ERDTMANN gegen GERMANY (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 56328/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 56328/10
E.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 5. Januar 2016 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 29. September 2010 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, E., ist deutscher Staatsangehöriger und in M. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn E., Rechtsanwalt in H., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

2. Der Sachverhalt, wie er von dem Beschwerdeführer vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Der Hintergrund der Rechtssache

3. Der Beschwerdeführer ist Journalist. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York untersuchte er die Wirksamkeit der Sicherheitskontrollen an vier deutschen Flughäfen (München, Frankfurt am Main, Düsseldorf und Berlin) und erstellte eine kurze Fernsehdokumentation über seine Recherchen und Erkenntnisse. Die Sendung wurde von einem privaten Fernsehsender in Deutschland ausgestrahlt und später bei Schulungen von Sicherheitspersonal als Lehrfilm eingesetzt.

4. Mit vorheriger Billigung des Fernsehsenders begab sich der Beschwerdeführer zu den verschiedenen Flughäfen, passierte die verschiedenen Sicherheitsschleusen, bestieg vier verschiedene Flugzeuge und flog von einer Stadt zur nächsten. Der Beschwerdeführer führte die ganze Zeit ein Butterflymesser mit sich. Er bewahrte das mit Band umwickelte Messer in einem Brillenetui auf, das sich auf seiner Kamera in seiner Kameratasche befand, die er als Handgepäck auf den Flügen mitnahm. Mit versteckter Kamera gemachte Aufnahmen, auf denen seine Sicherheitskontrollen zu sehen waren, wurden in der Fernsehdokumentation gezeigt.

2. Das Strafverfahren

5. Nach der Ausstrahlung des Berichts am 11. Februar 2002 beschuldigte die Staatsanwaltschaft den Beschwerdeführer des Mitführens einer Waffe an Bord eines Luftfahrzeugs. Am 26. August 2002 bot die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer an, das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen Auflage einer Zahlung von 2000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung einzustellen. Der Beschwerdeführer lehnte das Angebot ab.

6. Am 1. Juli 2003 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Mitführens von Waffen nach den §§ 27 Abs. 4Nr.1 und 60 Abs. 1 Nr. 8 des Luftverkehrsgesetzes (siehe Rdnr. 10) zu einer Geldstrafe von 750 Euro (15 Tagessätze à 50 Euro). Es befand, dass die Verurteilung unabhängig von den „guten“ Absichten des Beschwerdeführers und der Tatsache sei, dass sein Bericht zu einer Verbesserung der Flughafensicherheit geführt habe, denn bei dem Straftatbestand des Mitführens einer Waffe komme es weder auf eine bestimmte Absicht des Täters noch darauf an, dass die Waffe zu einer bestimmten Gefahrenlage führe. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ergebe sich allein aus der Tatsache, dass eine Waffe an Bord eines Luftfahrzeugs ein abstraktes Risiko und eine erhöhte Gefahr für alle Fluggäste darstelle (abstraktes Gefährdungsdelikt). Das Amtsgericht stellte ferner fest, dass die Absicht des Beschwerdeführers, die Flughafensicherheit langfristig zu verbessern, seine Handlungen weder rechtfertige noch entschuldige. Darüber hinaus könnten seine Handlungen auch nicht durch die Pressefreiheit gerechtfertigt werden, weil die journalistische Freiheit kein Recht auf Gesetzesbruch beinhalte. Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Amtsgericht die altruistische Motivation des Beschwerdeführers sowie die Tatsache, dass er keine konkrete Gefahr verursacht habe.

7. Am 1. Dezember 2004 bestätige das Landgericht das Urteil im Wesentlichen, setzte die Geldstrafe jedoch aus. Folglich wurde der Beschwerdeführer schuldig gesprochen und unter Aussetzung der Geldstrafe von 750 Euro verwarnt (Verwarnung mit Strafvorbehalt). Das Landgericht führte aus, dass nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes ein Freispruch des Beschwerdeführers nicht in Betracht komme. Das Verfahren könne auch nicht eingestellt werden, da die Staatsanwaltschaft dies ablehne. Daher sei eine Verwarnung mit Strafvorbehalt die mildeste Sanktionsmöglichkeit. Das Landgericht stellte ferner fest, dass der Beschwerdeführer nicht dadurch entschuldigt sei, dass er sich in Bezug auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit geirrt habe, denn er habe ausreichend Gelegenheit gehabt, die möglichen strafrechtlichen Sanktionen für seine Handlungen in Erfahrung zu bringen. Ihm habe klar sein müssen, dass das Mitführen einer Waffe in einem Flugzeug gegen das Gesetz verstoße, zumal er zum Thema Sicherheitskontrollen an Flughäfen recherchiert habe. Folglich hätte er den Justiziar des privaten Fernsehsenders um Beistand bitten oder sich – möglicherweise anonym – an die Polizei oder die Flughafensicherheit wenden sollen. Das Landgericht befasste sich auch mit der Frage, ob die Handlungen des Beschwerdeführers gerechtfertigt waren, weil er ernsthafte Mängel bei den Sicherheitskontrollen aufdeckte. Es gelangte jedoch zu dem Schluss, dass es für die Zwecke seiner Recherchen ausreichend gewesen wäre, wenn er sich nach den Sicherheitskontrollen, jedoch vor Besteigen des Flugzeugs des Messers entledigt hätte. Somit sei die Begehung einer Straftat zwar aus journalistischer Sicht verständlich, aber nicht notwendig gewesen, um Sicherheitsmängel aufzudecken. Im Hinblick auf das Strafmaß berücksichtigte das Gericht zusätzlich die im Anschluss erfolgten Verbesserungen der Flughafensicherheit sowie die Tatsache, dass der Fernsehsender seine Handlungen gebilligt hatte.

8. Am 25. Oktober 2005 wurden die Revisionen des Beschwerdeführers und der Staatsanwaltschaft vom Oberlandesgericht im Wesentlichen verworfen. Das Oberlandesgericht wies auch die Vorstellung zurück, dass die Handlungen des Beschwerdeführers von der Pressefreiheit gedeckt seien. Es verwies insoweit auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. März 2004 (1 BvR 517/99), wonach rechtswidrige Maßnahmen zur Schaffung von Ereignissen, die Anlass für eine spätere Berichterstattung werden sollen, nicht durch die Pressefreiheit geschützt seien.

9. Am 22. März 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 2664/05).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

1. Luftverkehrsgesetz

10. § 27 Abs. 4 des Luftverkehrsgesetzes in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung enthielt ein allgemeines Verbot des Mitführens von Waffen und Munition an Bord eines Flugzeugs und in nicht allgemein zugänglichen Bereichen auf Flugplätzen. Das Bundesministerium des Inneren war ermächtigt, allgemein oder in Einzelfällen Ausnahmen festzulegen. Zu den bestehenden allgemeinen Ausnahmen gehörten u. a. Sicherheitspersonal, Zollbeamte, bestimmtes Flughafenpersonal und speziell für Praxistests zugelassene Personen.

Nach § 60 Abs. 1 des deutschen Luftverkehrsgesetzes werden vorsätzliche Verstöße gegen § 27 Abs. 4 mit einer Geldstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.

2. Waffengesetz

11. Nach § 1 Abs. 7 des Waffengesetzes in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung waren als Hieb- und Stoßwaffen als Waffen definiert, die ihrer Natur nach dazu bestimmt sind, unter unmittelbarer Ausnutzung der Muskelkraft durch Hieb, Stoß oder Stich Verletzungen beizubringen. Daher sah der Bundesgerichtshof Butterflymesser als Hieb- oder Stoßwaffen an (3 StR 430/04).

3. Strafgesetzbuch

12. § 59 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung lautet wie folgt:

Voraussetzungen der Verwarnung mit Strafvorbehalt

(1) Hat jemand Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen verwirkt, so kann das Gericht ihn neben dem Schuldspruch verwarnen, die Strafe bestimmen und die Verurteilung zu dieser Strafe vorbehalten, wenn

1. zu erwarten ist, dass der Täter künftig auch ohne Verurteilung zu Strafe keine Straftaten mehr begehen wird,

2. eine Gesamtwürdigung der Tat und der Persönlichkeit des Täters besondere Umstände ergibt, nach denen es angezeigt ist, ihn von der Verurteilung zu Strafe zu verschonen, und

3. die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zu Strafe nicht gebietet.

In einem Urteil vom 14. Oktober 2003 (3 StR 316/03) bezeichnete der Bundesgerichtshof die Verwarnung mit Strafvorbehalt als die mildeste Sanktionsmöglichkeit des Strafgesetzbuches.

RÜGE

13. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 10 der Konvention seine Verurteilung wegen seiner Handlungen im Zusammenhang mit seinen Recherchen und der Erstellung einer Fernsehdokumentation.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

14. Der Beschwerdeführer rügte, dass durch seine Verurteilung seine journalistische Freiheit, die Bestandteil des Rechts auf freie Meinungsäußerung sei, verletzt werde. Er berief sich auf Artikel 10 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

Artikel 10

„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe […] zu empfangen und weiterzugeben.

2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit […] oder die öffentliche Sicherheit […], zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, […], zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, […].“

15. Der Beschwerdeführer trug vor, dass seine Verurteilung einen Eingriff darstelle, der nicht nach Artikel 10 der Konvention gerechtfertigt sei. Er sei weder aufgrund eines dringenden sozialen Bedürfnisses notwendig noch sei er verhältnismäßig, denn der Beschwerdeführer habe durch die Ausstrahlung der Sendung die Flughafensicherheit verbessert und nicht die Sicherheit gefährdet. Ferner habe zu keinem Zeitpunkt eine konkrete Gefahr für die Fluggäste der vier Flugzeuge bestanden, weil das Messer sicher verstaut gewesen sei.

16. Hinsichtlich der Frage, ob es einen „Eingriff“ gegeben hat, merkt der Gerichtshof an, dass weder der Beschwerdeführer noch der Fernsehsender an der Erstellung oder Ausstrahlung der Fernsehsendung gehindert waren und dass die Verurteilung des Beschwerdeführers die Ausstrahlung der Sendung als solche nicht betraf. Der Beschwerdeführer wurde des Mitführens einer Waffe an Bord eines Luftfahrzeugs schuldig gesprochen. Dennoch ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers eine Folge seines Handelns als Fernsehreporter war und daher als Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung angesehen werden kann (vgl. Pentikäinen ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11882/10, Rdnr. 83, 20. Oktober 2015).

17. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Verurteilung „gesetzlich vorgesehen“ war und dass die §§ 27 Abs. 4 und 60 Abs. 1 Nr. 8 des deutschen Luftfahrtgesetzes die legitimen Ziele der nationalen und öffentlichen Sicherheit verfolgen. Er befindet, dass die Sicherheit von Fluggästen und die Sicherheit des Luftverkehrs wichtige Ziele sind und ein allgemeines Verbot von Waffen an Bord von Flugzeugen eine berechtigte Maßnahme darstellt, um diese zu erreichen.

18. Im Wesentlichen ist also darüber zu entscheiden, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich dieser Frage, die in der Rechtsprechung des Gerichtshof fest etabliert sind, wurden in der Rechtssache Stoll ./. Schweiz [GK] (Individualbeschwerde Nr. 69698/01, Rdnr. 101, ECHR 2007‑V) zusammengefasst und zuletzt in der Rechtssache Pentikäinen ./. Finnland [GK] (a. a. O., Rdnr. 87) wiederholt:

„(i) Die Freiheit der Meinungsäußerung stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen dar. Vorbehaltlich Artikel 10 Abs. 2 gilt sie nicht nur für „Informationen“ oder „Ideen“, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch für solche, die beleidigen, schockieren oder verstören. Dies sind die Erfordernisse des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist. Diese Freiheit unterliegt den in Artikel 10 aufgeführten Ausnahmen, […] die jedoch eng auszulegen sind, und die Notwendigkeit einer Einschränkung muss überzeugend nachgewiesen werden […].

(ii) Das Adjektiv „notwendig“ im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 impliziert das Bestehen eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen Überwachung, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, in denen die Gesetzgebung angewendet wird, auch wenn sie von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Der Gerichtshof ist daher befugt, abschließend darüber zu entscheiden, ob eine „Einschränkung“ mit der durch Artikel 10 geschützten Freiheit der Meinungsäußerung in Einklang zu bringen ist.

(iii) Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, bei seiner Überwachung an die Stelle der zuständigen Behörden zu treten; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Das heißt nicht, dass sich die Überwachung darauf beschränkt, ob der beschwerdegegnerische Staat seinen Beurteilungsspielraum angemessen, sorgfältig und in gutem Glauben ausgeübt hat; […] der Gerichtshof muss sich davon überzeugen, dass die von den Behörden angewendeten Regeln mit den in Artikel 10 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind und dass die Behörden die erheblichen Tatsachen nachvollziehbar bewertet haben. […]“

19. Der Gerichtshof weist ferner erneut auf die wesentliche Rolle der Presse in einer demokratischen Gesellschaft hin. Die Presse darf zwar gewisse Grenzen nicht überschreiten, ihre Aufgabe ist es jedoch, unter Beachtung ihrer Pflichten und Verantwortlichkeiten Informationen und Ideen über alle Fragen von allgemeinem Interesse mitzuteilen. Zu ihrer Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu verbreiten, kommt das Recht der Öffentlichkeit hinzu, sie zu empfangen. Andernfalls könnte die Presse ihre unabdingbare öffentliche Wächterrolle („public watchdog“) nicht spielen (S. AG ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 79, 7. Februar 2012).

20. Der Gerichtshof weist zudem erneut darauf hin, dass der Schutz, der Journalisten durch Artikel 10 der Konvention gewährt wird, dem Vorbehalt unterliegt, dass sie in gutem Glauben handeln, um in Einklang mit den Prinzipien eines verantwortungsbewussten Journalismus zutreffende und verlässliche Informationen zu liefern. Der Begriff des verantwortungsbewussten Journalismus als eine in den Schutzbereich des Artikels 10 der Konvention fallende Berufstätigkeit ist nicht auf die Inhalte der Informationen beschränkt, die mit journalistischen Mitteln gesammelt und/oder verbreitet werden. Zu diesem Begriff gehört u. a. auch die Rechtmäßigkeit des Handelns eines Journalisten, was auch – und dies ist für die vorliegende Rechtssache von Belang – die öffentliche Interaktion des Journalisten mit den Behörden bei der Ausübung journalistischer Funktionen einschließt. Die Tatsache, dass ein Journalist insoweit gegen das Gesetz verstoßen hat, ist eine überaus erhebliche, wenn auch nicht entscheidende Erwägung bei der Entscheidung darüber, ob er verantwortungsbewusst gehandelt hat. Journalisten, die ihre Freiheit der Meinungsäußerung ausüben, übernehmen „Pflichten und Verantwortung“. Es wird in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Artikel 10 Abs. 2 keine gänzlich unbeschränkte Freiheit der Meinungsäußerung gewährleistet, auch nicht im Hinblick auf die Medienberichterstattung über Angelegenheiten, die von ernsthaftem öffentlichem Interesse sind. Insbesondere – und ungeachtet der wesentlichen Rolle der Medien in einer demokratischen Gesellschaft – können Journalisten grundsätzlich nicht mit der Begründung von ihrer Pflicht zur Einhaltung des allgemeinen Strafrechts entbunden werden, dass Artikel 10 ihnen als Journalisten einen absoluten Schutz bietet. Mit anderen Worten, ein Journalist kann nicht allein deshalb eine exklusive Immunität vor strafrechtlicher Verantwortung beanspruchen, weil er die betreffende Straftat anders als andere Personen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen, in Ausübung seiner journalistischen Funktionen begangen hat (siehe Pentikäinen, a. a. O., Rdnrn. 90, 91, mit weiteren Nachweisen).

21. Bei der Beurteilung, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers notwendig war, wird der Gerichtshof berücksichtigen, dass die in der vorliegenden Rechtssache abzuwägenden Interessen beide öffentlicher Natur sind, nämlich die Sicherheit der Luftfahrt und das Interesse der Öffentlichkeit, Informationen zu einer Frage von allgemeinem Interesse zu erhalten. Er wird die Verurteilung des Beschwerdeführers prüfen, um zu entscheiden, ob der angefochtene Eingriff insgesamt auf zutreffende und ausreichende Gründe gestützt wurde und in Bezug auf die rechtmäßig verfolgten Ziele verhältnismäßig war (siehe Pentikäinen, a. a. O., Rdnr. 94).

22. Im Hinblick auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof eingangs fest, dass sich die Verurteilung des Beschwerdeführers nicht auf die Ausstrahlung des Berichts oder das Filmen der Sicherheitskontrollen mit versteckter Kamera und somit nicht auf seine journalistische Tätigkeit an sich bezog (siehe Pentikäinen, a. a. O., Rdnr. 93). Ferner beruhte die Verurteilung des Beschwerdeführers nicht auf Beschränkungen, die speziell für die Presse galten, und er wurde auch nicht wegen Überschreitens seiner journalistischen Pflichten und Verantwortung mit einer Geldstrafe belegt. Der Beschwerdeführer wurde aufgrund eines allgemeinen Verbots, das Teil des allgemeinen Strafrechts war, des Mitführens einer Waffe an Bord eines Luftfahrzeugs schuldig gesprochen. Angesichts der Gefährlichkeit von Waffen kam es bei dieser Straftat nicht darauf an, ob eine Absicht vorlag, die Waffe zu gebrauchen, oder ob die mitgeführte Waffe zu einer konkreten Gefahr an Bord des Flugzeugs führte.

23. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Rolle des Beschwerdeführers als Journalist, seine journalistische Freiheit und seinen Schutz durch das Recht auf freie Meinungsäußerung berücksichtigten. Die Gerichte befanden jedoch, dass diese Elemente die Handlungen des Beschwerdeführers nicht rechtfertigen oder entschuldigen könnten. Das Landgericht war insbesondere der Auffassung, dass der Beschwerdeführer die Sicherheitsmängel an dem Flughafen hatte aufdecken können, ohne eine Straftat zu begehen, etwa durch einen Rücktritt von der versuchten Straftat, indem er sich des Messers nach den Sicherheitsschleusen entledigt hätte.

24. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht es als erwiesen ansah, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner vorangegangenen Recherchen zu Sicherheitskontrollen an Flughäfen und einer etwaigen Befragung eines Juristen gewusst haben musste oder könnte, dass seine Handlungen gegen das allgemeine Strafrecht verstießen.

25. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Art und Schwere der verhängten Strafe bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu berücksichtigen sind (Stoll, a. a. O., Rdnr. 153). Insoweit nimmt er zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Strafzumessung berücksichtigten, dass der Bericht des Beschwerdeführers tatsächlich zu einer Verbesserung der Flughafensicherheit geführt hatte, dass er ein Fernsehjournalist war, der über eine Frage von allgemeinem öffentlichen Interesse berichtete, und dass das Messer sicher verstaut war und zu keiner konkreten Gefahr für die anderen Fluggäste geführt hatte.Folglich wurde der Beschwerdeführer zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt, die das Landgericht in eine Verwarnung mit Strafvorbehalt, der mildesten Sanktionsmöglichkeit des innerstaatlichen Strafrechts, umwandelte, wohingegen die Höchststrafe bei zwei Jahren Freiheitsstrafe lag.

26. Unter diesem Umständen ist der Gerichtshof überzeugt, dass diese Sanktion die Presse nicht davon abhalten würde, zu einem bestimmten Thema zu recherchieren oder eine Meinung zu Themen der öffentlichen Debatte zu äußern (Stoll, a. a. O., Rdnr. 154, mit weiteren Nachweisen; Haldimann u. a. ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 21830/09, Rdnr. 67, 24. Februar 2015).

27. Angesichts der vorgenannten Faktoren sieht der Gerichtshof die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Mitführens einer Waffe an Bord eines Luftfahrzeugs nicht als unverhältnismäßig und damit nicht als eine ungerechtfertigte Einschränkung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung an. Dementsprechend ist nicht ersichtlich, dass Artikel 10 der Konvention verletzt wurde.

28. Folglich ist diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof mit Stimmenmehrheit:

Die Individualbeschwerde wird für unzulässig erklärt.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 28. Januar 2016.

Claudia Westerdiek                              Ganna Yudkivska
Kanzlerin                                                  Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

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