnr. 12). Es führte aus, dass keine Verpflichtung zur Offenlegung der Unterlagen oder auch nur zur Bestätigung ihrer Existenz und ihres Inhalts im gerichtlichen Verfahren und gegenüber dem Beschwerdeführer bestehe.

8. Daraufhin wurde die Angelegenheit dem Bundesverwaltungsgericht als der nach § 99 Abs. 2 VwGO für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Sperrerklärung zuständigen Behörde übertragen.

9. Am 25. Juni 2010 nahm das Gericht Einsicht in die in Rede stehenden Unterlagen und entschied über die Rechtmäßigkeit der Sperrerklärung. In einer detaillierten Einleitung legte das Gericht seine eigenen Prüfmaßstäbe dar und erläuterte, dass § 99 Abs. 2 VwGO es erfordere, zu prüfen, ob die geltend gemachten Gründe für eine Geheimhaltung, erstens, im konkreten Fall relevant seien und, zweitens, zur Rechtfertigung einer Sperrerklärung ausreichten. Unter Anwendung dieser Maßstäbe kam das Bundesverwaltungsgericht zu dem Schluss, dass ein allgemeiner, nicht substantiierter Verweis auf die Vertraulichkeit der internen Arbeitsprozesse des Bundesverwaltungsamts keinen hinreichenden Grund darstellen könne. Das Gericht stellte aber auch fest, dass das Bundesverwaltungsamt als staatliche Behörde an die im Grundgesetz vorgesehenen Verpflichtungen gebunden sei. Daher könnten, wie vom Bundesministerium vorgebracht, das grundgesetzlich geschützte Recht Dritter auf Privatsphäre und insbesondere der Informantenschutz eine Sperrerklärung grundsätzlich rechtfertigen. Im Hinblick auf den Sachverhalt der Rechtssache entschied das Gericht, dass in Bezug auf einige Materialien, die aus öffentlich zugänglichen Informationen wie Zeitungsartikeln, Ausdrucken aus dem Internet, Gerichtsurteilen oder Veröffentlichungen des Vereins selbst bestünden, kein Grund für eine Geheimhaltung angeführt werden könne. Daher wurde die Verweigerung der Vorlage dieser Unterlagen für unrechtmäßig befunden. In Bezug auf andere den Beschwerdeführer betreffende Unterlagen akzeptierte das Gericht jedoch die Ablehnung der Offenlegung. Diese betrafen Berichte früherer Mitglieder des Beschwerdeführers, welche die Gemeinschaft verlassen hatten. Diese Personen hatten dem Amt sensible persönliche Informationen über ihr privates und religiöses Leben mitgeteilt. Das Bundesverwaltungsgericht befand, dass die Verweigerung der Vorlage dieser Unterlagen zum Schutz der Anonymität der Informationsquellen und der persönlichen Informationen Dritter gerechtfertigt sei. Es brachte weiter vor, dass es keine andere Möglichkeit als die Nichtoffenlegung gebe, da die kleine Anzahl möglicher Quellen eine Identifizierung auch bei Bearbeitung der Unterlagen erlaube. Außerdem befand es, dass die Aussagen keine diffamierenden oder verleumderischen Bemerkungen enthielten.

10. Am 22. August 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen den die Vorlageverweigerung bestätigenden Teil des Beschlusses zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 2016/10).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

1. Informationsfreiheitsgesetz

11. Die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz) lauten wie folgt:

Abschnitt 1 – Allgemeine Grundsätze

(1) Jeder hat nach Maßgabe dieses Gesetzes gegenüber den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen. Für sonstige Bundesorgane und -einrichtungen gilt dieses Gesetz, soweit sie öffentlich-rechtliche Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Einer Behörde im Sinne dieser Vorschrift steht eine natürliche Person oder juristische Person des Privatrechts gleich, soweit eine Behörde sich dieser Person zur Erfüllung ihrer öffentlich-rechtlichen Aufgaben bedient.

(2) Die Behörde kann Auskunft erteilen, Akteneinsicht gewähren oder Informationen in sonstiger Weise zur Verfügung stellen. Begehrt der Antragsteller eine bestimmte Art des Informationszugangs, so darf dieser nur aus wichtigem Grund auf andere Art gewährt werden. Als wichtiger Grund gilt insbesondere ein deutlich höherer Verwaltungsaufwand.

Regelungen in anderen Rechtsvorschriften über den Zugang zu amtlichen Informationen gehen mit Ausnahme des § 29 des Verwaltungsverfahrensgesetzes und des § 25 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch vor.

2. Verwaltungsgerichtsordnung

12. § 99 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) lautet, soweit einschlägig, wie folgt:

„(1) Behörden sind zur Vorlage von Urkunden oder Akten, zur Übermittlung elektronischer Dokumente und zu Auskünften verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden des Inhalts dieser Urkunden, Akten, elektronischen Dokumente oder dieser Auskünfte dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage von Urkunden oder Akten, die Übermittlung der elektronischen Dokumente und die Erteilung der Auskünfte verweigern.

(2) Auf Antrag eines Beteiligten stellt das Oberverwaltungsgericht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss fest, ob die Verweigerung der Vorlage der Urkunden oder Akten, der Übermittlung der elektronischen Dokumente oder der Erteilung von Auskünften rechtmäßig ist. Verweigert eine oberste Bundesbehörde die Vorlage, Übermittlung oder Auskunft mit der Begründung, das Bekanntwerden des Inhalts der Urkunden, der Akten, der elektronischen Dokumente oder der Auskünfte würde dem Wohl des Bundes Nachteile bereiten, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht; (…) Die oberste Aufsichtsbehörde hat die nach Absatz 1 Satz 2 verweigerten Urkunden oder Akten auf Aufforderung dieses Spruchkörpers vorzulegen, die elektronischen Dokumente zu übermitteln oder die verweigerten Auskünfte zu erteilen. Sie ist zu diesem Verfahren beizuladen. (…)“

RÜGEN

13. Nach den Artikeln 8, 9 und 13 der Konvention rügt der Beschwerdeführer die Sammlung von Informationen über seine Aktivitäten durch das Bundesamt und dessen Weigerung, ihm, wie beantragt, alle Informationen zur Verfügung zu stellen.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Behauptete Verletzung von Artikel 8 der Konvention

14. Der Beschwerdeführer rügte, dass er durch die Sammlung von Informationen über seine Aktivitäten, insbesondere durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die Offenlegung von Informationen und Unterlagen, die von ehemaligen Mitgliedern übermittelt worden seien, nicht anzuordnen, in seinem Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt worden sei. Er berief sich auf Artikel 8, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat ein Recht auf Achtung ihres Privat(…)lebens (…)

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, (…) zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

1. Die Sammlung von Informationen

15. Was die Beschwerde wegen der Sammlung von Informationen angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer diesbezüglich kein gerichtliches Verfahren angestrengt hat und von verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfen keinen Gebrauch gemacht hat.

16. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 1 Buchstabe a wegen Nichterschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe unzulässig und nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

2. Die Verweigerung einer Anordnung zur Offenlegung von Informationen

17. Was die Frage betrifft, ob die Verweigerung der Informationsoffenlegung durch das Bundesverwaltungsamt einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens darstellte, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Artikel 8 nach allgemeiner Auffassung auf Angelegenheiten anwendbar ist, in denen es um Informationen geht, die eine öffentliche Behörde über einzelne Personen gesammelt hat (Rotaru ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 28341/95, Rdnr. 46, ECHR 2000-V; Leander ./. Schweden, 26. März 1987, Rdnr. 48, Serie A Band 116; Brinks ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 9940/04, 5. April 2005).

18. Der Gerichtshof stellt fest, dass in der vorliegenden Rechtssache der Beschwerdeführer Akteneinsicht forderte und sich dabei darauf berief, dass er als juristische Person ein Recht auf Privatsphäre habe, jedoch weder geltend machte, die Berufung auf Rechte erfolge im Namen von Einzelpersonen, noch Belege dafür anführte, er habe eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft inne. In der Annahme, dass Artikel 8 im vorliegenden Fall anwendbar ist (vgl. Société Colas Est u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 37971/97, Rdnr. 41, ECHR 2002‑III) und in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung des Privatlebens eingegriffen wurde, stellt dieser Eingriff eine Verletzung von Artikel 8 dar, wenn er nicht „gesetzlich vorgesehen“ ist, ein rechtmäßiges Ziele verfolgt und zur Erreichung dieses Zeil „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist.

19. Der Gerichtshof stellt fest, dass § 99 Abs. 1 VwGO eine Rechtsgrundlage für die Entscheidung bietet, nicht in alle Akten Einsicht zu gewähren. Der Gerichtshof nahm zur Kenntnis, dass das Bundesverwaltungsgericht zwar nicht befunden habe, dass das „Wohl des Bundes oder eines Landes“ eine hinreichende Rechtfertigung darstelle, jedoch anerkannt habe, dass die Informationen aufgrund der auf dem Grundgesetz (Artikel 2, Allgemeines Persönlichkeitsrecht) beruhenden Verpflichtung des Bundesverwaltungsamts, die Privatsphäre Dritter zu schützen, „nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten“ worden seien.

20. Gleichwohl muss die Rechtsgrundlage gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch zugänglich und vorhersehbar sein. Vorhersehbarkeit bedeutet, dass die Rechtsgrundlage so genau formuliert sein muss, dass der Einzelne sein Verhalten daran ausrichten kann (siehe u.v.a. The Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich(Nr. 1), 26. April 1979, Rdnr. 49, Serie A, Band 30). Da viele Gesetze zwangsläufig vage abgefasst sind und ihre Auslegung und Anwendung in der Praxis erfolgt (siehe The SundayTimes ./. Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rdnr. 49), ist dieses Erfordernis auch erfüllt, wenn eine Person ihr Verhalten an dem Wortlaut der entsprechenden Bestimmung, nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte, ausrichten kann (siehe, sinngemäß Kokkinakis ./. Griechenland, 25. Mai 1993, Rdnr. 52 Band A Nr. 260-A).

21. Im Hinblick auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass § 99 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung zwar vage formuliert ist, das Bundesverwaltungsgericht die Voraussetzungen für eine Ablehnung in einem konkreten Fall jedoch detailliert dargelegt hat. Daher erfüllt § 99 der Verwaltungsgerichtsordnung das Kriterium „Qualität der Rechtsvorschrift“.

22. Der Gerichtshof stellt fest, dass die in Rede stehende Entscheidung das rechtmäßige Ziel verfolgte, die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen.

23. Hinsichtlich der verbleibenden Frage, ob die Weigerung des Bundesverwal­tungsamts, die Unterlagen vorzulegen, „in einer demokratischen Gesellschaft not­wendig“ war, erinnert der Gerichtshof daran, dass der Begriff der Notwendigkeit voraussetzt, dass der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und insbesondere im Hinblick auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig ist.

24. Der Gerichtshof stellt fest, dass die dem Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache vorenthaltenen Informationen dem Bundesverwaltungsgericht zur Verfügung gestellt wurden, ohne sie an den Beschwerdeführer weiterzugeben, damit das Gericht prüfen konnte, ob Informationen ungerechtfertigterweise zurückgehalten wurden oder nicht. Er ist der Auffassung, dass diese richterliche Kontrolle eine wirksame und zugängliche Maßnahme durch eine unabhängige Behörde darstellt, welche die Voraussetzungen von Artikel 8 Abs. 2 der Konvention erfüllt (siehe, sinngemäß, Gaskin ./. Vereinigtes Königreich, 7. Juli 1989, Rdnr. 49, Band A Nr. 160; und Roche ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 32555/96, Rdnr. 162, ECHR 2005‑X).

25. Darüber hinaus berücksichtigt der Gerichtshof, dass eine Person das Recht auf Schutz ihrer persönlichen Daten hat, wenn diese von öffentlichen Institutionen gespeichert werden (siehe, sinngemäß, Craxi ./. Italien, (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 25337/94, Rdnrn. 70, 76, 17. Juli 2003). Im Zusammenhang mit dem Schutz der Bevölkerung vor Glaubensgemeinschaften, die missbräuchliche Praktiken anwenden könnten, ist insbesondere zu beachten, dass Aussagen früherer Mitglieder hochsensible persönliche Informationen über ihr persönliches und religiöses Leben beinhalten und die Mitglieder ein starkes Interesse daran haben, nicht identifiziert zu werden.

26. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Bundesverwaltungsgericht die Interessen des Beschwerdeführers und die der ehemaligen Mitglieder gegeneinander abgewogen hat. Das Gericht fand keine andere Möglichkeit als die, diese Unterlagen nicht offenzulegen, da die kleine Anzahl möglicher Quellen eine Identifizierung der ehemaligen Mitglieder auch bei einer Bearbeitung der Unterlagen erlaubt hätte. Darüber hinaus stellte das Gericht fest, dass die Aussagen keine Beleidigung des Beschwerdeführers beinhalteten.

27. Daher erkennt der Gerichtshof im Hinblick auf den dem Staat zustehenden Beurteilungsspielraum und die in Rdnr. 18 dargelegte Annahme der Anwendbarkeit von Artikel 8 fest, dass die deutschen Behörden unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache dem Schutz der Rechte anderer Vorrang vor dem Recht auf Zugang zu den von öffentlichen Behörden gesammelten Informationen über den Beschwerdeführer einräumen durften.

28. Daher gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Entscheidung, den Zugang des Beschwerdeführers auf die Informationen zu begrenzen, die keine persönlichen Daten Dritter beinhalteten, nicht als im Hinblick auf das verfolgte rechtmäßige Ziel unverhältnismäßig angesehen werden kann und daher im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 der Konvention „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war (siehe sinngemäß Brinks, a.a.O.).

29. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a offensichtlich unbegründet und muss nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückgewiesen werden.

B. Behauptete Verletzung von Artikel 9 der Konvention

30. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass die Sammlung von Informationen durch das Bundesverwaltungsamt und die Verweigerung des Zugangs zu diesen Informationen einen ungerechtfertigten Eingriff in das in Artikel 9 der Konvention niedergelegte Recht auf Bekennung einer Religion darstelle. Artikel 9 lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

2. Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

31. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass der Beschwerdeführer die Sammlung von Informationen nicht vor den innerstaatlichen Gerichten gerügt hat (siehe Rdnr. 15).

32. Der Gerichtshof erinnert weiter daran, dass eine Kirche oder eine geistliche Gemeinschaft die in Artikel 9 der Konvention garantierten Rechte im Namenihrer Anhänger ausüben darf (siehe Cha’areShalomVeTsedek ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 27417/95, Rdnr. 72, ECHR 2000-VII).

33. Zwar ist die Religionsfreiheitin erster Linie eine individuelle Gewissensangelegenheit, umfasst jedoch unter anderem auch die Freiheit, seine Religion einzeln und privat oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder im Kreis derjenigen, deren Glauben man teilt, zu bekennen. Artikel 9 listet eine Reihe von Formen auf, in denen man seine Religion oder seinen Glauben bekennen kann, nämlich Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten. Darüber hinaus beinhaltet die Religionsfreiheit grundsätzlich das Recht zu versuchen, seinen Nächsten beispielsweise durch Unterricht zu überzeugen, ohne das die in Artikel 9 verankerte Freiheit, „seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln“, wohl totes Recht bleiben würde (siehe u. v. a., Kokkinakis, a.a.O., Rdnr. 31, und Buscarini u. a. ./. San Marino [GK], Individualbeschwerde Nr. 24645/94, Rdnr. 34, ECHR 1999-I). Artikel 9 schützt jedoch nicht jede auf einer Religion oder einem Glauben beruhende Handlung (siehe u.v.a. Kalaç ./. Türkei, Urteil vom 1. Juli 1997, Reports of JudgmentsandDecisions 1997‑IV, Rdnr. 27). Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zeigt Ansichten an, die ein gewisses Maß an Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung erreichen (siehe Campbell und Cosans ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25. Februar 1982, Serie A Band 48, S. 16, Rdnr. 36).

34. Gemäß seiner Satzung fördert der Beschwerdeführer die Lehren eines „neuen, wahren christlichen Glaubens“. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der Beschwerdeführer keine konkreten Konsequenzen für den Verein oder seine Mitglieder aufzeigte, welche deren Freiheit auf Bekennung ihrer Religion in irgendeiner Weise behindern könnten. Diesbezüglich hat er keinerlei substantiierte Informationen angeführt, die einen möglichen Eingriff in das in Artikel 9 Abs. 1 der Konvention verankerte Recht, seine Religion zu bekennen, erkennen ließen.

35. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 1 wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe teilweise unzulässig und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a teilweise offensichtlich unbegründet und muss nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückgewiesen werden.

C. Behauptete Verletzung von Artikel 13 der Konvention

36. Was die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 13 angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass Artikel 13 gemäß seiner Rechtsprechung nur anwendbar ist, wenn ein Beschwerdeführer vertretbar geltend machen kann, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein. Im Hinblick auf seine Schlussfolgerung nach den Artikel 8 und 9 der Konvention (siehe Rdnrn. 29 und 34), stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer keinen vertretbaren Anspruch geltend machen konnte. Artikel 13 ist daher auf seinen Fall nicht anwendbar (siehe, u.v.a., Banks u. a. ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 1387/05, 6. Februar 2007).

37. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a offensichtlich unbegründet und muss nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückgewiesen werden.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 10. Dezember 2015.

Claudia Westerdiek                                 Ganna Yudkivska
Kanzlerin                                                    Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

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