RECHTSSACHE SCHATSCHASCHWILI GEGEN DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Beschwerde Nr. 9154/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
GROSSE KAMMER
RECHTSSACHE S. GEGEN DEUTSCHLAND
(Beschwerde Nr. 9154/10)
URTEIL
STRASSBURG
15. Dezember 2015

Dieses Urteil ist endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache S. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der als Große Kammer zusammengetreten ist, die sich aus folgenden Richtern und Richterinnen zusammensetzt:

Dean Spielmann, Präsident,
Işıl Karakaş,
András Sajó,
Luis López Guerra,
Päivi Hirvelä,
Khanlar Hajiyev,
Dragoljub Popović,
Nona Tsotsoria,
Kristina Pardalos,
Angelika Nußberger,
Julia Laffranque,
Helen Keller,
André Potocki,
Paul Mahoney,
Valeriu Griţco,
Egidijus Kūris,
Jon Fridrik Kjølbro,
und von Lawrence Early, Jurisconsult,

nach Beratung in nichtöffentlicher Sitzung am 4. März und am 8. Oktober 2015,

das folgende Urteil erlassen, das am letztgenannten Tag angenommen worden ist:

VERFAHREN

1. Dem Fall liegt eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Beschwerde (Nr. 9154/10) zugrunde, die der georgische Staatsangehörige S. („der Beschwerdeführer“) beim Gerichtshof aufgrund des Artikels 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) am 12. Februar 2010 erhoben hat.

2. Mit Scheiben vom 29. Dezember 2013 hat der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers den Gerichtshof darauf hingewiesen, dass sein Mandant ihn davon unterrichtet habe, dass er in Wahrheit X. heißt. Der Gerichtshof hat die Parteien am 14. Januar 2014 davon in Kenntnis gesetzt, dass er die Rechtssache weiterhin unter dem Namen „S. ./. Deutschland“führen werde, da dies der Name des Beschwerdeführers sei, so wie er in dem innerstaatlichen Gerichtsverfahren sowie in seiner Beschwerde vor dem Gerichtshof verwendet worden sei.

3. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe gewährt worden ist, ist von Herrn M., Rechtsanwalt in B., vertreten worden. Die deutsche Regierung („die Regierung“) ist von ihren Verfahrensbevollmächtigten, Frau A. Wittling-Vogel, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten worden.

4. Unter Berufung auf Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention rügte der Beschwerdeführer insbesondere, nicht in den Genuss eines faires Verfahrens gelangt zu sein, weil weder er noch sein Verteidiger in irgendeinem Stadium des gegen ihn geführten Strafverfahrens wegen einer Straftat, die er laut Anklage im Februar 2007 in Göttingen begangen haben soll, die Möglichkeit hatten, die Geschädigten, -zugleich die einzigen unmittelbaren Zeugen der Straftat – zu befragen, auf deren Aussagen sich seine Verurteilung durch das Landgericht Göttingen gründe.

5. Die Beschwerde ist der Fünften Sektion des Gerichtshofs zugewiesen worden (Artikel 52 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, – die „Verfahrensordnung“). Die Beschwerde ist der Regierung am 15. Januar 2013 übermittelt worden. Am 17. April 2014 hat eine Kammer dieser Sektion, zusammengesetzt aus dem Präsidenten Mark Villiger, Angelika Nußberger, Boštjan M. Zupančič, Ann Power-Forde, Ganna Yudkivska,Helena Jäderblom und Aleš Pejchal, Richterinnen und Richter, und der Sektionskanzlerin Claudia Westerdiek ein Urteil erlassen und die Beschwerde einstimmig für teilweise zulässig erklärt und mit fünf zu zwei Stimmen gefolgert, dass keine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention vorliegt.

6. Am 15. Juli 2014 hat der Beschwerdeführer auf der Grundlage von Artikel 43 der Konvention und Artikel 73 der Verfahrensordnung die Verweisung der Sache an die Große Kammer beantragt. Der Ausschuss der Großen Kammer hat den Antrag am 8. September 2014 angenommen.

7. Die Zusammensetzung der Großen Kammer ist gemäß Artikel 26 Absätze 4 und 5 der Konvention und Artikel 24 der Verfahrensordnung beschlossen worden. Bei den abschließenden Beratungen haben Jon Fridrik Kjølbro und András Sajó, Ersatzrichter, die verhinderten Richter Josep Casadevall und Isabelle Berro vertreten (Artikel 24 Absatz 3 der Verfahrensordnung).

8. Sowohl der Beschwerdeführer als auch die Regierung haben schriftliche Stellungnahmen zur Begründetheit der Rechtssache vorgelegt (Artikel 59 Absatz 1 der Verfahrensordnung). Stellungnahmen sind im Übrigen von der tschechischen Regierung vorgelegt worden, die der Präsident am 3. November 2014 ermächtigt hat, am schriftlichen Verfahren teilzunehmen (Artikel 36 Absatz 2 der Konvention und Artikel 44 Absatz 3 der Verfahrensordnung).

9. Die georgische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung am Verfahren unterrichtet worden war (Artikel 36 Absatz 1 der Konvention und Artikel 44 Absätze 1 und 4 der Verfahrensordnung), hat kein Interesse daran bekundet, davon Gebrauch zu machen.

10. Am 4. März 2015 fand eine öffentliche mündliche Verhandlung im Menschenrechtspalast in Straßburg statt (Artikel 59 Absatz 3 der Verfahrensordnung).

Es sind erschienen:

– für die beschwerdegegnerische Regierung
HerrH.-J. Behrens, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Verfahrensbevollmächtigter,
Herr H. S., Professor für Strafrecht an der Universität München
Herr F.Z., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität München,
Herr H.P., Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz,
Herr C.T., Richter, Niedersächsisches Justizministerium , Rechtsberater

– für den Beschwerdeführer
HerrH. M., Rechtsanwalt,Rechtsbeistand,
Herr A. R., Rechtsanwalt,
Herr J. L., Rechtsanwalt,Rechtsberater.

Der Gerichtshof hat die Erklärungen von Herrn M. und Herrn Behrens sowie ihre Antworten auf die ihnen gestellten Fragen angehört.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES

11. Der Beschwerdeführer ist 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Erhebung seiner Beschwerde befand er sich in der Justizvollzugsanstalt R. (Deutschland) in Haft. Er ist gegenwärtig in K. (Georgien) wohnhaft.

A. Die Geschehnisse in Kassel und Göttingen entsprechend der Würdigung durchdie deutschen Gerichte

1. Die in Kassel begangene Straftat

12. Am Abend des 14. Oktober 2006 verübten der Beschwerdeführer und ein weiterer nicht ermittelter Mittäter einen Raub in der Wohnung von L. und I., zwei Frauen mit litauischer Staatsangehörigkeit, in Kassel.

13. Den beiden Männern war bekannt, dass die Wohnung zur Prostitution genutzt wurde, und sie gingen davon aus, dass die beiden Bewohnerinnen dort Wertgegenstände und Bargeld aufbewahrten. Sie suchten die Wohnung am frühen Abend auf, um sicherzugehen, dass dort kein Freier oder Zuhälter anwesend ist. Sie kamen kurze Zeit später zurück und überwältigten L, die ihnen die Tür geöffnet hat, nachdem sie geklingelt hatten. Sie richteten eine Gaspistole, die wie eine echte Schusswaffe ausgesehen hat, auf die beiden Frauen, wobei der Beschwerdeführer ihnen drohte, sie zu töten, wenn sie nicht verrieten, wo sie ihr Geld versteckt halten. Während sein Mittäter die beiden Frauen bewachte, sammelte der Beschwerdeführer ca. 1.100 Euro (EUR) sowie sechs Mobiltelefone ein, die er entweder in der Wohnung fand oder die ihm die beiden Frauen unter Drohung herausgegeben haben.

2. Die in Göttingen begangene Straftat

14. Am 3. Februar 2007 drang der Beschwerdeführer gemeinsam mit mehreren Mittätern in die Wohnung von O. und P., zwei Frauen mit lettischer Staatsangehörigkeit, ein, die sich vorübergehend in Deutschland aufhielten und der Prostitution nachgingen.

15. Am Abend vorher hatte einer der beiden Mitangeklagten des Beschwerdeführers zusammen mit dem Mittäter R., einem Bekannten von O. und P., deren Wohnung aufgesucht, um nachzusehen, ob die beiden Frauen die einzigen Bewohnerinnen waren und ob sich dort Wertgegenstände befanden. Die beiden Männer hatten in der Küche einen Tresor ausfindig gemacht.

16. Am 3. Februar 2007 gelang es dem Beschwerdeführer und einem weiteren Mittäter B. gegen 20.00 Uhr in die Wohnung von O. und P. zu gelangen, indem sie sich als potenzielle Freier ausgaben, während einer ihrer Mitangeklagten in einem Fahrzeug wartete, das in der Nähe des Gebäudes abgestellt war, in dem sich die Wohnung befand, und ein weiterer Mitangeklagter vor dem Haus Stellung bezogen hatte. In der Wohnung holte B. ein Messer hervor, das er in seinem Mantel versteckt hatte. Um den beiden Männern zu entkommen, sprang P. von dem ca. 2 m hohen Balkon und flüchtete. Der Beschwerdeführer nahm ihre Verfolgung auf, gab aber nach einigen Minuten auf, weil sich Passanten auf der Straße befanden. Er rief daraufhin den Mitangeklagten auf seinem Mobiltelefon an, der vor der Wohnung wartete, und unterrichtete diesen davon, dass eine der beiden Frauen vom Balkon gesprungen und es ihm nicht gelungen sei, sie einzuholen. Die beiden Männer verabredeten einen Treffpunkt, an dem die Mitangeklagten den Beschwerdeführer mit dem Fahrzeug abholen sollten, nachdem B. die Wohnung verlassen und sich mit ihnen getroffen hatte.

17. In der Wohnung drohte inzwischen B., nachdem er O. überwältigt hatte, diese mit dem Messer zu töten, wenn sie ihm nicht sage, wo die beiden Frauen ihre Geld versteckt halten oder sie sich weigern sollte, den Tresor zu öffnen. Aus Angst um ihr Leben öffnete O. den Tresor, aus dem B. 300 EUR nahm, und übergab ihm auch den Inhalt ihrer Brieftasche, d.h. 250 EUR. B. verließ die Wohnung gegen 20.30 Uhr, er nahm das Geld und das Mobiltelefon von P. sowie das Festnetztelefon der Wohnung mit und traf sich mit dem anderen Mitangeklagten. Die beiden Männer holten danach den Beschwerdeführer am vereinbarten Treffpunkt mit ihrem Fahrzeug ab. Gegen 21.30 Uhr kehrte P. zu O. in die Wohnung zurück.

18. Am nächsten Morgen berichteten O. und P. ihrer Nachbarin E. von dem Vorfall. Weil sie Angst hatten, verließen sie danach ihre Wohnung in Göttingen und blieben mehrere Tage bei ihrer Freundin L., einem der Opfer der in Kassel begangenen Straftat, der sie den Angriff am Tag nach dem Vorfall eingehend geschildert hatten.

B. Das Ermittlungsverfahren in Bezug auf die Geschehnisse von Göttingen

19. Am 12. Februar 2007 unterrichtete L. die Polizei von der Straftat, deren Opfer O. und P. in Göttingen geworden waren. Im Zeitraum vom 15. bis 18. Februar 2007 wurden diese mehrfach von der Polizei zu den Geschehnissen vom 2. und 3. Februar 2007 vernommen. Im Zuge dieser Vernehmungen schilderten sie den Tathergang in der vorstehend dargelegten Weise. Nachdem die Polizeibeamten die Papiere der beiden Frauen überprüft hatten, stellten sie fest, dass sie in Einklang mit dem deutschen Einwanderungs- und Gewerberecht wohnhaft und berufstätig waren.

20. Nachdem die beiden Zeuginnen bei den polizeilichen Vernehmungen mitgeteilt hatten, dass sie in den folgenden Tagen nach Lettland zurückkehren wollten, ersuchte die Staatsanwaltschaft den Ermittlungsrichter am 19. Februar 2007 darum, die Zeuginnen zu vernehmen, um „eine im späteren Hauptverfahren verwertbare wahrheitsgemäße Aussage“ zu erlangen.

21. Infolgedessen wurden O. und P. am 19. Februar 2007 von einem Ermittlungsrichter vernommen und schilderten den Tathergang erneut wie im Vorstehenden dargelegt. Zu dem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer noch nicht über das gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren informiert worden, um die Untersuchung nicht zu gefährden. Es war noch kein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden und er war nicht anwaltlich vertreten. Gemäß § 168c der Strafprozessordnung (Randnummer 56) beschloss der Ermittlungsrichter, den Beschwerdeführer von der Vernehmung von O. und P. auszuschließen, da er befürchtete, dass diese, die ihm durch den Vorfall erheblich schockiert und verängstigt vorkamen, in Gegenwart des Täters aus Angst nicht die Wahrheit sagen würden. Bei dieser Vernehmung bekräftigten die beiden Frauen ihre Absicht, so bald wie möglich nach Lettland zurückzukehren.

22. O. und P. kehrten kurz nach der Vernehmung nach Lettland zurück. Am 6. März 2007 wurde der Beschwerdeführer festgenommen.

C. Das Verfahren vor dem Landgericht Göttingen

1. Die Bemühungen des Landgerichts zwecks Vernehmung von O. und P. und die Zulassung ihrer vor der Hauptverhandlung gemachten Aussagen

23. Das Landgericht lud O. und P. mit Einschreiben für die auf den 24. August 2007 anberaumte Verhandlung. Die beiden Frauen weigerten sich jedoch, an der Verhandlung des Landgerichts teilzunehmen, wobei sie ärztliche Atteste vom 9. August 2007 vorlegten, in denen ihnen posttraumatische emotionale und psychische Labilität bescheinigt wurde.

24. Infolgedessen unterrichtete das Landgericht O. und P. am 29. August 2007 mit Einschreiben davon, dass das Gericht zwar nicht in der Lage sei, sie zum Erscheinen zu einer Verhandlung in Deutschland zu zwingen, aber den Wunsch habe, sie als Zeugen im Verfahren anzuhören. Es sicherte den beiden Frauen zu, dass sie in Deutschland Schutz genießen und dass alle Kosten erstattet würden, die ihnen zwecks Teilnahme an der Verhandlung entstehen würden. Es schlug mehrere Lösungen vor und bat sie mitzuteilen, unter welchen Bedingungen sie bereit seien, in der Verhandlung als Zeugen auszusagen. Obgleich Empfangsbekenntnisse für beide Schreiben eingingen, blieb eine Antwort von P. aus.O. hingegen unterrichtete das Landgericht schriftlich davon, sie sei durch die Tat immer noch traumatisiert und würde infolgedessen nicht zustimmen, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen oder per Videoübertragung vernommen zu werden. Sie gab ferner an, dass sie ihren im Februar 2007 gemachten Aussagen bei der Polizei und vor dem Ermittlungsrichter nichts mehr hinzuzufügen habe.

25. Das Landgericht entschied dennoch, die lettischen Behörden gemäß dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 entsprechend seiner Ergänzung durch das Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Randnummern 64-66) um Rechtshilfe zu ersuchen. Es vertrat die Ansicht, dass O. und P. nach lettischem Recht verpflichtet seien, aufgrund eines Rechtshilfeersuchens vor einem Gericht in Lettland zu erscheinen. Es ersuchte darum, die beiden Frauen vor ein lettisches Gericht zu laden und eine audiovisuelle Übertragung zu erwirken, damit der Präsident des Landgerichts eine audiovisuelle Vernehmung vornehmen könne. Unter Bezugnahme auf Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention war es der Ansicht, dass der Verteidiger und der Angeklagte ähnlich wie die Richter und Staatsanwälte das Recht haben sollten, erstmalsFragen an die Zeuginnen zu stellen.

26. Allerdings wurde die Vernehmung von O. und P., die vom zuständigen lettischen Gericht auf den 13. Februar 2008 terminiert worden war, vom Vorsitzenden Richter des lettischen Gerichts kurz zuvor abgesagt, der die Auffassung vertreten hat, dass die beiden Frauen unter erneuter Vorlage ärztlicher Atteste nachgewiesen hatten, dass sie infolge der Geschehnisse von Göttingen immer noch unter posttraumatischen Störungen litten und dass eine Auseinandersetzung mit diesen Geschehnissen ihren Zustand verschlimmern könnte. Nach Ansicht des lettischen Richters hatte O. außerdem erklärt, dass sie von den Angeklagten bedroht worden sei und deshalb einen Racheakt befürchte.

27. Mit Schreiben vom 21. Februar 2008 teilte das Landgericht, das auf Ersuchen Kopien der ärztlichen Atteste erhalten hatte, die dem lettischen Gericht von den Zeuginnen vorgelegt worden sind, dem lettischen Gericht mit, dass die von den beiden Frauen vorgebrachten Gründe nach den Maßstäben der deutschen Strafprozessordnung nicht ausreichend wären, um deren Aussageverweigerung zu rechtfertigen. Das Landgericht regte an, die zuständige lettische Richterin möge die Zeuginnen von einem Amtsarzt untersuchen lassen oder hilfsweise die zwangsweise Durchsetzung ihres Erscheinens veranlassen. Dieses Schreiben blieb unbeantwortet.

28. Mit Beschluss vom 21. Februar 2008 wies das Landgericht den vom Verteidiger eines Mitangeklagten des Beschwerdeführers erhobenen Widerspruch gegen die Einführung der von den Zeuginnen im Vorfeld des Verfahrens gemachten Aussagen zurück und ordnete an, dass die Niederschriften der polizeilichen und ermittlungsrichterlichen Befragungen von O. und P. in der Hauptverhandlung gemäß § 251 Absatz 1 Ziffer 2 und Absatz 2 Ziffer 1 der deutschen Strafprozessordnung verlesen werden (Randnummer 61). Es war der Ansicht, dass nicht zu beseitigende Hindernisse im Sinne dieser Bestimmung vorlägen, so dass die Vernehmung dieser Zeuginnen in absehbarer Zeit verhindert würde, weil sie nicht erreichbar seien. Es führte aus, dass es nicht möglich war, O. und P. im Lauf des Verfahrens anzuhören, weil sie kurz nach ihrer Vernehmung im Ermittlungsstadium in ihre Heimat nach Lettland zurückgekehrt sind, und dass alle Versuche, sie in der Hauptverhandlung anzuhören, sich als erfolglos erwiesen hatten und das Landgericht nicht in der Lage war, ihre Teilnahme daran zu erzwingen. Angesichts dessen, dass die Gerichte verpflichtet seien, Verfahren in Haftsachen beschleunigt zu behandeln, und angesichts der Tatsache, dass die Angeklagten sich schon seit geraumer Zeit in Haft befanden, folgerte das Landgericht, dass eine weitere Verzögerung des Verfahrens nicht gerechtfertigt sei.

29. Das Landgericht betonte, dass im Ermittlungsstadium keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass O. und P., die mehrfach bei der Polizei und später vor dem Ermittlungsrichter ausgesagt hätten, sich weigern würden, ihre Aussagen in einem späteren Verfahren zu wiederholen. Es befand, dass es trotz der Nachteile, die sich für die Verteidigung dadurch ergaben, dass die Aussagen von O. und P. zugelassen wurden, möglich war, das Verfahren insgesamt fair und in Einklang mit den Erfordernissen des Artikels 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention zu führen.

2. Das Urteil des Landgerichts

30. Mit Urteil vom 25. April 2008 verurteilte das Landgericht Göttingen den Beschwerdeführer, der während des Verfahrens von einem Rechtsanwalt vertreten worden war, angesichts des vom Landgericht festgestellten und vorstehend dargelegten Sachverhalts wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen, begangen am 14. Oktober 2006 in Kassel beziehungsweise am 3. Februar 2007 in Göttingen, zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten.

a) Die Würdigung der verfügbaren Beweismittel hinsichtlich der in Kassel begangenen Straftat

31. Das Landgericht gründete seine Feststellungen im Hinblick auf die erste vom Beschwerdeführer in Kassel begangene Straftat auf die von den Geschädigten L. und I. im Verlauf der Verhandlung gemachten Aussagen, die den Täter ohne jedes Zögern identifiziert hatten. Das Landgericht hob ferner hervor, dass die Angaben der beiden Frauen von den Aussagen der Polizeibeamten in der Verhandlung gestützt würden, die am Tatort gewesen waren und L. und I. im Rahmen des Ermittlungsverfahrens vernommen hatten. Nach Ansicht des Landgerichts widerlegten diese Aspekte die Behauptungen des Beschwerdeführers, der zunächst seine Unschuld beteuert und dann zugegeben hatte, die Wohnung von L. und I. zwar betreten, aber nur den Betrag von 750 EUR zu Lasten der beiden Frauen gestohlen zu haben, nachdem er sich mit diesen gestritten hatte.

b) Die Würdigung der verfügbaren Beweismittel hinsichtlich der in Göttingen begangenen Straftat

(i) Die Aussagen von O. und P.

32. Im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung betreffend die in Göttingen begangene Straftat stützte sich das Landgericht insbesondere auf die Aussagen, die vor der Verhandlung im Rahmen der polizeilichen Vernehmung und vor dem Ermittlungsrichter von den Geschädigten O. und P. gemacht wurden, die das Gericht als „maßgebliche Belastungszeuginnen“ einstufte.

33. In seinem etwa 152 Seiten umfassenden Urteil erklärte das Landgericht, dass es sich des eingeschränkten Beweiswerts der Niederschriften von O.s und P.s Aussagen im Vorfeld der Verhandlung bewusst sei. Es hob ferner hervor, dass es die Tatsache berücksichtigt hatte, dass weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit gehabt hatten, die einzigen unmittelbaren Zeuginnen der Geschehnisse in Göttingen zu befragen.

34. Das Landgericht war der Ansicht, die Niederschriften der Vernehmungen von O. und P. im Ermittlungsverfahren zeigten, dass diese die Tatumstände detailreich und schlüssig geschildert hatten. Kleinere Widersprüche in den Aussagen der beiden Frauen seien durch ihre Besorgnis zu erklären, ihren Aufenthalt und ihre Tätigkeit gegenüber den Behörden nicht bekannt werden zu lassen sowie dadurch, dass sie während des Vorfalls und danach unter psychischer Belastung gestanden hätten. Nach Ansicht des Gerichts befürchteten die beiden Frauen Probleme mit der Polizei und Racheakte derTäter, was erkläre, warum sie nicht sofort nach den Geschehnissen Anzeige erstattet hatten und warum die Polizei erst am 12. Februar 2007 von ihrer Freundin L. über die Tat informiert worden sei.

35. Im Hinblick darauf, dass O. und P. den Beschwerdeführer nicht wiedererkannten, als ihnen bei der polizeilichen Befragung mehrere Lichtbilder möglicher Tatverdächtiger vorgelegt wurden, stellte das Gericht fest, dass die Aufmerksamkeit der Zeuginnen während des Vorfalls auf den weiteren Täter mit dem Messer gerichtet gewesen sei und dass dieser sich nur kurz in der Wohnung aufgehalten habe. Dass die beiden Frauen den Beschwerdeführer nicht erkannten, zeigte nach Auffassung des Gerichts auch, dass die Zeuginnen im Gegensatz zum Vorbringen der Verteidigung mit ihrer Aussage nicht darauf abzielten, den Betroffenen zu belasten. Das Gericht fügte hinzu, dass die Weigerung der beiden Frauen, vor Gericht zu erscheinen, sich durch ihr Unbehagen bei der Vorstellung erklären lasse, sich die Ereignisse wieder in Erinnerung rufen zu müssen und hierzu befragt zu werden, und ihre Glaubwürdigkeit daher nicht erschüttere.

(ii) Die anderen verfügbaren Beweismittel

36. Bei der Beweiswürdigung berücksichtigte das Landgericht außerdem die folgenden Beweismittel: die in der Hauptverhandlung gemachten Aussagen mehrerer Zeugen, denen O. und P. von dem Vorfall kurz danach berichtet hatten, d.h. der Nachbarin der beiden Frauen E. und der befreundeten L. sowie die Polizeibeamten und der Untersuchungsrichter, die O. und P. vor der Verhandlung vernommen hatten; geographische Angaben und Informationen, die mittels Überwachung der Mobiltelefone des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten und mittels eines GPS-Empfangsgeräts, das am Fahrzeug eines Mitangeklagten angebracht worden war, erlangt wurden; das Geständnis des Beschwerdeführers während der Hauptverhandlung, wonach er sich zur Tatzeit in der Wohnung der Geschädigten befunden hat; die Ähnlichkeiten bei der Vorgehensweise zwecks Begehung der Straftaten in Kassel und Göttingen.

37. Das Landgericht hob hervor, dass es, als sich herausgestellt habe, dass O. und P. unerreichbar sein würden, dafür gesorgt hatte, die größtmögliche Anzahl an Zeugen, die im Zusammenhang mit den fraglichen Geschehnissen mit den beiden Frauen in Kontakt gekommen waren, während der Verhandlung zu befragen, um deren Glaubwürdigkeit nachzuprüfen.

38. Nach Ansicht des Landgerichts stellte der Umstand, dass die von O. und P. im Vorfeld der Verhandlung abgegebene detaillierte Schilderung der Geschehnisse mit dem übereinstimmte, was die beiden Frauen am Morgen danach ihrer Nachbarin E. berichtet hatten, ein wichtiges Anzeichen für ihre Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen dar. Das Gericht verwies auf die anderen Aussagen von E., wonach am Abend des 3. Februar 2007 gegen 21.30 Uhr eine weitere Nachbarin, eine ältere Frau, die, als sie P. vor ihrem Fenster weglaufen sah, in Angst und Wut versetzt wurde, zu ihr gekommen sei und sie gebeten habe, mit ihr zur Wohnung der beiden Frauen zu gehen, um herauszufinden, was passiert sei. O. und P. hätten auf das Klingeln der beiden Nachbarinnen hin aber nicht geöffnet.

39. Das Landgericht stellte ferner fest, dass O.s und P.s Schilderung der Handlungen auch mit dem übereinstimmte, woran sich L. hinsichtlich ihrer nach dem Vorfall mit den beiden Freundinnen geführten Gespräche erinnerte.

40. Das Landgericht hob ferner hervor, dass die drei Polizeibeamten und der Ermittlungsrichter, die O. und P. zu Beginn des Ermittlungsverfahrens vernommen hatten, in der Hauptverhandlung ausgesagt hatten, dass sie die Frauen für glaubwürdig hielten.

41. Das Landgericht wies daraufhin, da weder das Gericht selbst noch die Verteidigung die Möglichkeit gehabt habe, das Verhalten der Hauptzeuginnen in der Verhandlung unmittelbar oder im Rahmen einer audiovisuellen Vernehmung zu beobachten, müsse das Gericht die Einschätzung der Glaubwürdigkeit dieser Zeuginnen durch die Polizeibeamten und den Ermittlungsrichter mit besondererSorgfalt prüfen . Das Gericht fügte ferner hinzu, es habe bei der Berücksichtigung der Aussage der Nachbarin der Zeuginnen, E., und der Aussage der mit den beiden Frauen befreundeten L. besonderes Augenmerk darauf gerichtet, dass es sich um Aussagen von Zeugen vom Hörensagen handelte, die einer besonders vorsichtigen Würdigung zu unterziehen seien.

42. Vor diesem Hintergrund war es dem Gericht zufolge wichtig gewesen, dass die Angaben von O. und P. sowie die Aussagen der übrigen in der Verhandlung gehörten Zeugen durch weitere wesentliche und verwertbare Beweismittel – wie die durch die Überwachung der Mobiltelefone des Beschwerdeführers und der Mitangeklagten und die mittels eines GPS-Empfangsgeräts gewonnenen Daten – gestützt würden. Das Gerichtführte aus, dass diese Informationen im Zuge polizeilicher Überwachungsmaßnahmen im Rahmen eines zur maßgeblichen Zeit gegen die Angeklagten eingeleiteten Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Schutzgelderpressung in der Göttinger Drogenszene gewonnen worden seien.

43. Aus den Geolokalisierungsdaten und zwei aufgezeichneten Telefongesprächen zwischen einem der Mitangeklagten und dem Beschwerdeführer am Abend des 3. Februar 2007 um 20.29 Uhr und 20.31 Uhr ging nach Ansicht des Gerichts hervor, dass sich der Beschwerdeführer in Begleitung von B. in der Wohnung der Geschädigten befunden hatte und er vom Balkon gesprungenwar, um einer der beiden Frauen, die zu fliehen versuchte, nachzulaufen, ohne sie jedoch einzuholen, während B. in der Wohnung geblieben war. Das Gericht wies ferner darauf hin, die Auswertung der GPS-Daten zeige, dass das Auto eines der Mitangeklagten am 3. Februar 2007 von 19.58 Uhr bis 20.32 Uhr, also in dem Zeitraum, in dem auch der in Rede stehende Raub stattgefunden hat, in der Nähe des Tatortes geparktworden war.

44. Das Landgericht fügte hinzu, der Beschwerdeführer und die Mitangeklagten hätten zwar jede Beteiligung an dem Raub selbst bzw. jegliche vorsätzliche kriminelle Handlung in dieser Hinsicht bestritten, letztlich jedoch durch ihre eigenen Aussagen in der Verhandlung zumindest bestätigt, dass einer der Mitangeklagten gemeinsam mit R. am Vorabend der Tat die Wohnung in Göttingen aufgesucht hatte und sich alle Angeklagten zur Tatzeit in dem Fahrzeug befanden, das in der Nähe der Wohnung der Geschädigten abgestellt worden war. Es hob hervor, dass der Beschwerdeführer zunächst behauptet habe, ein anderer Täter und R. hätten sich zum Zeitpunkt des Vorfalls am nächsten Tag in der Wohnung befunden, um danach seine Meinung zu ändern und anzugeben, dass er und B. am 3. Februar 2007 die Wohnung aufgesucht hätten, um die von den beiden Frauen angebotenen Prostitutionsleistungen in Anspruch zu nehmen. Das Gericht wies schließlich daraufhin, dass der Beschwerdeführer weiter zugegeben habe, P. gefolgt zu sein, als diese über den Balkon geflüchtet sei, und erklärt habe, er habe dies getan, um sie daran zu hindern, die Nachbarn oder die Polizei zu rufen, denn er habe befürchtet, in Schwierigkeiten zu geraten, weil er vorbestraft sei und unlängst in einer ähnlichen Situation in Kassel mit Prostituierten Probleme gehabt habe.

45. Schließlich war das Landgericht der Auffassung, dass die weitgehend ähnliche Vorgehensweise in beiden Fällen, in denen zwei Frauen – ausländische Staatsangehörige – als Prostituierte in einer Wohnung tätig waren, beraubt worden waren, ein zusätzliches Element darstellt, das darauf hinweise, dass der Beschwerdeführer ebenfalls an der in Göttingen begangenen Straftat beteiligt war.

46. Nach Auffassung des Gerichts ergab die Zusammenschau aller Beweismittel ein schlüssiges und vollständiges Gesamtbild der Geschehnisse, das die Version der Zeuginnen O. und P. stütze und die im Verlauf der Verhandlung gemachten widersprüchlichen Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten widerlege.

D. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof

47. Der von seinem Verteidiger vertretene Beschwerdeführer legte am 23. Juni 2008 gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen Revision ein und rügte, er habe zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens Gelegenheit gehabt, die einzigen unmittelbaren Zeuginnen der in Göttingen begangenen Tat zu befragen, was eine Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe d der Konvention darstelle. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (insbesondere eine Entscheidung vom 25. Juli 2000 – Randnummern 58-59 und 62) warf er den Strafverfolgungsbehörden vor, im Vorfeld der ermittlungsrichterlichen Vernehmung von O. und P. für ihn nicht die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt zu haben, und vertrat die Auffassung, dass für die Aussagen der beiden Frauen folglich ein Verwertungsverbotangenommen werden müsse.

48. Mit Schriftsatz vom 9. September 2008 beantragte der Generalbundesanwalt, der Bundesgerichtshof möge die Revision des Beschwerdeführers gemäß § 349 Absatz 2 der Strafprozessordnung (Randnummer 63) im schriftlichen Verfahren als offensichtlich unbegründet verwerfen. Der Generalbundesanwalt trug vor, dass das Verfahren zwar tatsächlich durch einen „Totalausfall des Fragerechts“ des Beschwerdeführers gegenüber O. und P. gekennzeichnet gewesen sei, insgesamt jedoch fair gewesen sei, und dass kein Grund für die Unverwertbarkeit der Zeugenaussagen von O. und P. bestanden habe.

49. Der Generalbundesanwalt war der Ansicht, dass das Landgericht den Inhalt der in der Verhandlung verlesenen Protokolle der Zeugenaussagen besonders sorgfältig und kritisch bewertet hatte. Er fügte hinzu, dass das Gericht sich bei der Verurteilung des Beschwerdeführers zudem weder allein noch entscheidend auf deren Aussagen gestützt, sondern weitere gewichtige Beweise berücksichtigt habe. Vor dem Hintergrund der auf unterschiedlichen Beweisebenen gelagerten ergänzenden Beweisumstände habe der Beschwerdeführer ausreichende Chancen gehabt, die Glaubwürdigkeit der beiden Hauptzeuginnen zu erschüttern und sich effektiv zu verteidigen.

50. Der Generalbundesanwalt schloss sich der entsprechenden Begründung des Landgerichts an und legte ferner dar, dass nichts darauf hindeute, dass die Einschränkungen des Rechts der Verteidigung auf Befragung von O. und P. den innerstaatlichen Behörden zuzurechnen seien. Die Strafverfolgungsbehörden seien nicht verpflichtet gewesen, einen Verteidiger zu bestellen, um den Beschwerdeführer bei der Vernehmung vor dem Ermittlungsrichter zu vertreten. Angesichts dessen, dass O. und P. durchgängig kooperiert hätten, sei für die Behörden nicht damit zu rechnen gewesen, dass die beiden Frauen unbeschadet einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht mehr erscheinen würden, um in der Hauptverhandlung vernommen zu werden, zumal sie nach lettischem Recht zur Teilnahme an der Verhandlung, jedenfalls im Wege einer Videovernehmung, verpflichtet waren.

51. Mit Beschluss vom 30. Oktober 2008 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers nach § 349 Absatz 2 der Strafprozessordnung als offensichtlich unbegründet.

52. Mit Beschluss vom 9. Dezember 2008 wies der Bundesgerichtshof die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück und führte aus, dass in jedem Verwerfungsbeschluss nach § 349 Absatz 2 der Strafprozessordnung die entsprechende Begründung des Generalbundesanwalts notwendig in Bezug genommen werde.

E. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

53. In einer Verfassungsbeschwerde vom 30. Dezember 2008 gegen die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 30. Oktober und 9. Dezember 2008 rügte der Beschwerdeführer insbesondere unter dem Blickwinkel des Artikels 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren und seiner Rechte auf Verteidigung, weil weder er noch sein Verteidiger in irgendeinem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit hatte, O. und P. zu befragen.

54. Mit Beschluss vom 8. Oktober 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 78/09).

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Die einschlägigen Bestimmungen und die einschlägige Praxis im Ermittlungsverfahren

55. Nach § 160 Absätze 1 und 2 der Strafprozessordnung müssen die Strafverfolgungsbehörden, wenn sie Ermittlungen führen und der Verdacht einer Straftat besteht, nicht nur die zur Belastung, sondern auch zur Entlastung dienenden Umstände prüfen und für die Erhebung der Beweise Sorge tragen, deren Verlust zu besorgen ist.

56. Gemäß § 168c Absatz 2 der Strafprozessordnung ist der Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten und dem Verteidiger bei der richterlichen Vernehmung eines Zeugen vor der Eröffnung des Hauptverfahrens die Anwesenheit gestattet. Der Richter kann einen Beschuldigten von der Anwesenheit bei der Vernehmung ausschließen, wenn dessen Anwesenheit den Untersuchungszweck gefährden würde. Dies gilt namentlich dann, wenn zu befürchten ist, dass ein Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde (§ 168c Absatz 3 der Strafprozessordnung). Von den Terminen sind die zur Anwesenheit Berechtigten vorher zu benachrichtigen. Die Benachrichtigung unterbleibt, wenn sie den Untersuchungserfolg gefährden würde (§ 168c Absatz 5 der Strafprozessordnung).

57. Gemäß § 141 Absatz 3 der Strafprozessordnung kann der Verteidiger schon während des Vorverfahrens bestellt werden. Die Staatsanwaltschaft beantragt dies, wenn nach ihrer Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist insbesondere notwendig, wenn die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Landgericht stattfindet oder dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird (§ 140 Absatz 1 Nrn. 1, 2 der Strafprozessordnung).

58. In einem Grundsatzurteil vom 25. Juli 2000 (veröffentlicht in BGHSt, Band 46, S. 96 ff.) vertrat der Bundesgerichtshof die Auffassung, dass § 141 Absatz 3 der Strafprozessordnung im Lichte von Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention dahingehend auszulegen ist, dass die Ermittlungsbehörden in Erwägung zu ziehen haben, dem unverteidigten Beschuldigten vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen einen Verteidiger zu bestellen, um seine Aussage aufzunehmen, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist.

59. Der Bundesgerichtshof hat unterstrichen, dass die Achtung des Fragerechts verlangt, dass der somit bestellte Verteidiger die Gelegenheit hat, sich vor der Vernehmung des Zeugen durch den Ermittlungsrichter mit seinem Mandanten zu besprechen, um in der Lage zu sein, sachkundige Fragen zu stellen. Das Gericht hat zudem darauf hingewiesen, dass die Bestellung eines Verteidigers für den Beschuldigten nicht geboten sei, wenn berechtigte Gründe dafür vorlägen, den Verteidiger nicht über die ermittlungsrichterliche Vernehmung zu benachrichtigen, oder wenn die durch die Bestellung und Zuziehung eines Verteidigers bedingte zeitliche Verzögerung den Untersuchungserfolg gefährden würde. In der vor dem Bundesgerichtshof anhängigen Sache war von ihm außerdem nicht darüber zu entscheiden, ob es geboten sei, einen Verteidiger für den Angeklagten zu bestellen, falls der Untersuchungszweck bereits durch eine bloße Erörterung des Sachverhalts zwischen dem Verteidiger und seinem Mandanten vor der Vernehmung gefährdet werden könnte.

B. Die einschlägigen Bestimmungen und die einschlägige Praxis bei der Prozessführung

60. § 250 der Strafprozessordnung führt den Grundsatz auf, dass dort, wo der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person beruht, diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen ist und die Vernehmung nicht durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden darf.

61. § 251 der Strafprozessordnung enthält mehrere Ausnahmen von diesem Grundsatz. Laut § 251 Absatz 1 Ziffer 2 kann die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift über eine andere Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von ihm stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden, wenn der Zeuge verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann. § 251 Absatz 2 Ziffer 1 bestimmt, dass die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung der Niederschrift über seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden darf; dies gilt auch, wenn dem Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit, Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen.

62. In seinem vorbezeichneten Urteil vom 25. Juli 2000 (Randnummern 58-59) hat der Bundesgerichtshof die Ansicht vertreten, dass es zwar kein Beweisverwertungsverbot für die im Zuge der ermittlungsrichtlichen Vernehmung erlangten Beweismittel zur Folge habe, falls dem Angeklagten entgegen § 141 Abs. 3 der Strafprozessordnung kein Verteidiger bestellt worden war, dies aber zu einer Minderung ihres Beweiswerts führe.

Das Verfahren sei in seiner Gesamtheit zu berücksichtigen. Im Grundsatz dürfe die Verurteilung zwar auf die Aussage eines Zeugen gestützt werden, den die Verteidigung nicht im Kreuzverhör (to cross-examine) hatte befragen können, aber nur dann, wenn die in Rede stehende Aussage durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt würden. Das Tatgericht müsse die Beweismittel ferner mit besonderer Sorgfalt würdigen, wobei auch zu berücksichtigen sei, dass die Aussage des Ermittlungsrichters in der Verhandlung ein Zeugnis vom Hörensagen darstelle.

C. Bestimmung über die Revision

63. § 349 Absatz 2 der Strafprozessordnung sieht vor, dass das Revisionsgericht auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, die Revision eines Verurteilten ohne Verhandlung verwerfen kann, wenn es die Revision für offensichtlich unbegründet erachtet. Der Beschluss muss einstimmig ergehen.

III. DAS EINSCHLÄGIGE INTERNATIONALE RECHT

64. Die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen Deutschland und Lettland ist insbesondere in dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 geregelt, ergänzt durch das Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

65. Artikel 10 des Übereinkommens vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sieht die Möglichkeit vor, Zeugen per Videokonferenz zu vernehmen. Eine solche Vernehmung findet im Beisein einer Justizbehörde des ersuchten Mitgliedstaats statt und wird von der Justizbehörde des ersuchenden Mitgliedstaats durchgeführt. Die zu vernehmende Person kann sich auf das Aussageverweigerungsrecht berufen, das ihr nach dem Recht des ersuchten oder des ersuchenden Mitgliedstaats zusteht (Artikel 10 Absatz 5 des Übereinkommens). Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in Fällen, in denen Zeugen oder Sachverständige gemäß diesem Artikel in seinem Hoheitsgebiet vernommen werden und trotz Aussagepflicht die Aussage verweigern oder falsch aussagen, sein innerstaatliches Recht genauso gilt, als ob die Vernehmung in einem innerstaatlichen Verfahren erfolgen würde (Artikel 10 Absatz 8 des Übereinkommens).

66. Nach Artikel 8 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 darf der Zeuge, der einer Vorladung, um deren Zustellung ersucht worden ist, nicht Folge leistet, selbst dann, wenn die Vorladung Zwangsandrohungen enthält, nicht bestraft oder einer Zwangsmaßnahme unterworfen werden, sofern er sich nicht später freiwillig in das Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates begibt und dort erneut ordnungsgemäß vorgeladen wird.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSÄTZE 1 UND 3 BUCHSTABE d DER KONVENTION

67. Der Beschwerdeführer rügt, dass sein Strafverfahren unfair gewesen und der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt worden sei, da weder er noch sein Rechtsanwalt zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeiten gehabt hätte, O. und P., die einzigen unmittelbaren Zeuginnen und Geschädigten der angeblich von ihm im Februar 2007 in Göttingen begangenen Straftat, zu befragen. Er beruft sich auf Artikel 6 der Konvention, dessen einschlägiger Passus wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über (…) eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem (…) Gericht in einem fairen Verfahren (…) verhandelt wird.“ (…)

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

(…)

d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;

(…)“.

68. Die Regierung widerspricht dieser These.

A. Das Urteil der Kammer

69. Die Kammer stellte fest, dass Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention nicht verletzt worden ist.

70. In Anwendung der Grundsätze, die der Gerichtshof in seinem Urteil Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich ([GK], Nrn. 26766/05 und 22228/06, CEDH 2011) entwickelt hat, hat die Kammer gefolgert, dass das Nichterscheinen der Zeuginnen in der Verhandlung durch einen triftigen Grund gerechtfertigt gewesensei und dass das Landgericht sich angemessen bemüht habe, damit diese angehört werden konnten. Es sei dem Landgericht nicht zuzurechnen, dass alle Versuche erfolglos blieben. Die Kammer hat außerdem die Auffassung vertreten, dass die Aussagen dieser Zeuginnen zwar nicht die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers gewesen sei, sie jedoch eindeutig von erheblicher Bedeutung für den Nachweis der der Schuld des Betroffenen waren.

71. Der Kammer zufolge waren jedoch genügend Faktoren gegeben, um die aus der Zulassung der Aussagen der beiden Tatgeschädigten resultierenden Beeinträchtigungen der Verteidigung auszugleichen. Die Kammer war der Ansicht, das Landgericht habe die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensgarantien beachtet. Sie hob hervor, dass gemäß § 168c der Strafprozessordnung (Randnummer 56) dem Beschuldigten und dem Verteidiger bei der richterlichen, der Hauptverhandlung vorgelagerten Vernehmung eines Zeugen die Anwesenheit in der Regel gestattet ist. Die Kammer war aber der Ansicht, dass die Entscheidung, den damals nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung von O. und P. auszuschließen, im Hinblick auf § 168c Absatz 3 der Strafprozessordnung gerechtfertigt war, indem sie die Sorge des Ermittlungsrichters für begründet hielt, der befürchtete, dass die Verdächtigen die beiden Zeuginnen unter Druck setzen könnten, sobald sie oder ihre Anwälte über deren Vernehmung informiert würden, wodurch die laufenden Ermittlungen gefährdet werden könnten. Sie hat ferner das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis genommen, wonach es zum Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Vernehmung nicht absehbar gewesen sei, dass die beiden Frauen, die zuvor mehrmals ausgesagt hätten, sich weigern würden, zur Hauptverhandlung zu erscheinen.

72. Die Kammer hat überdies festgestellt, dass das Landgericht auf den geminderten Beweiswert der Aussagen von O. und P. im Ermittlungsverfahren hingewiesen und sie deshalb sorgfältig geprüft hat, und auch die Aussagen zwei weiterer Zeuginnen, E. und L., berücksichtigt hatte, denen sich die Tatgeschädigten unmittelbar nach dem Vorfall anvertraut hatten. Der Kammer zufolge wurden die übereinstimmenden Aussagen von O. und P. durch die Tatsachenbeweise gestützt, die durch die Überwachung der Mobiltelefone des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten und mittels eines GPS-Empfangsgeräts erlangt wurden, sowie durch das Geständnis des Beschwerdeführers, wonach er sich zum Zeitpunkt des Vorfalls tatsächlich in der Wohnung der Geschädigten befunden habe. Die Kammer hat hinzugefügt, dass die ähnliche Begehung der Straftaten in Kassel und Göttingen die Feststellungen des Gerichts ebenfalls untermauern würde. Sie hat somit gefolgert, dass das Verfahren insgesamt fair war.

B. Stellungnahme der Parteien

1. Der Beschwerdeführer

73. Unter Berufung auf Artikel 6 Absätze 1 und 3 d der Konvention rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere seines Rechts, Fragen an Belastungszeugen zu stellen, weil weder er noch sein Rechtsanwalt zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit gehabt hätten, die beiden Hauptzeuginnen O. und P. zu befragen.

a) Anwendbare Grundsätze

74. In seiner Stellungnahme an die Große Kammer stimmt der Beschwerdeführer zu, dass die vom Gerichtshof in seinem (vorgenannten) Urteil Al-Khawaja und Tahery entwickelten Grundsätze hier anwendbar sind. Er behauptet, die Tatsache, dass der Verteidigung keine Möglichkeit gegeben werde, einen Belastungszeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, stelle nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention dar, es sei denn, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.

b) Zur Frage, ob die Abwesenheit von O. und P. in der Hauptverhandlung durch einen triftigen Grund gerechtfertigt war

75. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass das Nichterscheinen von O. und P. in der Verhandlung durch keinen triftigen Grund zu rechtfertigen gewesen sei. Er weist daraufhin, dass die psychische Belastung, unter denen die beiden Frauen durch die Geschehnisse in Göttingen angeblich gestanden hätten, diese keineswegs daran gehindert habe, im Ermittlungsstadium bei der Polizei und vor dem Ermittlungsrichter auszusagen. Er fügt hinzu, dass das Landgericht Göttingen selbst der Auffassung gewesen sei, dass es sich nicht um einen hinreichenden Grund gehandelt habe, um die beiden Frauen von der Teilnahme an der Verhandlung freizustellen. Dem Beschwerdeführer zufolge hätten die innerstaatlichen Behörden andere Versuche unternehmen müssen, insbesondere im Wege bilateraler Verhandlungen, die auf politischer Ebene mit Lettland hätten geführt werden können, um sicherzustellen, dass diese Zeuginnen vor Gericht aussagten.

c) Zur Frage, ob die Aussagen der abwesenden Zeuginnen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers war

76. Der Beschwerdeführer legt dar, dass seine Verurteilung zumindest entscheidend auf den Aussagen von O. und P. beruhte, den einzigen Augenzeuginnen der Geschehnisse in Göttingen. Er versichert, dass seine Schuld auf der Grundlage der anderen verfügbaren Beweismittel nicht hätte nachgewiesen werden können, wenn die Aussagen von O. und P. nicht berücksichtigt worden wären.

d) Zur Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen, um die der Verteidigung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren

77. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, es habe keinen ausgleichenden Faktor gegeben, um die der Verteidigung infolge der Abwesenheit der Zeuginnen in der Verhandlung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren.

78. Dem Beschwerdeführer zufolge hat das Landgericht die Aussagen von O. und P. nicht mit besonderer Sorgfalt gewürdigt. Es habe die Tatsache nicht berücksichtigt, dass das Nichterscheinen der beiden Frauen in der Verhandlung ohne triftigen Entschuldigungsgrund ihre Glaubwürdigkeit erschütterthatte. Außerdem habe die Tatsache, dass es weitere Aussagen von Zeugen vom Hörensagen gab und dass er die Möglichkeit gehabt hätte, den Ermittlungsrichter zu befragen, keine ausreichenden Ausgleichsfaktoren dargestellt, um die Waffengleichheit während der Verhandlung zu gewährleisten. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft aufgrund der Vorschriften der deutschen Strafprozessordnung verpflichtet ist, sowohl die zur Belastung als auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu prüfen (Randnummer 55), die Unmöglichkeit, die Belastungszeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, nicht kompensiert habe, weil die Strafverfolgungsbehörden seines Erachtens die entlastenden Beweise in seiner Sache nicht geprüft hätten.

79. Der Beschwerdeführer rügt insbesondere, dass ihm eine Verfahrensgarantie nach innerstaatlichem Recht verwehrt worden sei, die darauf abziele, seine Verteidigungsrechte zu schützen, indem er vorbringt, dass kein Verteidiger zur Vertretung seiner Interessen an der ermittlungsrichterlichen Vernehmung von O. und P. teilnehmen durfte. Aufgrund der anwendbaren Bestimmungen der Strafprozessordnung (§ 141 Absatz 3 i.V.m. § 140 – Randnummer 57), so wie diese vom Bundesgerichtshof (in dem Urteil dieses Gerichtshofs vom 25. Juli 2000 – Randnummern 58-59 und 62) ausgelegt worden sind, ist ihm zufolge die Staatsanwaltschaft verpflichtet gewesen, einen Verteidiger schon während des Vorverfahrens zu bestellen. Er betont, dass diese Maßnahme vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Hauptbelastungszeuginnen hätte getroffen werden müssen, von der er gemäß § 168c Absatz 3 der Strafprozessordnung ausgeschlossen worden war. Für diesen Fall habe dem Verteidiger gemäß § 168c Absatz 2 der Strafprozessordnung ein Recht zur Anwesenheit bei der Zeugenvernehmung zugestanden (mit Ausnahme der in § 168c Absatz 5 aufgeführten Fälle, die nach Ansicht des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall nicht anwendbar seien). Um seine Argumente zu stärken, verweist der Beschwerdeführer auf die Feststellungen des Gerichtshofs in seinem Urteil H. ./. Deutschland (Nr. 26171/07, Randnummern 42 ff., 19. Juli 2012).

80. Der Beschwerdeführer weist daraufhin, dass die Zeugen im Lauf des Ermittlungsverfahrens in der Praxis nur dann zusätzlich zu der der polizeilichen Vernehmung vom Ermittlungsrichter vernommen werden, wenn die Gefahr besteht, dass Beweiseverloren gehen. Er legt dar, dass die Niederschriften der ermittlungsrichterlichen Anhörungen verlesen und in der Verhandlung als Beweise unter weniger strengen Voraussetzungen zugelassen werden können als diejenigen, die bei polizeilichen Vernehmungen gelten (§ 251 Absätze 1 und 2 der Strafprozessordnung – Randnummer 61‑). Somit sei die Anwesenheit des Beschuldigten und seines Verteidigers bei den von einem Ermittlungsrichter gemäß § 168 c Absatz 2 der Strafprozessordnung durchgeführten Vernehmungen wesentlicher Natur, um das nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention geschützte Recht des Angeklagten zu gewährleisten.

81. Der Beschwerdeführer behauptet, es sei nicht gerechtfertigt, ihm dieses Recht einfach deshalb zu versagen, weil der Ermittlungsrichter den unzutreffenden Eindruck gewonnen hatte, dass O. und P. Angst hatten, in seiner Anwesenheit oder selbst im Beisein seines Verteidigers auszusagen, wobei er die Ansicht vertritt, keinen Anlass für solche Befürchtungen gegeben zu haben. Dieses Argument sei in jedem Fall nicht geeignet, ihn und seinen Verteidiger von der Vernehmung auszuschließen, weil es verschiedene Mittel gegeben habe, diese Befürchtungen zu entkräften. Da O. und P. Deutschland nach ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung zeitnah verlassen haben, wäre es dem Beschwerdeführer zufolge möglich gewesen, kurz vor dieser Vernehmung einen Verteidiger zu bestellen sowie ihn festzunehmen, was ihm oder zumindest seinem Rechtsbeistand gestattet hätte, die beiden Frauen persönlich zu befragen, ohne dass diese irgendwelche Einschüchterungen zu befürchten gehabt hätten.

82. Nach Ansicht des Beschwerdeführers sind die Ermittlungsbehörden in der Lage gewesen vorherzusehen, dass O. und P., die wegen ihrer Prostitutionsdienstleistungen nach Maßgabe des Handels- oder Steuerrechts möglicherweise sanktioniert worden wären, vermutlich nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten, um im Rahmen des gegen ihn in Deutschland geführten Verfahrens auszusagen. Der Beschwerdeführer legt dar, dass er dennoch keinen Grund hatte, zu verlangen, der Ermittlungsrichter möge die Zeuginnen ein zweites Mal in seiner Anwesenheit nach seiner Festnahme vernehmen, weil er davon ausgegangen sei, dass er sie während der Verhandlung konfrontieren könne; die beiden Frauen hätten Deutschland ohnehin bereits zum Zeitpunkt seiner Festnahme verlassen.

2. Die beschwerdegegnerische Regierung

83. Nach Ansicht der Regierung stand das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer in Einklang mit Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention, selbst wenn der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens die Möglichkeit hatte, O.und P. ins Kreuzverhör zu nehmen.

a) Anwendbare Grundsätze

84. Die Regierung sieht kein Veranlassung, die vom Gerichtshof in seinem Urteil Al-Khawaja und Tahery (a.a.O.) niedergelegten Grundsätze zu verschärfen oder abzuändern, die ihres Erachtens hier anwendbar seien und die Möglichkeit vorsehen, in bestimmten Fällen davon abzusehen, Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen. Nach ihrer Ansicht müssten die Schlussfolgerungen des Gerichtshof aus diesem Urteil, das im Rahmen des common law ergangen ist, in flexibler Weise in die kontinentaleuropäischen Rechtssysteme übertragen werden. Selbst wenn diese Grundsätze angewendet würden, hätten die Ausnahmen von demGrundsatz des Kreuzverhörs(principle of cross-examination) in den kontinentaleuropäischen Systemen wie der deutschen Rechtsordnung wohl eine größere Tragweite. Innerhalb dieser Rechtsordnung würde die Zuverlässigkeit von Beweisen in größerem Umfang von Berufsrichtern bewertet, die mit dieser Praxis vertraut sind, und die Beweiswürdigung würde in der Begründung der Gerichtsentscheidungen wesentlich klarer zum Ausdruck kommen.

85. Die Regierung fügt hinzu, dass ein von ihr eingeholtes rechtsvergleichendes Gutachten zeige, dass keine Vertragspartei der Konvention mit einem zu Deutschland vergleichbaren Strafrechtssystem ein uneingeschränktes Recht des Angeklagten, die Belastungszeugen in der Hauptverhandlung ins Kreuzverhör zu nehmen, kennt. Außerdem sei es in vielen anderen Rechtssystemen nicht untersagt, auf Protokolle über frühere Vernehmungen zurückzugreifen, selbst wenn es dem Beschuldigten nicht möglich war, den betroffenen Zeugen zu dem Zeitpunkt zu befragen.

b) Zur Frage, ob die Abwesenheit von O. und P. in der Hauptverhandlung durch einen triftigen Grund gerechtfertigt war

86. Die Regierung ist der Ansicht, dass das Nichterscheinen von O. und P. durch einen guten Grund im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs gerechtfertigt war. Ihr zufolge hatte das Landgericht alle vernünftiger Weise zu erwartenden Anstrengungen unternommen, um die beiden Frauen, die rechtmäßig in Deutschland wohnten und arbeiteten, persönlich in der Hauptverhandlung zu vernehmen oder diese im Rahmen einer Videokonferenz mit Hilfe der lettischen Gerichte zu befragen. Die Regierung erinnert daran, dass das Landgericht die Betroffenen zu einem Verhandlungstermin geladen hat und dass es, nachdem die beiden Frauen ärztliche Atteste eingereicht hatten, erneut bemüht war, ihre Anwesenheit sicherzustellen, und darauf hingewiesen hat, dass für ihren Schutz gesorgt sei und sie gebeten wurden mitzuteilen, unter welchen Bedingungen sie zu einer Aussage bereit seien. Das Landgericht habe nicht die erforderliche Zuständigkeit gehabt, um die beiden Zeuginnen – lettische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Lettland – zum Erscheinen zu einer Verhandlung in Deutschland zu zwingen, da Zwangsmaßnahmen gemäß Artikel 8 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen untersagt seien (Rdnr. 66).

87. Die Regierung legt dar, das Landgericht habe daraufhin die lettischen Behörden gemäß den anwendbaren Rechtshilfevorschriften darum ersucht, die Zeuginnen durch ein Gericht in Lettland laden zu lassen, um eine Vernehmung im Wege einer Videokonferenz durchzuführen. Das lettische Gericht habe jedoch den Vernehmungstermin nach einem Vorgespräch mit den Zeuginnen aufgehoben, die erneut ärztliche Atteste vorgelegt hätten. Das Ersuchen des Landgerichts an das lettische Gericht, die von O. und P. angeführten Gründe für die Verweigerung der Aussage nachzuprüfen oder andere Wege der Befragung in Betracht zu ziehen, sei unbeantwortet geblieben. Der Regierung zufolge deutet nichts daraufhin, dass es möglich gewesen wäre, die Vernehmung der beiden Frauen durch Rückgriff auf andere Mittel in die Wege zu leiten, z.B. durch bilaterale Verhandlungen auf politischer Ebene, eine Möglichkeit, auf die der Beschwerdeführer im Übrigen zum ersten Mal in dem Verfahren vor dem Gerichtshof hingewiesen habe.

c) Zur Frage, ob die Aussagen der abwesenden Zeuginnen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers war

88. Die Regierung bemerkt, dass nach der hier entscheidenden Ansicht des Landgerichts die Aussagen von O. und P. „maßgeblich“ gewesen seien, um die Verurteilung des Beschwerdeführers zu stützen. Sie fügt hinzu, dass gleichwohl andere wichtige Beweismittel beigebracht worden waren, insbesondere die Ergebnisse polizeilicher Überwachungsmaßnahmen und die eigenen Einlassungen des Beschwerdeführers, die es gestattet haben, die Glaubwürdigkeit der Aussagen der beiden Zeuginnen nachzuprüfen. Die Frage, ob die in Rede stehenden Aussagen im Licht dieser anderen Faktoren ein „entscheidendes Beweismittel“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs darstellt, könne dahinstehen, da es in der vorliegenden Sache auf jeden Fall hinreichende Ausgleichsfaktoren gegeben habe, um, wie es sein muss, die Unmöglichkeit der Verteidigung zur Zeugenbefragung auszugleichen.

d) Zur Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen, um die der Verteidigung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren

89. Die Regierung behauptet, die fehlende Möglichkeit des Beschwerdeführers zur Befragung von O. und P. sei vom Landgericht hinlänglich dadurch kompensiert worden, dass es eine umfassende und kritische Prüfung der Glaubwürdigkeit der in Rede stehenden Aussagen vorgenommen hatte. Ihres Erachtens hat das Landgericht die Aussagen der beiden Belastungszeuginnen mit besonderer Sorgfalt bewertet, indem es insbesondere die von den beiden Frauen bei unterschiedlichen Vernehmungen gemachten Aussagen verglichen hat.

90. Die Regierung hat vorgebracht, dass Gerichte wie Staatsanwaltschaft nach deutschem Strafprozessrecht verpflichtet sind, sowohl den zur Belastung wie zur Entlastung dienenden Umständen nachzugehen, was nach ihrer Ansicht gestatten würde, die fehlende Möglichkeit des Beschuldigten, einen Belastungszeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, teilweise auszugleichen.

91. Um die Zuverlässigkeit der Aussagen von O. und P. nachzuprüfen, habe sich das Landgericht auf vielfältige Beweismittel zur Erhärtung der streitgegenständlichen Aussagen gestützt, einschließlich der Aussagen von Zeugen vom Hörensagen und zuverlässiger Sachbeweismittel aus den gegen den Beschwerdeführer angeordneten Überwachungsmaßnahmen. Es habe sich insbesondere um die GPS-Auswertung des Mobiltelefons des Betroffenen und des Mitschnitts eines Telefonats zwischen ihm und einem Mitangeklagten zum Zeitpunkt der Tatbegehung gehandelt, in dem er geschildert habe, wie eine der beiden Frauen vom Balkon gesprungen sei, um zu flüchten, und wie er sie verfolgt habe.

92. Die Regierung erinnert daran, der Beschwerdeführer habe zudem die Möglichkeit gehabt, praktisch alle Personen ins Kreuzverhör zu nehmen, die die beiden Frauen im Ermittlungsverfahren angehört hatten, und deren Glaubwürdigkeit anzugreifen. Sie legt dar, dieselben Personen seien vom Landgericht ebenfalls über das Verhalten und die psychische Verfassung der beiden Zeuginnen während dieser Vernehmungen befragt worden.

93. Was die fehlende Möglichkeit des Beschwerdeführers und seines Verteidigers zur Befragung der Zeuginnen O. und P. im Ermittlungsverfahren anbelangt, macht die Regierung geltend, dass der Ermittlungsrichter die Teilnahme des Beschwerdeführers an der Vernehmung gemäß § 168c Absatz 3 der Strafprozessordnung ausgeschlossen hat, um den Schutz der beiden Frauen sicherzustellen und für die Wahrheitsfindung Sorge zu tragen. Sie verdeutlicht, dass O. und P., die erhebliche Angst vor den Tätern des Raubüberfalls hatten, im Beisein des Beschwerdeführers keine vollständigen und zuverlässigen Aussagen zum Vorfall gemacht hätten. Nach Ansicht der Regierung hatten sie berechtigte Gründe gehabt, Repressalien aus dem Kreis des Beschwerdeführers zu befürchten, weil dieser eines ähnlichen Raubüberfalls in Kassel beschuldigt wurde.

94. Die Regierung fügt hinzu, dass die Anwesenheit des Verteidigers in Anbetracht dessen, dass die Zeuginnen Gründe zur Annahme hatten, dass der für den Beschwerdeführer bestellte Verteidiger diesen von der Vernehmung und den bei dieser Gelegenheit von ihnen gemachten Aussagen unterrichten würde, die beiden Frauen ebenfalls bewogen hätte, keine oder nur falsche Angaben zu machen. Sie erinnert daran, dass das Tatgericht nach den Maßstäben des § 168c Absatz 5 der Strafprozessordnung nicht verpflichtet war, den gegebenenfalls zur Vertretung des Beschwerdeführers bestellten Anwalt von dem Verhandlungstermin zu benachrichtigen, wenn es der Meinung ist, dass eine solche Benachrichtigung den Untersuchungserfolg gefährden würde. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (insbesondere dessen Urteil vom 25. Juli 2000 – Randnummern 58-59 und 62) sei demnach die Bestellung eines Verteidigers und dessen Anwesenheit bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung nicht notwendig gewesen.

95. Die Regierung merkt an, dass der Beschwerdeführer nach seiner Inhaftierung nicht verlangt habe, dass die beiden Frauen in seinem Beisein während des Ermittlungsverfahrens erneut befragt werden. Sie unterstreicht, es sei nicht absehbar gewesen, dass O. und P. sich weigern würden, zur Hauptverhandlung zu erscheinen, weil der Beschwerdeführer und seine Mittäter, die sich zu diesem Verfahrensstadium in Haft befanden, für die beiden Frauen eine geringere Bedrohungdargestellt hätten. Jedenfalls habe der Beschwerdeführer zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Antrag gestellt unter Angabe der Fragen, die er den Zeuginnen hätte stellen wollen, deren Identität und Schicksal ihm bekannt waren, oder der Grundlagen, auf denen er ihre Glaubwürdigkeit hätte bestreiten wollen.

3. Die tschechische Regierung, Drittbeteiligte

96. Die tschechische Regierung ist der Auffassung, dass diese Rechtssache dem Gerichtshof ermöglicht, die in seinem Urteil Al-Khawaja und Tahery (a.a.O.) entwickelten Grundsätze klarzustellen und zu präzisieren. Sie ist der Ansicht, dass die Kriterien hinsichtlich der Zulassung von Aussagen abwesender Zeugen, die in dem genannten Urteil im Rahmen eines common law Systems ausgearbeitet wurden, in die kontinenaleuropäischen Rechtssysteme nicht in vollem Umfang übertragbar sind. Ihres Erachtens müsste der Gerichtshof die Besonderheiten der betroffenen Rechtsordnung berücksichtigen.

97. Nach Ansicht der Drittbeteiligten müsste der Gerichtshof, bevor er prüft, ob triftige Gründe für die Zulassung der Aussage eines abwesenden Zeugen als Beweismittel vorliegen (sie beruft sich hier auf das Urteil Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 120), zunächst prüfen, ob die streitgegenständliche Aussage das einzige bzw. entscheidende Beweismittel gewesen ist, das zur Verurteilung des Angeklagten geführt hat, so wie der Gerichtshof dies beispielsweise in den Rechtssachen Sarkizov u.a. ./. Bulgarien (Nr. 37981/06, 38022/06, 39122/06 und 44278/06, Rdnr. 58, 17. April 2012) und Damir Sibgatullin ./. Russland (Nr. 1413/05, Rdnrn. 54-56, 24. April 2012) getan hat. In einer Situation, in der die Aussage eines abwesenden Zeugen nicht entscheidend ist, wäre es zwecklos, das Vorliegen eines triftigen Grundes nachzuweisen, um der Verteidigung die Möglichkeit zu verwehren, diesen Zeugen zu befragen. Die tschechische Regierung ist ferner der Ansicht, der Gerichtshof müsse klarstellen, ob er den Grundsatz impossibilium nulla est obligatio weiterhin als einen guten Grund dafür ansieht, die Aussage eines abwesenden Zeugen als Beweismittel zu akzeptieren. Dies trifft für die Drittbeteiligte besonders in dem Fall zu, wenn ein Zeuge das Land verlassen hat und die innerstaatlichen Gerichte nicht befugt sind, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, um die Anwesenheit dieses Zeugen in der Hauptverhandlung zu gewährleisten.

98. Die tschechische Regierung behauptet außerdem, dass es Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte sei, die Bedeutung einer Zeugenaussage für den Ausgang des Verfahrens zu bewerten. Sie erläutert, dass, sollte der Gerichtshof eine eingehende Analyse des entscheidenden Charakters oder der Wichtigkeit des in Rede stehenden Beweismittels vornehmen, dies mit dem Gestaltungsspielraum, der den innerstaatlichen Behörden zusteht, und mit dem Grundsatz kollidieren könnte, wonach der Gerichtshof nicht die Rolle einer vierten Instanz spielen dürfe.

99. Nach Ansicht der tschechischen Regierung geht der flexiblere Ansatz des Gerichtshofs in dem Urteil Al-Khawaja und Tahery (a.a.O.) bezüglich der Frage des einzigen bzw. entscheidenden Beweismittels zu Lasten der Vorhersehbarkeit seiner Rechtsprechung. Außerdem würde die Drittbeteiligte wünschen, der Gerichtshof möge verdeutlichen, welche Faktoren er als hinlänglich ausgleichend betrachtet, um Verletzungen des Artikels 6 der Konvention zu verhüten.

C. Würdigung der Großen Kammer

1. Rekapitulation der einschlägigen Grundsätze

a) Allgemeine Grundsätze

100. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Erfordernisse nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d Teilaspekte des nach Absatz 1 dieser Bestimmung garantierten Rechts auf ein faires Verfahren darstellen (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 118); er wird also die Rüge des Beschwerdeführers unter dem Blickwinkel dieser beiden Bestimmungen im Zusammenhang prüfen (Windisch ./. Österreich, 27. September 1990, Rdnr. 23, Serie A, Bd. 186, und Lüdi ./. Schweiz, 15. Juni 1992, Rdnr. 43, Serie A, Bd. 238).

101. Das vorrangige Anliegen des Gerichtshofs bei der Prüfung einer Rüge aus Art. 6 Absatz 1 besteht in der Beurteilung, ob das Strafverfahren insgesamt einen fairen Charakter hatte (siehe u.a. Taxquet ./. Belgien [GK], Nr. 926/05, Rdnr. 84, CEDH 2010, m.w.N.). Zu diesem Zweck zieht er das Verfahren insgesamt in Betracht, einschließlich der Art und Weise der Beweisaufnahme, und prüft, ob nicht nur die Rechte der Verteidigung, sondern auch das Interesse der Öffentlichkeit und der Opfer an einer ordnungsgemäßen Verfolgung von Straftätern gewahrt worden sind (G. ./. Deutschland [GK], Nr. 22978/05, Rdnrn. 163 und 175, CEDH 2010) sowie nötigenfalls die Rechte von Zeugen (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 118 m.w.N., und H., a.a.O., Rdnr. 37).

102. Die Grundsätze, die in den Fällen anzuwenden sind, in denen das Gericht die früheren Aussagen eines in der Hauptverhandlung nicht erschienenen Belastungszeugen als Beweismittel zulässt, sind in dem (vorgenannten) Urteil der Großen Kammer vom 15. Dezember 2011 in der Rechtssache Al-Khawaja und Tahery zusammengefasst und klargestellt worden.

103. Der Gerichtshof hat in diesem Urteil daran erinnert, dass Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d den Grundsatz verankert, demzufolge alle belastenden Beweismittel üblicherweise dem Angeklagten in einer öffentlichen Sitzung zum Zwecke einer streitigen Verhandlung vorzulegen sind (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 118), bevor er für schuldig erklärt werden kann.

104. Der Gerichtshof unterstreicht in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Ermittlungsverfahrens für die Vorbereitung des Strafprozesses, insoweit als die in dieser Phase erlangten Beweismittel den Rahmen festlegen, in dem die zur Last gelegte Straftat in der Hauptverhandlung untersucht wird (Salduz ./. Türkei [GK], Nr. 36391/02, Rdnr. 54, CEDH 2008). Auch wenn Artikel 6 der Konvention zwar hauptsächlich darauf abzielt, auf strafrechtlicher Ebene ein faires Verfahren vor einem zuständigen „Gericht“ sicherzustellen, um über die „erhobene strafrechtliche Anklage“ zu entscheiden, so ist daraus nicht abzuleiten, dass der Artikel das Vorverfahren nicht berührt. So kann Artikel 6 – insbesondere sein Absatz 3 – eine Rolle spielen, bevor das Tatgericht angerufen wird, wenn und insoweit die ursprüngliche Nichtbeachtung dieses Artikels den fairen Charakter der Verhandlung in schwerwiegender Weise zu gefährden droht (Salduz, a.a.O., Rdnr. 50 mit einem Verweis auf Imbrioscia ./. Schweiz, 24. November 1993, Rdnr. 36, Serie A, Bd. 275).

105. Allerdings steht die Verwendung von Aussagen als Beweismittel, die auf das Stadium der polizeilichen Ermittlungen und des Ermittlungsverfahrens zurückgehen, nicht per se Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d entgegen, vorausgesetzt, dass die Rechte der Verteidigung beachtet wurden. Diese Rechte schreiben in der Regel vor, dass dem Beschuldigten eine angemessene und ausreichende Möglichkeit eingeräumt wird, die belastenden Zeugenaussagen anzugreifen und deren Urheber entweder im Zuge der Aussage oder zu einem späteren Zeitpunkt zu befragen (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 118, m.w.N.; siehe auch A.G. ./. Schweden (Entsch.), Nr. 315/09, 10. Januar 2012, und Trampevski ./. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 4570/07, Rdnr. 44, 10. Juli 2012).

106. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil Al-Khawaja und Tahery gefolgert, dass die Zulassung einer Aussage, die vor der Hauptverhandlung von einem dabei abwesenden Zeugen gemacht wurde und das einzige bzw. entscheidende belastende Beweismittel darstellt, nicht automatisch zu einer Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 führt. Er hat erläutert, dass eine starre Anwendung der „Regel des einzigen bzw. entscheidenden Beweismittels (sole or decisive rule)“ (derzufolge ein Verfahren nicht fair ist, wenn eine Verurteilung des Angeklagten einzig oder in entscheidender Form auf den Aussagen von Zeugen beruht, die der Angeklagte zu keinem Stadium des Verfahrens befragen konnte – ibidem, Rdnrn. 128 und 147), der Art und Weise widersprechen würde, in der er das Recht auf ein faires Verfahren im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 gewöhnlich bewertet, indem er nämlich prüft, ob das Verfahren insgesamt fair war. Der Gerichtshof hat aber hinzugefügt, dass angesichts der Risiken im Zusammenhang mit den Aussagen abwesender Zeugen die Zulassung eines solchen Beweismittels einen wichtigen Faktor darstellt, der bei der Einschätzung der Fairness des Verfahrens insgesamt zu berücksichtigen ist (ibidem, Rdnrn. 146-147).

107. Nach den Grundsätzen aus dem Urteil Al-Khawaja und Tahery umfasst die Prüfung der Vereinbarkeit mit Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention, in denen die Aussagen eines in der Hauptverhandlung nicht erschienenen und nicht befragten Zeugen als Beweismittel verwendet werden, drei Stufen (ibidem, Rdnr. 152). Der Gerichtshof muss prüfen:

i. ob ein triftiger Grund vorlag, der das Nichterscheinen des Zeugen und folglich die Zulassung seiner Aussage als Beweismittel rechtfertigte (ibidem, Rdnrn. 119-125);

ii. ob die Aussage des abwesenden Zeugen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung gewesen ist (ibidem,Rdnrn. 119 und 126-147); und

iii. ob es ausgleichende Faktoren gab, insbesondere strenge Verfahrensgarantien, die ausreichten, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die der Verteidigung infolge der Zulassung eines solchen Beweismittels verursacht wurden und um die Fairness des Verfahrens insgesamt sicherzustellen (ibidem,Rdnr. 147).

108. Was die Anwendbarkeit der vorbezeichneten Grundsätze im Rahmen der unterschiedlichen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten anbelangt, insbesondere der common law-Systeme und der kontinentaleuropäischen Rechtssysteme, so erinnert der Gerichtshof daran, dass es für ihn zwar wichtig ist, die markanten Unterschiede zu berücksichtigen, die es zwischen den einzelnen Rechtssystemen und den von ihnen vorgesehenen Verfahren insbesondere in Bezug auf die Zulässigkeit von Beweismitteln gibt, er aber bei der Frage, ob Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d in einer bestimmten Sache beachtet worden sind oder nicht, dieselben Prüfmaßstäbe anwenden muss, unabhängig von der Rechtsordnung, aus der die Sache stammt (ibidem, Rdnr. 130).

109. Außerdem ist es bei Rechtssachen aufgrund einer Individualbeschwerde nicht Aufgabe des Gerichtshofs, die einschlägigen Rechtsvorschriften in abstrakter Form zu kontrollieren. Er muss sich im Gegenteil möglichst darauf beschränken, die Probleme zu untersuchen, die Gegenstand der vor ihm anhängigen Sache sind (siehe unter vielen anderen N.C. ./. Italien [GK], Nr. 24952/94, Rdnr. 56, CEDH 2002‑X, und Taxquet, a.a.O., Rdnr. 83). Wenn der Gerichtshof eine Sache prüft, berücksichtigt er selbstverständlich die Unterschiede, die es zwischen den Rechtssystemen der Vertragsparteien der Konvention gibt, wenn es sich um Fragen wie die Zulassung der Aussage eines abwesenden Zeugen und das daraus resultierende Erfordernis handelt, Garantien anzubieten, um die Fairness des Verfahrens sicherzustellen. Im vorliegenden Fall wird er solchen Unterschieden gebührend Rechnung tragen, wenn er insbesondere prüft, ob genügend Faktoren vorlagen, um die der Verteidigung infolge der Zulassung nicht konfrontierter Aussagen als Beweismittel verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren (vgl. Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 146).

b) Die Beziehung zwischen den drei Stufen der Prüfkriterien aus Al-Khawaja

110. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Anwendung der Grundsätze aus dem Urteil Al-Khawaja und Tahery und in seiner späteren Rechtsprechung die Notwendigkeitoffenbart, die Beziehung zwischen den drei vorgenannten Stufen der Kriterien aus Al-Khawaja klarzustellen, wenn zu prüfen ist, ob ein Verfahren mit der Konvention in Einklang steht, bei dem unkonfrontierte Aussagen von Belastungszeugen als Beweismittel zugelassen worden sind. Es ist offensichtlich, dass jede der drei Stufen dieser Kriterien zu prüfen ist, wenn der Gerichtshof – wie im Urteil Al-Khawaja und Tahery – die Frage in Bezug auf die erste Stufe (nämlich die, ob die Abwesenheit eines Zeugen in der Hauptverhandlung durch einen triftigen Grund gerechtfertigt war) und die im Rahmen der zweiten Stufe gestellte Frage bejaht (nämlich die, ob die Aussage des abwesenden Zeugen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten war (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnrn. 120 und 147). Der Gerichtshof sieht sich jedoch zu einer Klarstellung aufgerufen, ob er alle drei Stufen auch in den Fällen zu prüfen hat, in denen er die Frage zur ersten oder diejenige zur zweiten Stufe verneint, und er muss erläutern, in welcher Reihenfolge er sich mit diesen einzelnen Stufen befassen muss.

i. Zur Frage, ob das Fehlen eines triftigen Grundes für die Rechtfertigung des Nichterscheinens eines Zeugen aus sich heraus zu einer Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d führt

111. Was die Frage anbelangt, ob das Fehlen eines triftigen Grundes für die Rechtfertigung des Nichterscheinens eines Zeugen in der Hauptverhandlung (erste Stufe der Kriterien aus Al-Khawaja) aus sich heraus zu einer Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d führt, ohne dass es notwendig wäre, die zweite und dritte Stufe dieser Kriterien zu prüfen, trifft der Gerichtshof die folgende Feststellung: In seinem Urteil Al-Khawaja und Taheryhat er die Auffassung vertreten, dass die Frage, ob es gute Gründe dafür gibt, die Aussage eines abwesenden Zeugen zuzulassen, eine „Vorfrage“ ist, die geprüft werden muss, bevorüberhaupt in Betracht gezogen wird, ob die in Rede stehende Zeugenaussage das einzige bzw. entscheidende Beweismittel ist (ibidem, Rdnr. 120). Er hat auch ausgeführt, dass er sogar in Sachen, in denen die Aussage eines abwesenden Zeugen sich nicht als einziges bzw. entscheidendes Beweismittel herausstellte, eine Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d festgestellt hat mit der Begründung, dass nicht nachgewiesen worden sei, dass die fehlende Möglichkeit der Verteidigung zur Befragung des Zeugen durch einen triftigen Grund gerechtfertigt war (ibidem, m.w.N.).

112. Der Gerichtshof merkt an, dass das Erfordernis, das Nichterscheinen eines Zeugen zu rechtfertigen, in seiner Rechtsprechung in Verbindung mit der Frage entwickelt wurde, ob die Verurteilung des Angeklagten einzig oder in entscheidendem Maße auf der Aussage eines abwesenden Zeugen beruhte (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 128). Er erinnert daran, dass seinem Urteil Al-Khawaja und Tahery, in dem er von der Regel des „einzigen bzw. entscheidenden Beweismittels“ abgewichen ist, als Entscheidungsprinzip zugrundelag, eine unterscheidungslos angewandte Regel aufzugeben und zu einer herkömmlichen Prüfung der umfassenden Fairness des Verfahrens zurückzukehren (ibidem, Rdnrn. 146-147). Es wäre jedoch auf die Schaffung einer neuen unterscheidungslosen Regel hinausgelaufen, wenn ein Verfahren aus dem einzigen Grund als nicht fair angesehen würde, dass kein triftiger Grund für das Nichterscheinen eines Zeugen vorlag, selbst wenn das nicht konfrontativ erlangte Beweismittel (untested evidence) weder einzig noch entscheidend, also ohne Auswirkungen auf den Ausgang der Sache war.

113. Der Gerichtshof hebt hervor, dass er in einer Reihe von Rechtssachen im Anschluss an das Urteil Al-Khawaja und Tahery die Fairness des Verfahrens insgesamt anhand der drei Stufen der Kriterien aus Al-Khawaja geprüft hat (Salikhov ./. Russland, Nr. 23880/05, Rdnrn. 118 ff., 3. Mai 2012, Asadbeyli u.a. ./. Aserbeidschan, Nrn. 3653/05, 14729/05, 20908/05, 26242/05, 36083/05 und 16519/06, Rdnr. 134, 11. Dezember 2012, Yevgeniy Ivanov ./. Russland, Nr. 27100/03, Rdnrn. 45-50, 25. April 2013, und Şandru ./. Rumänien, Nr. 33882/05, Rdnrn. 62-70, 15 Oktober 2013). In anderen Sachen jedoch hat das Fehlen eines triftigen Grundes für die Rechtfertigung des Nichterscheinens eines Belastungszeugen dem Gerichtshof genügt, um eine Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d festzustellen (Rudnichenko ./. Ukraine, Nr. 2775/07, Rdnrn. 105-110, 11. Juli 2013, und Nikolitsas ./. Griechenland, Nr. 63117/09, Rdnr. 35, 3. Juli 2014, obwohl der Gerichtshof in der letztgenannten Sache die anderen Stufen der Kriterien aus Al-Khawaja geprüft hat, ibidem, Rdnrn. 36-39). In anderen Sachen wiederum hat er einen flexibleren Ansatz gewählt und erachtet, dass das Fehlen eines triftigen Grundes für die Rechtfertigung des Nichterscheinens eines Belastungszeugen einen entscheidenden Faktor darstellte, um einen Mangel an Fairness des Verfahrens festzustellen, es sei denn, die Aussage des abwesenden Zeugen war für den Ausgang der Sache nachweislich irrelevant (Chodorkowski und Lebedew ./. Russland, Nr. 11082/06 und 13772/05, Rdnrn. 709-716, 25. Juli 2013, Cevat Soysal./. Türkei, Nr. 17362/03, Rdnrn. 76-79, 23. September 2014, und Suldin ./.Russland, Nr. 20077/04, Rdnrn. 56-59, 16. Oktober 2014). Aufgrund des Vorstehenden (Rdnrn. 111-112) ist die Große Kammer der Ansicht, dass das Fehlen eines triftigen Grundes für die Rechtfertigung des Nichterscheinens eines Zeugen an sich nicht auf ein unfaires Verfahren schließen lässt. Dies vorausgeschickt, stellt der fehlende triftige Grund für die Rechtfertigung der Abwesenheit eines Belastungszeugen ein gewichtiges Element dar, wenn es darum geht, die Fairness des Verfahrens insgesamt zu bewerten; ein solcher Faktor kann dazu führen, dass zugunsten einer Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d entschieden wird.

ii. Zur Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren dennoch notwendig sind, wenn die nicht konfrontierte Aussage nicht das einzige bzw. entscheidende Beweismittel war

114. In seinem Urteil Al-Khawaja und Tahery hat der Gerichtshof sich mit dem Erfordernis genügend ausgleichender Faktoren befasst, um eine angemessene und korrekte Prüfung der Zuverlässigkeit von Aussagen abwesender Zeugen in Fällen sicherzustellen, in denen die Verurteilung des Angeklagten ausschließlich oder in entscheidendem Maße auf solchen Beweismitteln beruhte (ibidem, Rdnr. 147).

115. Was die Frage anbelangt, ob das Vorliegen genügend ausgleichender Faktoren selbst in den Fällen zu prüfen ist, in denen das Gewicht, das der Aussage eines abwesenden Zeugen beigemessen wird, nicht das erforderliche Maß erreicht hat, um als einziges bzw. entscheidendes Beweismittel für die Verurteilung des Angeklagten angesehen zu werden, erinnert der Gerichtshof daran, dass er es allgemein für notwendig erachtet, die Fairness des Verfahrens insgesamt zu bewerten. Dies umfasst gewöhnlich eine Prüfung sowohl der Bedeutung der nicht konfrontierten Aussagen für die Anklage sowie der Maßnahmen, die von den Justizbehörden getroffen werden, um die der Verteidigung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren (Gani ./. Spanien, Nr. 61800/08, Rdnr. 41, 19. Februar 2013, mit zahlreichen Nachweisen; s. auch Fafrowicz ./. Polen, Nr. 43609/07, Rdnrn. 58-63, 17. April 2012, Sellick und Sellick ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Nr. 18743/06, Rdnrn. 54-55, 16. Oktober 2012, betreffend die Aussagen abwesender Zeugen, die als „wichtig“ eingestuft wurden, Beggs ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 25133/06, Rdnrn. 156-159, 6. November 2012, betreffend die Aussage eines abwesenden Zeugen, die nur als eines von zahlreichen Indizienbeweisen eingestuft wurde, Štefančič ./. Slowenien, Nr. 18027/05, Rdnrn. 42-47, 25. Oktober 2012, betreffend die Aussage eines abwesenden Zeugen, die als ein Faktor beschrieben wurde, auf den die Verurteilung des Beschwerdeführers gestützt war, und Garofolo ./. Schweiz (Entsch.), Nr. 4380/09, Rdnrn. 52 und 56-57, 2. April 2013; siehe hingegen auch Matytsina ./. Russland, Nr. 58428/10, Rdnrn. 164-165, 27. März 2014, und Horncastle u.a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 4184/10, Rdnrn. 150-151, 16. Dezember 2014, wobei es sich um zwei Sachen handelt, in denen der Gerichtshof angesichts der geringen Bedeutung der Aussage des abwesenden Zeugen nicht ergründet hat, ob ausgleichende Faktoren vorlagen).

116. Da es das Anliegen des Gerichtshofs ist, sicherzustellen, dass das Verfahren insgesamt fair ist, muss er prüfen, ob genügend ausgleichende Faktoren nicht nur in den Fällen vorlagen, in denen die Aussagen eines abwesenden Zeugen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten waren, sondern auch in den Fällen, in denen er nach seiner Bewertung des Gewichts solcher Aussagen durch die innerstaatlichen Gerichte (nach dem in Randnummer 124 oben eingehend beschriebenen Verfahren) es zwar für schwierig erachtet nachzuweisen, ob diese Faktoren das einzige bzw. entscheidende Beweismittel darstellten, er aber davon überzeugt ist, dass sie eine gewisse Bedeutung hatten und ihre Zulassung der Verteidigung möglicherweise Schwierigkeiten hat bereiten können. Das Ausmaß der ausgleichenden Faktoren, die notwendig sind, damit das Verfahren als fair gilt, hängt von der Bedeutung ab, die den Aussagen abwesender Zeugen beigemessen wird. Je größer diese Bedeutung ist, umso nachhaltiger müssen die ausgleichenden Faktoren sein, damit das Verfahren in seiner Gesamtheit als fair gilt.

iii. Die Reihenfolge der drei Stufen der Kriterien aus Al-Khawaja

117. Der Gerichtshof stellt fest, dass er in der Sache Al-Khawaja und Tahery der Ansicht war, dass die Frage, ob das Nichterscheinen des Zeugen durch einen triftigen Grund gerechtfertigt war (erste Stufe) und folglich, ob es gute Gründe dafür gab, die Aussage dieses Zeugen als Beweismittel zuzulassen, eine Vorfrage darstellte, die geprüft werden musste, bevor zu klären war, ob die in Rede stehende Zeugenaussage das einzige bzw. entscheidende Beweismittel war (zweite Stufe – ibidem, Rdnr. 120). Die Formulierung „Vorfrage“ in diesem Kontext kann in zeitlicher Hinsicht verstanden werden: Das Tatgericht muss zunächst entscheiden, ob ein triftiger Grund vorliegt, wonach das Nichterscheinen des Zeugen gerechtfertigt ist, und ob infolgedessen die Aussage des abwesenden Zeugen zugelassen werden kann. Erst wenn diese Aussage als Beweismittel zugelassen worden ist, kann das Tatgericht am Ende des Verfahrens und unter Berücksichtigung aller beigebrachten Beweismittel die Bedeutung der Aussage des abwesenden Zeugen einstufen und insbesondere die Frage beantworten, ob diese Aussage das einzige bzw. entscheidende Beweismittel für die Verurteilung des Angeklagten ist. Wie wichtig die ausgleichenden Faktoren (dritte Stufe) sein müssen, um die Fairness des Verfahrens insgesamt zu gewährleisten, hängt davon ab, welches Gewicht der Aussage des abwesenden Zeugen beigemessen wird.

118. Unter diesen Umständen dürfte es in aller Regel angemessen sein, die drei Stufen der Kriterien aus Al-Khawaja in der in diesem Urteils festgelegten Reihenfolge zu prüfen (Randnummer. 107). Allerdings hängen die drei Prüfkriterien von einander ab und dienen zusammengenommen der Feststellung, ob das in Rede stehende Strafverfahren insgesamt fair gewesen ist. Es könnte demnach im Einzelfall angemessen sein, diese Kriterien in einer anderen Reihenfolge zu prüfen, insbesondere wenn eines dieser Kriterien sich als besonders aussagekräftig für die Feststellung erweist, ob das Verfahren fair gewesen ist oder nicht (siehe diesbezüglich z.B. Nechto ./. Russland, Nr. 24893/05, Rdnrn. 119-125 und 126-127, 24. Januar 2012, Mitkus ./. Lettland, Nr. 7259/03, Rdnrn. 101-102 und 106, 2. Oktober 2012, Gani, a.a.O., Rdnrn. 43-45, und Şandru, a.a.O., Rdnrn. 62-66; in all diesen Sachen ist die zweite Stufe, d.h. die Beantwortung der Frage, ob die Aussagen des abwesenden Zeugen das einzige bzw. entscheidende Beweismittel gewesen ist, vor der ersten Stufe geprüft worden, d.h. vor der Frage, ob ein triftiger Grund für die Rechtfertigung des Nichterscheinens des Zeugen vorlag).

(1) c) Grundsätze in Bezug auf jede der drei Stufen der in dem Urteil Al-Khawaja entwickelten Kriterien

(a) i. Zur Frage, ob die Abwesenheit eines Zeugen während der Hauptverhandlung durch einen triftigen Grund gerechtfertigt war

119. Aus der Sicht des Tatgerichts muss es einen solchen Grund geben, d.h. dass das Gericht gute sachliche oder rechtliche Gründe dafür gehabt haben muss, das Erscheinen eines Zeugen in der Hauptverhandlung nicht sicherzustellen. Sollte ein triftiger, das Nichterscheinen des Zeugen in dem so definierten Sinn rechtfertigender Grund vorliegen, so ergibt sich daraus, dass es einen guten Grund oder eine Rechtfertigung dafür gab, dass das Tatgericht die unkonfrontiert gebliebene Aussage des abwesenden Zeugen als Beweismittel zuließ. Das Nichterscheinen eines Zeugen in einer Verhandlung lässt sich durch verschiedene Gründe erklären, beispielsweise die Angst oder den Tod des Betroffenen (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnrn. 120-125), gesundheitliche Gründe (siehe zum Beispiel,Bobeş ./. Rumänien, Nr. 29752/05, Rdnrn. 39-40, 9. Juli 2013, Vronchenko ./. Estland, Nr. 59632/09, Rdnr. 58, 18. Juli 2013, und Matytsina, a.a.O., Rdnr. 163), oder aber die Unerreichbarkeit des Zeugen.

120. In Fällen, bei denen es um die Abwesenheit eines Zeugen wegen Unerreichbarkeit geht, verlangt der Gerichtshof vom Tatgericht, dass es alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, um das Erscheinen des Betroffenen sicherzustellen (Gabrielyan ./. Armenien, Nr. 8088/05, Rdnr. 78, 10. April 2012, Tseber ./. Tschechische Republik, Nr. 46203/08, Rdnr. 48, 22. November 2012, und Kostecki ./. Polen, Nr. 14932/09, Rdnr. 65-66, 4. Juni 2013). Die Tatsache, dass es den innerstaatlichen Gerichten nicht möglich war, den Zeugen ausfindig zu machen, oder die Tatsache, dass dieser das Hoheitsgebiet des Landes, in dem das Verfahren geführt wird, verlassen hat, wurde als solche für unzureichend erachtet, um den Bestimmungen des Artikels 6 Absatz 3 Buchstabe d gerecht zu werden, der von den Vertragsstaaten verlangt, dass sie positive Maßnahmen ergreifen, um dem Angeklagten zu ermöglichen, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen (Gabrielyan, a.a.O., Rdnr. 81, Tseber, a.a.O., Rdnr. 48, und Lučić ./. Croatie, Nr. 5699/11, Rdnr. 79, 27. Februar 2014). Solche Maßnahmen zählen nämlich zu der Sorgfalt, zu der die Vertragsstaaten verpflichtet sind, um den tatsächlichen Genuss der Rechte aus Artikel 6 zu gewährleisten (Gabrielyan, a.a.O., Rdnr. 81, m.w.N.), da andernfalls den innerstaatlichen Behörden die Abwesenheit des Zeugen anzulasten ist (Tseber, a.a.O., Rdnr. 48, und Lučić, a.a.O., Rdnr. 79).

121. Es ist nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, eine Liste für die konkreten Maßnahmen zu erstellen, die von den innerstaatlichen Gerichten zu ergreifen sind, damit gesagt werden kann, sie hätten alle zumutbaren Anstrengungen unternommen, um das Erscheinen eines Zeugen zu gewährleisten, den sie letzten Endes nicht ausfindig machen konnten (Tseber, a.a.O., Rdnr. 49). Es steht jedoch außer Frage, dass sie mit Hilfe der innerstaatlichen Behörden, insbesondere der Polizei, aktiv den Zeugen gesucht (Salikhov, a.a.O., Rdnrn. 116-117, Prăjină ./. Rumänien, Nr. 5592/05, Rdnr. 47, 7. Januar 2014, und Lucic, a.a.O., Rdnr. 79), und im Allgemeinen auf die internationale Rechtshilfe zurückgegriffen haben müssen, wenn der fragliche Zeuge im Ausland wohnte und ein solcher Mechanismus zur Verfügung stand (Gabrielyan, a.a.O., Rdnr. 83, Fafrowicz, a.a.O., Rdnr. 56, Lucic, a.a.O., Rdnr. 80, und Nikolitsas, a.a.O., Rdnr. 35).

122. Damit die Behörden so angesehen werden, als hätten sie alle angemessenen Anstrengungen unternommen, um das Erscheinen eines Zeugen sicherzustellen, müssen auch die innerstaatlichen Gerichte die Gründe sorgfältig geprüft haben, die angeführt wurden, um nachzuweisen, dass der Zeuge der Hauptverhandlung nicht beiwohnen konnte, und zwar unter Berücksichtigung der besonderen Situation des Zeugen (Nechto, a.a.O., Rdnr. 127, DamirSibgatullin, a.a.O., Rdnr. 56, und Yevgeniy Ivanov, a.a.O., Rdnr. 47).

(b) ii. Zur Frage, ob die Aussage des abwesenden Zeugen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten war

123. In Bezug auf die Frage, ob die als Beweismittel zugelassene Aussage eines abwesenden Zeugen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten war (zweite Stufe der Kriterien aus Al-Khawaja), ruft der Gerichtshof in Erinnerung, dass das Wort „einzig (sole/unique)“ auf das einzige Beweismittel verweist, das gegen den Angeklagten vorliegt (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 131). Der Begriff „entscheidend (decisive/déterminante)“ muss eng, nämlich dahin ausgelegt werden, dass das Beweismittel nach Bedeutung und Gewicht für die Entscheidung über die Sache ausschlaggebend sein kann. Wird die Aussage eines nicht in der Hauptverhandlung erschienenen Zeugen durch andere Beweismittel erhärtet, wird die Prüfung, ob diese entscheidend ist, von der Beweiskraft dieser anderen Beweismittel abhängen: Je größer die Beweiskraft der stützenden Beweismittel ist, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass die Aussage des abwesenden Zeugen als entscheidend gilt (ibidem, Rdnr. 131).

124. Da der Gerichtshof nicht als vierte Instanz auftreten kann (Nikolitsas, a.a.O., Rdnr. 30), um zu entscheiden, ob die Verurteilung eines Beschwerdeführers ausschließlich oder in entscheidendem Maße auf den Aussagen von abwesenden Zeugen beruht, muss er sich auf die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte stützen (Beggs, a.a.O., Rdnr. 156, Kostecki, a.a.O., Rdnr. 67, und Horncastle, a.a.O., Rdnrn. 141 und 150) Er muss die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte im Lichte der Bedeutung, die er den Begriffen „einziges (sole/unique) Beweismittel“ und „entscheidendes (decisive/déterminante) Beweismittel“ zuschreibt, überprüfen und sich selbst vergewissern, ob die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Bewertung des Gewichts des Beweismittels inakzeptabel oder willkürlich war (vgl. beispielsweise McGlynn ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Nr. 40612/11, Rdnr. 23, 16. Oktober 2012, und Garofolo, a.a.O., Rdnrn. 52-53). Er muss ferner seine eigene Würdigung des Beweiswerts der Aussage eines abwesenden Zeugen vornehmen, wenn die innerstaatlichen Gerichte ihre diesbezügliche Meinung nicht mitgeteilt haben oder diese nicht klar ist (vgl. beispielsweise Fafrowicz, a.a.O., Rdnr. 58, Pichugin ./. Russland, Nr. 38623/03, Rdnrn. 196‑200, 23. Oktober 2012, Tseber, a.a.O., Rdnrn. 54-56, und Nikolitsas, a.a.O., Rdnr. 36).

(c) iii. Zur Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen, um die der Verteidigung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren

125. In Bezug auf die Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen, um die der Verteidigung infolge der Zulassung nicht konfrontierter Aussagen als Beweismittel verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren (dritte Stufe der Prüfungsschritte aus Al-Khawaja), weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese ausgleichenden Faktoren eine korrekte und faire Würdigung der Zuverlässigkeit solcher Beweismittel gestatten müssen (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 147).

126. Die Tatsache, dass die innerstaatlichen Gerichte unkonfrontiert gebliebene Aussagen eines abwesenden Zeugen vorsichtig geprüft haben, wurde vom Gerichtshof als eine bedeutende Garantie angesehen (vgl. Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 161, Gani, a.a.O., Rdnr. 48, und Brzuszczyński ./. Polen, Nr. 23789/09, Rdnrn. 85‑86, 17. September 2013). Die Gerichte müssen aufgezeigt haben, dass sie sich des geringeren Beweiswerts der Aussagen des abwesenden Zeugen bewusst waren (vgl. Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 157, und Bobeş, a.a.O., Rdnr. 46). In diesem Zusammenhang prüft der Gerichtshof, ob die innerstaatlichen Gerichte eingehend dargelegt haben, weshalb sie diese Zeugenaussagen auch unter Berücksichtigung der anderen verfügbaren Beweismittel für zuverlässig hielten (Brzuszczyński, a.a.O., Rdnrn. 85-86 und 89, Prăjină, a.a.O., Rdnr. 59, und Nikolitsas, a.a.O., Rdnr. 37). Der Gerichtshof berücksichtigt ebenfalls die den Geschworenen vom Tatgericht erteilten Anweisungen, wie die Aussage eines abwesenden Zeugen zu bewerten ist (siehe z.B. Sellick und Sellick, a.a.O., Rdnr. 55).

127. Die Vorführung einer Videoaufzeichnung der Befragung des abwesenden Zeugen aus dem Ermittlungsverfahren, kann im Übrigen eine weitere Garantie darstellen, die es dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung ermöglicht, das Verhalten des Zeugen während der Vernehmung zu beobachten und sich eine eigene Meinung über seine Glaubwürdigkeit zu bilden (A.G. ./. Schweden, a.a.O., Chmura ./. Polen, Nr. 18475/05, Rdnr. 50, 3. April 2012, D.T ./. Niederlande (Entsch.), Nr. 25307/10, Rdnr. 50, 2. April 2013, Yevgeniy Ivanov, a.a.O., Rdnr. 49, Rosin ./. Estland, Nr. 26540/08, Rdnr. 62, 19. Dezember 2013, und Gonzáles Nájera ./. Spanien (Entsch.), Nr. 61047/13, Rdnr. 54, 11. Februar 2014).

128. Eine weitere bedeutende Garantie stellt die Beibringung von Beweismitteln in der Hauptverhandlung zur Erhärtung der nicht konfrontierten Aussage dar (siehe u.a., Sică ./. Rumänien, Nr. 12036/05, Rdnrn. 76-77, 9. Juli 2013, Brzuszczyński, a.a.O., Rdnr. 87, und Prăjină, a.a.O., Rdnrn. 58 und 60). Zu diesen Beweismitteln zählen insbesondere die Aussagen von Personen in der Hauptverhandlung, denen der abwesende Zeuge die Ereignisse unmittelbar nach deren Eintritt berichtet hat (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 156, McGlynn, a.a.O., Rdnr. 24, D.T. ./. Niederlande, a.a.O., Rdnr. 50, und Gonzáles Nájera, a.a.O., Rdnr. 55), weitere im Zusammenhang mit der Straftat gesicherte Sachbeweise, insbesondere rechtsmedizinischer Daten (siehe z.B., McGlynn, a.a.O., Rdnr. 24, bezüglich der DNA), oder Gutachten über die Verletzungen oder die Glaubwürdigkeit des Geschädigten (vgl. Gani, a.a.O., Rdnr. 61, Gonzáles Nájera, a.a.O., Rdnr. 56, und Rosin, a.a.O., Rdnr. 61). Der Gerichtshof hat ferner als wichtigen Faktor zur Stützung der Aussage eines abwesenden Zeugen die Tatsache angesehen, dass starke Ähnlichkeiten bestanden zwischen der Beschreibung der Straftat durch den abwesenden Zeugen, von der er behauptet, sie sei gegen ihn gerichtet gewesen, und der Beschreibung einer vergleichbaren, von demselben Angeklagten begangenen Straftat durch einen anderen Zeugen, wobei nichts auf eine Absprache schließen ließ. Dies gilt umso mehr, wenn dieser letztgenannte Zeuge in der Verhandlung aussagt und seine Glaubwürdigkeit durch ein Kreuzverhör überprüft wird (vgl. Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 156).

129. Überdies bedeutet in Fällen, in denen ein Zeuge abwesend ist und nicht in der Hauptverhandlung befragt werden kann, die Möglichkeit, die der Verteidigung geboten wird, dem Zeugen indirekt, beispielsweise schriftlich, im Lauf der Verhandlung ihre eigenen Fragen zu stellen, eine wichtige Garantie (Yevgeniy Ivanov, a.a.O., Rdnr. 49, und S. ./. Deutschland, Nr. 14212/10, Rdnr. 60, 18. Dezember 2014).

130. Die Tatsache, dass dem Beschwerdeführer oder dem Verteidiger die Gelegenheit gegeben wird, den Zeugen im Ermittlungsstadium zu befragen, stellt ebenfalls eine grundlegende Garantie dar, die es ermöglicht, die der Verteidigung infolge der Zulassung nicht konfrontierter Aussagen in der Hauptverhandlung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren (siehe u.a., A.G. ./. Schweden, a.a.O., Gani, a.a.O., Rdnr. 48, und Şandru, a.a.O., Rdnr. 67). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass es, sobald die Ermittlungsbehörden im Ermittlungsstadium zu der Einschätzung gelangt waren, dass ein Zeuge in der Hauptverhandlung nicht angehört würde, von wesentlicher Bedeutung war, der Verteidigung die Gelegenheit zu geben, dem Tatopfer während der Vorermittlungen Fragen zu stellen (Rosin, a.a.O., Rdnrn. 57 ff., insbesondere Rdnrn. 57 und 60, und Vronchenko, a.a.O., Rdnrn. 61 und 63, diese beiden Rechtssachen betreffen die Abwesenheit des minderjährigen Opfers einer Sexualstraftat in der Hauptverhandlung zum Schutz des Kindeswohls; vgl. auch Aigner ./. Österreich, Nr. 28328/03, Rdnrn. 41-42, 10. Mai 2012, und Trampevski, a.a.O., Rdnr. 45). Solche der Hauptverhandlung vorgelagerte Vernehmungsverhandlungen (pre-trial hearings) werden im Übrigen häufig durchgeführt, um der Gefahr vorzubeugen, dass ein entscheidender Zeuge nicht zur Verfügung steht, um vor Gericht zu erscheinen (Chmura, a.a.O., Rdnr. 51).

131. Dem Angeklagten muss ferner die Möglichkeit eingeräumt werden, seine eigene Version des Sachverhalts zu schildern und die Glaubwürdigkeit des abwesenden Zeugen in Zweifel zu ziehen, indem jegliche Nichtübereinstimmung oder jeglicher Widerspruch in Bezug auf die Aussagen anderer Zeugen betont wird (Aigner, a.a.O., Rdnr. 43, D.T. ./. Niederlande, a.a.O., Rdnr. 50, Garofolo, a.a.O., Rdnr. 56, und Gani, a.a.O., Rdnr. 48). Kennt die Verteidigung die Identität des Zeugen, kann sie die Gründe ermitteln und analysieren, aus denen der Zeuge möglicherweise lügt, und folglich seine Glaubwürdigkeit in seiner Abwesenheit wirksam anzweifeln, wenn auch in geringerem Maß als bei einer unmittelbaren Konfrontation (Tseber, a.a.O., Rdnr. 63, Garofolo, a.a.O., Rdnr. 56, Sică, a.a.O., Rdnr. 73, und Brzuszczyński, a.a.O., Rdnr. 88).

ii) 2. Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

(1) a) Zur Frage, ob die Abwesenheit der Zeuginnen O. und. P. in der Hauptverhandlung durch einen triftigen Grund gerechtfertigt war

132. Im vorliegenden Fall untersucht der Gerichtshof zunächst, ob aus der Sicht des Tatgerichts ein triftiger Grund für das Nichterscheinen der Belastungszeugen O. und P. in der Hauptverhandlung vorlag, und ob daher dieses Gericht einen guten Grund oder eine Rechtfertigung dafür hatte, die unkonfrontiert gebliebenen Aussagen der abwesenden Zeugen als Beweismittel zuzulassen (Randnummer 119).

133. Um festzustellen, ob das Landgericht gute sachliche oder rechtliche Gründe hatte, die Anwesenheit von O. und P. in der Hauptverhandlung nicht sicherzustellen, weist der Gerichtshof zu Beginn darauf hin, dass dieses Gericht, wie der Beschwerdeführer zu Recht betont, den Gesundheitszustand oder die Befürchtungen der beiden Zeuginnen nicht als Rechtfertigung für ihr Nichterscheinen vor Gericht zugelassen hat.

134. Das wird durch die Tatsache belegt, dass das Landgericht mit Schreiben vom 29. August 2007 die beiden in Lettland wohnenden Frauen aufgefordert hat, zur Sitzung zu erscheinen, obgleich sie sich zuvor geweigert hatten, der gerichtlichen Ladung nachzukommen und sich auf ärztliche Atteste beriefen, in denen ihr emotionaler und psychischer Zustand als instabil und nachtraumatisch eingestuft wurde (Randnummern 23-24). Im Anschluss an die Streichung der Sitzung durch das lettische Gericht, dem O. und P. erneut ärztliche Atteste vorgelegt hatten, aus denen hervorging, dass sie noch immer an nachtraumatischen Störungen litten, hat das Landgericht das lettische Gericht darüber unterrichtet, dass nach den Vorschriften des deutschen Strafverfahrensrechts die von den beiden Zeuginnen vorgebrachten Gründe nicht ausreichten, um ihre Verweigerung der Aussage zu rechtfertigen. Das Landgericht hat daher dem zuständigen lettischen Gericht vorgeschlagen, den Gesundheitszustand und die Aussagefähigkeit der beiden Frauen durch einen Amtsarzt prüfen zu lassen oder hilfsweise ihr Erscheinen zu erzwingen. Das lettische Gericht hat auf diese Vorschläge nicht reagiert (Randnummern 26-27).

135. Erst nachdem sich diese Bemühungen um eine persönliche Vernehmung von O. und P. als vergeblich herausgestellt hatten, gelangte das Landgericht zu der Auffassung, dass nicht zu beseitigende Hindernisse es daran hinderten, sie in naher Zukunft zu vernehmen. Gemäß § 251 Absatz 1 Nr. 2 und Absatz 2 Nr. 1 Strafprozessordnung hat das Landgericht daher als Beweismittel die Niederschriften über die im Ermittlungsverfahren durchgeführten Vernehmungen von O. und P. zugelassen (Randnummer 28). Somit hat das Landgericht diese Maßnahme nicht wegen des Gesundheitszustands oder der Befürchtungen der beiden Frauen getroffen (ein materieller oder tatsächlicher Grund), sondern wegen der Unerreichbarkeit der Zeuginnen für das Gericht, dem die Befugnis fehlte, sie zum Erscheinen zu zwingen (ein verfahrensrechtlicher oder rechtlicher Grund).

136. Wie es in Fällen betreffend die Abwesenheit eines Belastungszeugen wegenUnerreichbarkeit erforderlich ist, muss der Gerichtshof prüfen, ob das Tatgericht alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, um das Erscheinen des Zeugen sicherzustellen (Randnummer 120). Hierzu weist er darauf hin, dass das Landgericht beachtliche positive Schritte unternommen hat, um es der Verteidigung, dem Gericht selbst und der Staatsanwaltschaft zu ermöglichen, O. und P. zu befragen.

137. Nachdem das Landgericht die von den beiden Frauen zur Rechtfertigung ihrer Weigerung, der Verhandlung in Deutschland beizuwohnen, vorgetragenen Gründe, die in den vorgelegten ärztlichen Attesten dargelegt sind, kritisch geprüft hatte, und, wie weiter oben ausgeführt, der Meinung war, dass diese Gründe nicht ausreichten, um ihr Nichterscheinen zu rechtfertigen, hat es mit jeder der beiden Kontakt aufgenommen, um ihnen verschiedene Vorschläge zu unterbreiten, die es ihnen ermöglichen würden, vor dem Gericht auszuzsagen; diese Möglichkeiten wurden von den beiden Frauen abgelehnt.

138. Das Landgericht hat sodann den Rechtshilfeweg beschritten und ersucht, dass O. und P. vor ein lettisches Gericht geladen werden, damit der Vorsitzende Richter am Landgericht sie per Videokonferenz vernehmen kann und um der Verteidigung zu gestatten, sieins Kreuzverhör zu nehmen. Der Vernehmungstermin wurde durch das lettische Gericht jedoch aufgehoben, das die Weigerung der beiden Frauen, sich vernehmen zu lassen, aufgrund der von ihnen vorgelegten ärztlichen Atteste anerkannte. Nachdem das Landgericht – wie weiter oben ausgeführt wird – die von den Betroffenen zur Rechtfertigung ihres Fernbleibens vorgetragenen Gründe erneut einer kritischen Prüfung unterzogen hat, hat es sogar angeregt, das lettische Gericht möge den Gesundheitszustand der Zeuginnen amtsärztlich prüfen lassen oder ihr Erscheinen zwangsweise durchsetzen. Die Vorschläge blieben unbeantwortet (siehe dazu ausführlicher in den Randnummern 23-27).

139. Die Große Kammer schließt sich der Meinung der Kammer an und vertritt vor diesem Hintergrund die Auffassung, dass das Landgericht alle im bestehenden rechtlichen Rahmen zumutbaren Anstrengungen unternommen hat (Randnummern 64-66), um die Anwesenheit von O. und P. in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Diesem Gericht stand im deutschen Hoheitsgebiet im Rahmen seiner Zuständigkeit kein weiteres angemessenes Mittel zur Verfügung, um das Erscheinen der beiden Frauen, lettische Staatsangehörige, die sich in ihrem Heimatland aufhalten, sicherzustellen. Der Gerichtshof ist insbesondere der Auffassung, dass nichts darauf hindeutet, dass das Tatgericht die Vernehmung der Zeugen innerhalb angemessener Frist nach bilateralen Verhandlungen, die auf politische Ebene mit der lettischen Republik geführt worden wären, hätte bewirken können, wie der Beschwer-deführer vorgibt. Gemäß dem Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ war die Abwesenheit der beiden Zeuginnen daher nicht dem innerstaatlichen Gericht anzulasten.

140. Aus Sicht des Tatgerichts lag folglich ein triftiger Grund vor, der das Nichterscheinen der Zeuginnen O. und P. und infolgedessen die Zulassung ihrer Aussagen vor der Polizei und dem Ermittlungsrichter vor der Hauptverhandlung als Beweise rechtfertigte.

(2) b) Zur Frage, ob die Aussagen der abwesenden Zeuginnen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers war

141. Um zu bestimmen, wie wichtig die Aussagen abwesender Zeugen sind und insbesondere ob diese Aussagen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers waren, muss der Gerichtshof vor allem die Einschätzung berücksichtigen, die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommen wurde. Er weist darauf hin, dass das Landgericht O. und P. als „maßgebliche Belastungszeuginnen“[1] angesehen hat, dass es sich jedoch auf andere, ihm zur Verfügung stehende Beweismittel gestützt hat (Randnummern 32 und 36). Der Bundesgerichtshof hat seinerseits das vom Beschwerdeführer eingelegte Rechtsmittel als unbegründet verworfen und sich dafür in allgemeiner Weise auf die Argumentation des Generalstaatsanwaltsgestützt. Dieser war der Meinung, dass diese Aussagen nicht die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Beschwerdeführers waren, da das Landgericht sich auf andere bedeutsame (significant) Beweismittel gestützt habe, als es seine Schlüsse zog (Randnummer 49).

142. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte zwar die Aussagen von O. und P. nicht als einziges (d.h. das alleinige) Beweismittel angesehen haben, sie aber dennoch nicht eindeutig angegeben haben, ob sie diese Aussagen als „entscheidend (decisive/déterminant)“ in dem Sinn angesehen haben, den er diesem Begriff in dem Urteil Al-Khawaja und Tahery (das wiederum ergangen ist, nachdem die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall ergangen waren) gegeben hat, d.h. als Beweismittel, dessen Bedeutung dergestalt ist, dass es für die Entscheidung über die Sache ausschlaggebend sein kann (Randnummer 123). Die Einstufung der Zeuginnen durch das Landgericht als „maßgeblich[2]“, (wobei der Begriff mit „key/essentiel“, aber auch mit „important“, „significatif/significative“ oder „decisive/déterminant“ übersetzt werden kann), ist nicht eindeutig. Die allgemeine Bezugnahme des Bundesgerichtshofs auf die vom Generalstaatsanwalt dargelegte Argumentation, demzufolge die Aussagen der Zeuginnen nicht die einzige bzw. entscheidende Grundlage der Verurteilung des Beschwerdeführers darstellten (Randnummer 49), kann im Übrigen nicht so verstanden werden, als habe dieses Gericht allen vom Staatsanwalt vorgetragenen Argumenten beigepflichtet.

143. Für seine eigene Würdigung – im Lichte der Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte – der Bedeutung der streitgegenständlichen Aussagen, muss der Gerichtshof die Beweiskraft der anderen beigebrachten Beweise berücksichtigen (Randnummer 123). Er merkt an, dass dem Landgericht insbesondere die anderen folgenden Beweismittel im Zusammenhang mit der Straftat zur Verfügung standen: die Aussagen der Zeuginnen vom Hörensagen, die von der Nachbarin E. und der Freundin L. der beiden Frauen in der Hauptverhandlung gemacht wurden, und die den Bericht betrafen, den O. und P. ihnen von den Ereignissen am 3. Februar 2007 geliefert hatten; das eigene Geständnis des Beschwerdeführers, der in der Hauptverhandlung eingeräumt hat, dass er im Zeitpunkt der Tat in der Wohnung gewesen sei und vom Balkon gesprungen sei, um die Verfolgung von P. aufzunehmen; die Geolokalisierungsdaten und die Aufzeichnungen der beiden Telefongespräche zwischen dem Beschwerdeführer und einem seiner Mitangeklagten zum Zeitpunkt der fraglichen Vorkommnisse, aus denen hervorging, dass sich der Beschwerdeführer in einer Wohnung in dem Gebiet befand, in dem die Tat begangen worden war, und dass er vom Balkon gesprungen war, um eine der Bewohnerinnen, die flüchtete, zu verfolgen; die GPS-Daten, die zeigten, dass das Fahrzeug eines der Mitangeklagten zur Zeit der Tatbegehung in der Nähe der Wohnung der beiden Frauen geparkt hat; und schließlich die Beweismittel in Bezug auf die von dem Beschwerdeführer und einem Mittäter am 14. Oktober 2006 in Kassel begangene Straftat.

144. Angesichts dieser Beweismittel kommt der Gerichtshof nicht umhin, festzustellen, dass O. und P. die einzigen Augenzeugen des fraglichen Zwischenfalls waren. Bei den außer ihren Aussagen zur Verfügung stehenden Beweisen handelte es sich entweder einzig um Aussagen von Zeugen vom Hörensagen oder lediglich um Indizbeweismittel technischer oder sonstiger Art, die für sich genommen keinen abschließenden Nachweis erlaubten, dass ein Einbruch und eine Erpressung vorlag. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Aussagen der abwesenden Zeuginnen „entscheidend“ waren, d.h. dass sie für die Entscheidung über die Rechtssache ausschlaggebend waren.

(3) c) Zur Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren vorlagen, um die der Verteidigung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren

145. Der Gerichtshof hat ferner eine dritte Stufe zu prüfen, nämlich das etwaige Vorliegen genügend ausgleichender Faktoren, um die Schwierigkeiten zu kompensieren, unter denen die Verteidigung wegen der Zulassung der abwesenden Zeuginnen als entscheidendes Beweismittel litt. Wie weiter oben ausgeführt wurde (Randnummern 125-131), sind die folgenden Faktoren hierbei maßgeblich: die Art, in der das Tatgericht mit nicht konfrontierten Aussagen als Beweismittel umgegangen ist, die Zulassung anderer belastender Beweise und deren Beweiswert sowie die Verfahrensmaßnahmen, die ergriffen wurden, um die Unmöglichkeit zu kompensieren, die beiden Zeuginnen in der Hauptverhandlung ins Kreuzverhör zu nehmen.

(a) i. Die Art, in der das Tatgericht mit unkonfrontiert gebliebenen Aussagen als Beweismittel umgegangen ist

146. In Bezug auf die Haltung der innerstaatlichen Gerichte gegenüber den Aussagen von O. und P. stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht diesen Aussagen mit Vorsicht gegenüber getreten ist: Es hat in seinem Urteil ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich veranlasst gesehen hat, die Glaubwürdigkeit der beiden Frauen besonders sorgfältig zu prüfen, da weder die Verteidigung noch es selbst in der Lage gewesen sei, deren Verhalten in der Hauptverhandlung in Frage zu stellen und zu beobachten.

147. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass sich das Landgericht in der Hauptverhandlung keine Aufzeichnung der Videovernehmung der Zeuginnen vor dem Ermittlungsrichter ansehen konnte, da diese Vernehmung nicht aufgezeichnet worden ist. Er betont, dass die Tatgerichte in verschiedenen Rechtsordnungen auf diese Möglichkeit zurückgreifen (vgl. die in Randnummer 127 angeführten Beispiele), die es ihnen, ebenso wie der Verteidigung und auch der Staatsanwaltschaft gestattet, das Verhalten der Zeugen zu beobachten, während sie vernommen werden, und sich einen genaueren Eindruck von der Glaubwürdigkeit der Betroffenen zu verschaffen.

148. In seinem sorgsam begründeten Urteil hat das Landgericht ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass es sich bewusst ist, dass die unkonfrontiert gebliebenen Zeugenaussagen einen eingeschränkten Beweiswert haben. Es hat den Inhalt der verschiedenen Aussagen von O. und P. im Ermittlungsstadium verglichen und festgestellt, dass die beiden Frauen die Tatumstände detailliert und übereinstimmend geschildert hatten. Es war der Auffassung, die kleineren Widersprüche bei den Aussagen der Betroffenen könnten durch ihre Sorge erklärt werden, gegenüber den Behörden nicht ihre beruflichen Tätigkeiten zu enthüllen. Es hat ferner darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dass O. und P. den Beschwerdeführer nicht identifiziert hatten, zeige, dass sie nicht ausgesagt hatten, um ihn zu belasten.

149. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen auch die verschiedenen Aspekte ihres Verhaltens in Bezug auf ihre Aussagen berücksichtigt hat. Das innerstaatliche Gericht hat somit der Tatsache Rechnung getragen, dass die beiden Frauen der Polizei nicht unmittelbar von dem Vorfall berichtet hatten und dass sie sich ohne triftigen Entschuldigungsgrund geweigert hatten, vor Gericht zu erscheinen. Es erwog, dass sich dieses Verhalten durch mehrere Gründe erklären lasse – nämlich die Angst der Betroffenen, Probleme mit der Polizei zu bekommen, oder ihre Angst vor der Rache der Täter sowie ihr Unbehagen bei der Vorstellung, sich die Ereignisse wieder in Erinnerung rufen zu müssen und hierzu befragt zu werden – und ihre Glaubwürdigkeit daher nicht erschüttere.

150. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Landgericht die Glaubwürdigkeit der abwesenden Zeuginnen und die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen sorgfältig geprüft hat. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass seine Aufgabe, die darin besteht, die Art und Weise zu kontrollieren, in der das Tatgericht das nicht konfrontierte Beweismittel würdigt, im vorliegenden Fall dadurch erleichtert wird, dass das Landgericht, wie es in den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen üblich ist, seine Würdigung der vor ihm aufgenommenen Beweise begründet hat.

(b) ii. Verfügbarkeit und Beweiswert der anderen belastenden Umstände

151. Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass dem Landgericht wie oben ausgeführt (Randnummern 143-144) weitere Aussagen von Zeugen vom Hörensagen und andere belastende Beweismittel zur Verfügung standen, welche die Aussagen von O. und P. stützten.

(c) iii. Verfahrensmaßnahmen zum Ausgleich der Unmöglichkeit der unmittelbaren Befragung der Zeuginnen in der Hauptverhandlung

152. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte – auf die er sich berief –, seine eigene Version des Sachverhalts vom 3. Februar 2007 darzustellen und die Glaubwürdigkeit der abwesenden Zeuginnen in Frage zu stellen, deren Identität er kannte, auch indem er die anderen Personen ins Kreuzverhör nahm, die als Zeugen vom Hörensagen in der Hauptverhandlung aussagten.

153. Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass der Beschwerdeführer O. und P. nicht mittelbar befragen konnte, indem er ihnen beispielsweise schriftlich Fragen stellte. Außerdem wurde weder ihm selbst noch seinem Anwalt während des Ermittlungsverfahrens die Gelegenheit gegeben, diese Zeuginnen zu befragen.

154. Der Gerichtshof hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die Parteien sich nicht darüber einig sind, ob die Weigerung, dem Beschwerdeführer einen Pflichtverteidiger zu bestellen und diesem Anwalt zu gestatten, an der Vernehmung der Zeuginnen vor dem Ermittlungsrichter teilzunehmen, im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht stand oder nicht. Er hält es jedoch für die Zwecke dieses Verfahrens für nicht erforderlich, abschließend zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Er erinnert daran, dass es, wenn er die Beachtung des Artikels 6 der Konvention prüft, nicht seine Aufgabe ist festzustellen, ob die innerstaatlichen Gerichte gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften gehandelt haben (vgl. Schenk ./. Schweiz, 12. Juli 1988, Rdnr. 45, Serie A, Bd. 140, J. ./. Deutschland [GK], Nr 54810/00, Rdnr. 94, CEDH 2006‑IX, und Heglas ./. Tschechische Republik, Nr. 5935/02, Rdnr. 84, 1. März 2007), sondern dass seine Rolle darin besteht, die Fairness der Verhandlung insgesamt unter den besonderen Umständen der Rechtssache und insbesondere die Art und Weise zu beurteilen, in der die Beweise erhoben wurden (vgl. Randnummer 101 oben).

155. Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass es ihm im vorliegenden Fall genügt festzustellen, dass die Strafverfolgungsbehörden nach deutschem Recht einen Pflichtverteidiger hätten bestellen können (§ 141 Abs. 3 StPO in Verbindung mit § 140 Absatz 1). Dieser Anwalt wäre berechtigt gewesen, bei der Vernehmung der Zeuginnen vor dem Ermittlungsrichter anwesend zu sein, und hätte grundsätzlich von dem Termin benachrichtigt werden müssen (§ 168c Absätze 2 und 5 StPO). Diese von der Strafprozessordnung vorgesehenen Verfahrensgarantien, die durch die Auslegung des Bundesgerichtshofs verstärkt werden (Randnummern 58-59), haben jedoch im vorliegenden Fall keine Anwendung gefunden.

156. Der Gerichtshof betont, dass Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention zwar das Kreuzverhör von Belastungszeugen in der Hauptverhandlung betrifft, die Art und Weise aber, in der die Befragung dieser Zeugen im Ermittlungsstadium geführt wird, für die Fairness der Verhandlung selbst von erheblicher Bedeutung ist und diese in den Fällen, in Frage stellen kann, in denen wesentliche Zeugen nicht vom Tatgericht vernommen werden können und ihre im Ermittlungsstadium erhobenen Aussagen daher als solche in die Hauptverhandlung eingeführt werden (vgl. Randnummer 104).

157. Zur Feststellung, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair war, muss unter solchen Umständen unbedingt geprüft werden, ob die Behörden im Zeitpunkt der im Ermittlungsstadium durchgeführten Vernehmung von der Annahme ausgingen, dass der fragliche Zeuge in der Hauptverhandlung nicht vernommen würde. Wo die Ermittlungsbehörden zu Recht der Auffassung sind, dass der betroffene Zeuge in der Verhandlung vor dem Tatgericht nicht vernommen würde, ist von wesentlicher Bedeutung, dass der Verteidigung die Möglichkeit eingeräumt wurde, dem Betroffenen im Ermittlungsstadium Fragen zu stellen (vgl. auch Vronchenko, a.a.O., Rdnrn. 60 ff., und Rosin, a.a.O., Rdnrn. 57 ff., bei diesen Rechtssachen war den minderjährigen Opfern einer Sexualstraftat im Ermittlungsstadium zugesichert worden, dass sie später nicht mehr zur Straftat vernommen würden).

158. Der Gerichtshof merkt hierzu an, dass der Beschwerdeführer die Schlussfolgerung des Landgerichts angegriffen hat, derzufolge die Abwesenheit der Zeuginnen nicht vorhersehbar gewesen ist. Er ist wie der Beschwerdeführer der Meinung, dass O. und P. vom Ermittlungsrichter gerade deswegen vernommen worden sind, weil die von der bevorstehenden Rückkehr der beiden Frauen nach Lettland unterrichteten Behörden dachten, dass deren Aussagen unter Umständen verloren gehen würden, wie aus der Begründung des Antrags der Staatsanwaltschaft an den Ermittlungsrichter auf kurzfristige Vernehmung von O. und P., um eine wahrheitsgetreue Aussage zu erhalten, die später in der Hauptverhandlung verwertet werden könnte, hervorgeht (Randnummer 20). Hierzu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Niederschrift einer von einem Ermittlungsrichter vor der Hauptverhandlung durchgeführten Zeugenvernehmung in der Verhandlung unter weniger strengen Bedingungen verlesen werden kann, als denjenigen bei einer Vernehmung durch die Polizei (§ 251 Absatz 2 StPO, Randnummer 61).

159. Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall die Behörden wussten, dass die Zeuginnen O. und P. die Täter nicht sofort beschuldigt hatten, weil sie Probleme mit der Polizei und die Rache der Täter befürchteten, dass sie sich nur vorübergehend in Deutschland aufhielten, da ihre Familien in Lettland geblieben waren, und dass sie erklärt hatten, so bald wie möglich in ihr Land zurückkehren zu wollen. Die Einschätzung der Strafverfolgungsbehörden, es werde vielleicht nicht möglich sein, diese Zeuginnen in einer späteren Verhandlung gegen den Beschwerdeführer in Deutschland anzuhören, erscheint unter diesen Umständen absolut überzeugend.

160. Die Strafverfolgungsbehörden haben jedoch dem Beschwerdeführer trotz allem nicht die Möglichkeit gegeben (die ihm nach den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts zugestanden hätten), O. und P. im Ermittlungsstadium durch einen für seine Vertretung bestellten Anwalt befragen zu lassen. Durch dieses Vorgehen sind sie das vorhersehbare Risiko eingegangen, das in der Folge auch eingetreten ist, dass weder der Angeklagte noch sein Anwalt in der Lage sein würden, O. und P. in einem beliebigen Stadium des Verfahrens zu befragen (vergleiche zur Wichtigkeit der Anwesenheit des Anwalts bei der Vernehmung von Belastungszeugen durch den Ermittlungsrichter H., a.a.O., Rdnrn. 43 und 48).

(d) iv. Würdigung der Fairness des Verfahrens in seiner Gesamtheit

161. Im Hinblick auf die Würdigung der Verfahrensfairness insgesamt wird der Gerichtshof die im vorliegenden Fall vorhandenen ausgleichenden Faktoren berücksichtigen, die in ihrer Gesamtheit im Lichte seiner Schlussfolgerungzu betrachten sind, wonach die Aussagen von O. und P. „entscheidend“ für die Verurteilung des Beschwerdeführers waren (Randnummer 144).

162. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Tatgericht über andere belastende Beweise für die Straftat verfügte, derentwegen der Beschwerdeführer für schuldig befunden worden ist. Er weist jedoch darauf hin, dass sehr wenige Verfahrensmaßnahmen ergriffen wurden, um die Unmöglichkeit der Verteidigung, O. und P. unmittelbar in der Hauptverhandlungin einem Kreuzverhör zu befragen, zu kompensieren. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutet die Tatsache, dem Angeklagten die Möglichkeit einzuräumen, einen wesentlichen Belastungszeugen zumindest im Vorverfahren und durch seinen Anwalt befragen zu lassen, eine wichtige Verfahrensgarantie, um die Verteidigungsrechte des Angeklagten zu schützen, wobei das Fehlen dieser Garantie bei der Abwägung großes Gewicht beizumessen ist, wenn es um die Prüfung der umfassenden Fairness des Verfahrens im Hinblick auf Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d geht.

163. Zwar trifft es zu, dass das Tatgericht die Glaubwürdigkeit der abwesenden Zeuginnen und die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen sorgfältig geprüft und sich somit bemüht hat, das fehlende Kreuzverhör der Zeuginnen auszugleichen, und der Beschwerdeführer seine eigene Version des Geschehens in Göttingen schildern konnte. Angesichts der Bedeutung der Aussagen von O. und P., die einzigen Augenzeuginnen der Straftat, derentwegen der Beschwerdeführer verurteilt worden ist, waren die Ausgleichsmaßnahmen jedoch unzureichend, die ergriffen wurden, um eine faire und angemessene Würdigung der Zuverlässigkeit der unkonfrontiert gebliebenen Aussagen als Beweismittel zu ermöglichen.

164. Der Gerichtshof ist demzufolge der Auffassung, dass das Verfahren durch die Tatsache, dass der Beschwerdeführer in keinem Stadium des Verfahrens die Zeuginnen O. und P. befragen oder befragen lassen konnte, insgesamt nicht fair war.

165. Es liegt folglich eine Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention vor.

2) II. ZUR ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION

166. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

167. Der Beschwerdeführer hat in seiner Stellungnahme vom 25. Juni 2013 als Reaktion auf die Ausführungen der Regierung vor der Kammer keinen Antrag auf gerechte Entschädigung gestellt. Er hat hingegen sowohl im Beschwerdeformular als auch in der Sitzung vor der Großen Kammer 30.000 EUR als Entschädigung und 10.000 EUR für Kosten und Auslagen gefordert, ohne Einzelheiten zu nennen oder Belege beizubringen.

168. Die Regierung hat sich zur Frage der gerechten Entschädigung vor dem Gerichtshof nicht geäußert.

169. Gemäß Artikel 60 Absatz 2 der Verfahrensordnung muss der Beschwerdeführer innerhalb der Frist, die für seine Stellungnahme zur Begründetheit bestimmt wurde, alle Ansprüche unter Beifügung einschlägiger Belege beziffert und nach Rubriken geordnet geltend machen. Erfüllt der Beschwerdeführer diese Anforderungen nicht, so kann der Gerichtshof die Ansprüche ganz oder teilweise zurückweisen (Artikel 60 Absatz 3 und 71 der Verfahrensordnung). Mit Schreiben vom 15. Mai 2013 hat der Gerichtshof den Beschwerdeführer darauf aufmerksam gemacht, dass diese Vorschriften Anwendung finden, auch wenn er seine Wünsche betreffend die gerechte Entschädigung in einem früheren Verfahrensstadium vorgetragen hat.

170. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer vor der Kammer keinen Antrag auf gerechte Entschädigung gestellt und auch keine Belege innerhalb der hierfür bestimmten Frist beigebracht hat. Der Betroffene, dem im Rahmen des Verfahrens vor dem Gerichtshof Prozesskostenhilfe gewährt worden ist, hat keine neuen Ansprüche unter Beifügung der erforderlichen Belege für die zusätzlichen Kosten und Auslagen vor der Großen Kammer geltend gemacht. In Anwendung des Artikels 60 seiner Verfahrensordnung spricht der Gerichtshof ihm daher keinen Betrag gemäß Artikel 41 der Konvention zu.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:

1. Er erklärt mit neun zu acht Stimmen, dass Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention verletzt worden ist.

2. Er weist den Antrag des Beschwerdeführers auf gerechte Entschädigung einstimmig zurück.

Ausgefertigt in französischer und englischer Sprache und anschließend am 15. Dezember 2015 in öffentlicher mündlicher Verhandlung verkündet im Menschenrechtspalast in Straßburg.

Lawrence Early                            Dean Spielmann
Jurisconsult                                      Präsident

_____________

Diesem Urteil sind gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung die folgenden gesonderten Meinungen beigefügt:

– Gemeinsame zustimmende Meinung der Richter Spielmann, Karakaş, Sajó und Keller;

– Gemeinsame abweichende Meinung der Richter Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris;

– Abweichende Meinung des Richters Kjølbro.

D.S.
T.L.E.

GEMEINSAME ZUSTIMMENDE MEINUNG DER RICHTER SPIELMANN, KARAKAŞ, SAJÓ UND KELLER

1. Wir stimmen der Ansicht der Mehrheit in Bezug auf die Feststellung einer Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention zu. Wir befürchten hingegen, dass die im vorliegenden Fall von der Mehrheit in Bezug auf das Urteil in der Sache Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich ([GK], Nrn. 26766/05 und 22228/06, CEDH 2011) vorgenommene Klarstellung die grundlegende Rolle der Verteidigungsrechte schwächt.

2. Wir möchten unsere Befürchtungen in Bezug auf den neuen Ansatz bei der Anwendung des dreistufigen Kriteriums darlegen, den der Gerichtshof in dem Urteil Al-Khawaja und Tahery entwickelt hat(I), bevor wir auf einige kritische Punkte bezüglich der Anwendung dieser Grundsätze in dieser Rechtssache eingehen (II).

I. Klärung des Grundsatzes des „einzigen bzw. entscheidenden Beweismittels“

3. Die ausschlaggebende Frage für die vorliegende Rechtssache richtet sich auf das Ausmaß, in dem der Gerichtshof die Kriterien des dreistufigen Ansatzes in einer anderen Reihenfolge anwenden kann, und ob das Fehlen guter Gründe für das Nichterscheinen eines Zeugen automatisch zu einer Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention führt oder ob es in diesem Fall angezeigt ist, dennoch die anderen Stufen zu prüfen.

4. Der Gerichtshof hat zunächst klargestellt, dass das Fehlen eines triftigen Grundes für die Abwesenheit eines Zeugen in der Hauptverhandlung nicht automatisch zu einer Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention führt (Randnummer 113 des Urteils). Anschließend hat er geprüft, ob er in den Fällen, in denen schwierig zu erkennen ist, ob die Aussage dieses Zeugen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten war, immer noch die Ausgleichsfaktoren würdigen musste. Der Gerichtshof hat auch diese Frage bejaht und war der Meinung, dass er eine solche Würdigung vornehmen muss, um sich der Fairness des Verfahrens insgesamt zu vergewissern (Randnummer 116 des Urteils). Ihm zufolge hingen alle Stufen untereinander zusammen und die Fairness des Verfahrens war im Lichte aller Kriterien zu beurteilen (Randnummer 118 des Urteils).

5. Wir widersprechen dieser Klarstellung teilweise. Wir gehen davon aus, dass das in dem Urteil Al‑Khawaja und Taheryentwickelte dreistufige Kriterium dem Kriterium der umfassenden Fairness in den Fällen einen konkreten Inhalt geben sollte, in denen der Angeklagte nicht persönlich mit Zeugen konfrontiert werden konnte, deren Aussagen dennoch als belastende Beweise verwertet wurden.

6. Wir fassen die drei in dem Urteil Al-Khawaja und Taherydargelegten Stufen als drei zusammenhängende – aber voneinander unabhängige – Stufen auf. Wir hätten es vorgezogen, wenn der Gerichtshof erklärt hätte, dass die ungerechtfertigte Abwesenheit eines Zeugen zu einer Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention führt, auch wenn seine Aussage nicht die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten darstellt, sofern seiner Aussage eine gewisse Bedeutung für die Verhandlung zukommt. Mit anderen Worten, wenn die innerstaatlichen Behörden keine guten Gründe für die Abwesenheit des Zeugen anführen, braucht der Gerichtshof die zweite und dritte Stufe des Kriteriums der Rechtssache Al-Khawaja und Tahery nicht mehr zu prüfen. Diesen Ansatz hat der Gerichtshof bereits in den Rechtssachen Gabrielyan ./. Armenien (Nr. 8088/05, Rdnrn. 77 und 84, 10. April 2012), Rudnichenko ./. Ukraine (Nr. 2775/07, Rdnrn. 105-110, 11. Juli 2013), Nikolitsas ./. Griechenland (Nr. 63117/09, Rdnr. 35, 11. Juli 2013), und Karpyuk und andere ./. Ukraine (Nrn. 305832/04 und 32152/04, Rdnr. 108, 6. Oktober 2015, im Zeitpunkt der Abfassung dieser Meinung noch nicht endgültig) angewandt. In der Rechtssache Rudnichenko hat der Gerichtshof beispielsweise eine Verletzung allein auf der Grundlage der ersten Stufe festgestellt und klargestellt, dass: „die vorstehenden Erwägungen dem Gerichtshof für die Schlussfolgerung genügen, dass es keine Gründe, geschweige denn gute Gründe gibt, welche die Einschränkung des Rechts des Beschwerdeführers, den Zeugen befragen zu lassen, rechtfertigen (…). Unter diesen Umständen hält es der Gerichtshof nicht für sinnvoll, mit der zweiten Stufe des Kriteriums fortzufahren“ (Rdnr. 109; siehe entsprechend z.B. Suldin ./. Russland, Nr. 20077/04, Rdnr. 58, 16. Oktober 2014).

In anderen Rechtssachen scheint der Ansatz weniger klar zu sein, jedoch bestand zumindest eine Tendenz in Richtung auf die Annahme, dass die ungerechtfertigte Abwesenheit eines wesentlichen Zeugen auf eine Verletzung der Konvention hinausläuft (Khodorkovskiy und Lebedev ./. Russland, Nrn. 11082/06 und 13772/05, Rdnr. 715, 25. Juli 2013, und Cevat Soysal ./. Türkei, Nr. 17362/03, Rdnrn. 77-78, 23. September 2014).

7. Wir bedauern, dass im vorliegenden Fall die Mehrheit die anderen Stufen trotz des Fehlens jeglichen triftigen Grundes für das Nichterscheinen der Zeuginnen geprüft hat. Unseres Erachtens muss die Verteidigung die Möglichkeit haben, alle Zeugenaussagen, die für die Verhandlung eine gewisse Bedeutung haben, anzufechten. Können die innerstaatlichen Gerichte keinen „guten Grund“ für die Abwesenheit eines Zeugen anführen, liegt eine Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention vor. Nicht nur aus logischen Gründen, sondern auch im Interesse der Arbeitseffizienz des Gerichtshofs und der Verfahrensökonomie würden wir uns unter diesen Umständen für die Feststellung einer Verletzung in diesem frühen Stadium des Urteils aussprechen.

8. Wir halten es für sinnvoll, die vorstehenden Erwägungen durch eine weitere Anmerkung zu ergänzen. Der Ansatz des Gerichtshofs (Randnummern 123-124 des Urteils) schwächt die Bedeutung der zweiten Stufe des Kriteriums ab (die Frage, ob die Aussage das „einzige bzw. entscheidende Beweismittel“ darstellte. Das innerstaatliche Gericht wird es in der Wirklichkeit vermeiden, die Aussage eines Zeugen vom Hörensagen als „einziges bzw. entscheidendes Beweismittel“ einzustufen. Der vorliegende Fall ist ein gutes Beispiel für dieses Problem. Die innerstaatlichen Gerichte haben die Aussagen von O. und P. als „maßgeblich“ im Sinne von „decisive“ eingestuft, wobei sie O. und P. somit als entscheidende Zeuginnen ansahen. Hierbei ist es wichtig, dass der Gerichtshof über die Formulierung der Einstufung durch das innerstaatliche Gericht hinausblickt (wie er es in den Randnummern 143-144 des Urteils getan hat). Andernfalls wird dieser Ansatz im Ergebnis zu einem zweistufigen Kriterium führen, demzufolge es nur erforderlich sein wird zu prüfen, ob es gute Gründe für das Nichterscheinen des Zeugen und ausreichende Ausgleichsfaktoren gibt.

9. Wir sind schließlich mit der Vorstellung einverstanden, dass der Gerichtshof sorgfältig prüfen sollte, ob die nationalen Behörden hinreichende Ausgleichsmaßnahmen angewandt haben (Randnummern 125 ff. des Urteils).

II. Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

10. Der Gerichtshof hat im vorliegenden Fall geprüft, ob ein guter Grund für das Nichterscheinen der Zeuginnen O. und P. in der Hauptverhandlung vorlag. Er hat anschließend zu klären versucht, ob die Aussagen dieser beiden Zeuginnen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers durch die innerstaatlichen Gerichte darstellte. Nachdem der Gerichtshof diese Fragen bejaht hat, hat er sodann die verschiedenen Ausgleichsfaktoren untersucht und schließlich eine Würdigung der Fairness des Verfahrens insgesamt vorgenommen.

11. Wir stimmen der Schlussfolgerung der Mehrheit in Randnummer 140 zu, wonach es einen triftigen Grund für das Nichterscheinen der Zeuginnen O. und P. gab. Es ist nicht erforderlich, in diesem Stadium zu bestimmen, ob dieser Grund ausreichend war. Das Tatgericht hat in jedem Fall alle angemessenen Anstrengungen unternommen, um das Erscheinen der beiden Frauen in der Hauptverhandlung sicherzustellen.

12. Wir schließen uns der Schlussfolgerung des Gerichtshofs in Randnummer 44 des Urteils in vollem Umfang an. Wir möchten betonen, dass die bloße Tatsache, dass O. und P. die einzigen Augenzeuginnen der fraglichen Geschehnisse waren, dem Gerichtshof genügte, um ihre Aussagen als „entscheidend (decisive)“ anzusehen (siehe hierzu auch Randnummer 8).

13. Vor der Prüfung des letzten Teils der Kriterien aus Al-Khawaja und Tahery (Ausgleichsfaktoren) ist eine einleitende Anmerkung vonnöten. Auf nationaler Ebene ist in jüngerer Zeit eine Tendenz zu beobachten, die darin besteht, die üblicherweise zur Hauptverhandlungsphase gehörenden Verfahrensmaßnahmen in die Ermittlungsphase zu verlagern; das gegen den Beschwerdeführer geführte Verfahren ist ein gutes Beispiel für diese Tendenz. Wenn der Gerichtshof einer solchen Verlagerung gegenübersteht, sehen wir zwei mögliche Reaktionen. Einerseits könnte der Gerichtshof die Meinung vertreten, dass die Vorverlegung der Verfahrensschritte in das Ermittlungsstadium mit der Konvention absolut unvereinbar ist. Diesen Ansatz hat er nicht gewählt. Andererseits könnte der Gerichtshof damit einverstanden sein, dass solche Verfahrensmaßnahmen mit Beginn der Ermittlungsphase ergriffen werden. Ist der Gerichtshof jedoch der Auffassung, dass die Verlagerung von Verfahrensmaßnahmen in die Ermittlungsphase mit der Konvention vereinbar ist, muss er unmissverständlich deutlich machen, dass die maßgeblichen Verfahrensgarantien streng zu beachten sind. Andernfalls würde das Recht des Angeklagten, mit einem Zeugen in der Hauptverhandlungsphase konfrontiert zu werden, ausgehöhlt. In der Sache Salduz ./. Türkei ([GK], Nr. 36391/02, Rdnr. 54, CEDH 2008) hat der Gerichtshof bereits „die Bedeutung der Ermittlungsphase für die Vorbereitung des Strafprozesses“ betont, „insoweit als die in dieser Phase erlangten Beweismittel den Rahmen festlegen, in dem die zur Last gelegte Straftat in der Hauptverhandlung untersucht wird“.

14. Infolgedessen sehen wir vorliegend einige Schwierigkeiten. Das deutsche Recht bietet zwei Garantien in Fällen wie dem in Rede stehenden. Gemäß § 168c Absatz 2 der Strafprozessordnung ist dem Beschuldigten (und seinem Verteidiger) die Anwesenheit bei der richterlichen Vernehmung eines Zeugen während des Vorverfahrens gestattet. In Ausnahmefällen kann der Beschuldigte von der Anwesenheit ausgeschlossen werden, wenn dessen Anwesenheit den Ausgang oder den Zweck der Vernehmung gefährden würde. Dies gilt namentlich dann, wenn zu befürchten ist, dass ein Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde (§ 168c Absatz 2 StPO)[3]. Wir hegen Zweifel, ob der Ausschluss des Beschuldigten im vorliegenden Fall den Erfordernissen des § 168c Absatz 2 der Strafprozessordnung entsprach. Der Beschuldigte und die Zeuginnen kannten sich nämlich bereits. In dieser Hinsicht kann dieser Fall von der Rechtssache Pesukic ./. Schweiz (Nr. 25088/07, 6. Dezember 2012) unterschieden werden, in der es um die Offenlegung der Identität des Zeugen ging. Ist der Beschuldigte infolgedessen ausgeschlossen, hat der Verteidiger das Recht, anwesend zu sein.

15. Die zweite Garantie ist im Lichte der ersten zu untersuchen. Nach § 141 Absatz 3 der Strafprozessordnung kann die Staatsanwaltschaft einen Verteidiger bestellen, um den Angeschuldigten während des Vorverfahrens zu unterstützen. Unabhängig von der Unsicherheit hinsichtlich der korrekten Auslegung dieser Bestimmung (Randnummer 58 ff. und Randnummer 154 des Urteils) haben die nationalen Behörden nicht erklärt, weshalb die Regel in § 141c[4] der Strafprozessordnung im vorliegenden Fall keine Anwendung auf den Beschwerdeführer fand.

16. Im Lichte der besonderen Umstände des Falles muss die Nichtanwendung der beiden Garantien, die das innerstaatliche Recht bietet, als ein schwerwiegender Mangel des Vorverfahrens angesehen werden. Werden diese Garantien in den frühen Ermittlungsstadien nicht streng angewandt, könnten die Garantien aus Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention im Hauptverfahren ihre Bedeutung verlieren.

III. Schlussfolgerung

17. Wenn die Große Kammer gestattet, dass eine umfassende Würdigung der Verfahrensfairness erfolgt, auch wenn gute Gründe für das Nichterscheinen eines Zeugen fehlen, würde das Recht des Angeklagten, mit den Zeugen konfrontiert zu werden, ausgehöhlt. Wir sind absolut damit einverstanden, dass das dreistufige Kriterium mit einer gewissen Flexibilität anzuwenden ist. Jedoch würde ein Ansatz, der uneingeschränkt zu einer endgültigen umfassenden Prüfung der Verfahrensfairness führt, den nationalen Behörden einen zu großen Spielraum geben. Eine solche Anwendung der dreistufigen Beurteilung würde beinhalten, dass es der verschiedenen Stadien nicht bedarf, sobald die Fairness insgesamt beachtet ist.

18. Der zu vorsichtige Ansatz des Gerichtshofs zeigt sich auch ganz offensichtlich in Randnummer 118 des Urteils. Obgleich die Reihenfolge der drei Fragen grundsätzlich maßgeblich ist, erklärt die Mehrheit dass „es (…) in einer bestimmten Sache angemessen sein kann, diese Kriterien in einer anderen Reihenfolge zu untersuchen“. Wir sind nicht überzeugt, dass der Gerichtshof somit den nationalen Behörden eine klare Richtung für die angemessene Anwendung der in dem Urteil Al-Khawaja und Tahery entwickelten Kriterien aufzeigt.

19. Wir haben begründeten Anlass zur Besorgnis, dass die Klarstellung des Gerichtshofs im vorliegenden Fall (auf die künftig als das „S. Kriterium“ Bezug genommen wird) in einer einzigen Frage zusammengefasst werden kann: War das Verfahren insgesamt fair? Ein solches umfassendes Kriterium geht unseres Erachtens nicht in die Richtung einer Stärkung der Rechte aus Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention.

 

GEMEINSAME ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTER HIRVELÄ, POPOVIĆ, PARDALOS, NUSSBERGER, MAHONEY UND KŪRIS

1. Wir bedauern, der Ansicht der Mehrheit nicht beipflichten zu können, dass die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention im vorliegenden Fall verletzt worden sind.

A. Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

2. Wir möchten gleich zu Beginn klarstellen, dass unsere von der Mehrheit der Großen Kammer abweichende Meinung nicht die Zusammenfassung der allgemeinen, für diese Sache maßgeblichen Grundsätze betrifft, mit der wir absolut einverstanden sind.

3. Unseres Erachtens bestätigt die Große Kammer vorliegend die vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Dezember 2011 in der Sache Al‑Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich ([GK], Nrn. 26766/05 und 22228/06, CEDH 2011) festgelegten Grundsätze. Sie stellt ferner die Beziehung zwischen den drei Stufen des „Al-Khawaja Kriteriums“ im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit der Verfahren mit Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d klar, in denen die Aussagen eines Belastungszeugen, der in der Hauptverhandlung nicht erschienen und nicht befragt worden ist, als Beweismittel zugelassen worden sind.

4. Der Klärungsbedarf, der sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs nach dem Urteil Al-Khawaja ergibt und Rechtssachen betrifft, bei denen sich die Sachlage anders als in der Sache Al-Khawaja darstellt, betraf im Wesentlichen drei Punkte.

5. Erstens hat die Große Kammer klargestellt, dass durch das Fehlen eines guten Grundes für die Abwesenheit eines Belastungszeugen ein Verfahren an sich nicht unfair wird, selbst wenn dies ein gewichtiger Faktor bei der Würdigung der umfassenden Fairness eines Verfahrens ist. Wir schließen uns der Schlussfolgerung der Großen Kammer im vorliegenden Fall an, derzufolge dem Urteil Al-Khawaja und Tahery, in dem der Gerichtshof von der „Regel des einzigen bzw. entscheidenden Beweismittels“ abwich, als Entscheidungsprinzip zugrunde lag, eine unterscheidungslos angewandte Regel aufzugeben und zu einer herkömmlichen Prüfung der umfassenden Fairness des Verfahrens zurückzukehren. Es wäre jedoch auf die Schaffung einer neuen unterscheidungslosen Regel hinausgelaufen, wenn ein Verfahren aus dem einzigen Grund als nicht fair angesehen würde, dass kein triftiger Grund für das Nichterscheinen eines Zeugen vorlag, selbst wenn das nicht konfrontativ erlangte Beweismittel (untestedevidence) weder einzig noch entscheidend, also ohne Auswirkungen auf den Ausgang der Sache war (Randnummer 112 des Urteils). In Übereinstimmung mit diesem Befund hat der Gerichtshof auch tatsächlich in der überwiegenden Zahl der Folgesachen nach dem Urteil Al-Khawaja die Auffassung vertreten, dass das Fehlen eines triftigen Grundes für das Nichterscheinen eines Belastungszeugen an sich nicht automatisch zu einer Verletzung des Artikels 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d führt (siehe die Hinweise in Randnummer 113 des Urteils).

6. Zweitens stimmen wir mit der Mehrheit überein, dass der Gerichtshof, da es sein Anliegen ist sicherzustellen, dass das Verfahren insgesamt fair ist, zu prüfen hat, ob genügend ausgleichende Faktoren auch in den Sachen vorlagen, in denen den Aussagen eines abwesenden Zeugen, ohne die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten zu sein, ein gewisses (significant) Gewicht zukam (Randnummer 116 des Urteils).

7. Drittens sind wir auch der Meinung, dass es in der Regel sachdienlich ist, sich mit den drei Stufen des „Al-Khawaja Kriteriums“ in der Reihenfolge zu befassen, die in diesem Urteil festgelegt ist, auch wenn es in einer bestimmten Sache angemessen sein kann, diese Stufen in einer anderen Reihenfolge zu prüfen (Randnummer 118 des Urteils).

8. Schließlich stimmen wir der Zusammenfassung der Grundsätze in Bezug auf jede der drei Stufen des „Al-Khawaja Kriteriums“ in den Randnummern 119-131 des Urteils zu. Der Gerichtshof gibt darin Orientierungen insbesondere für die Art und Weise der Prüfung der Unerreichbarkeit eines Zeugen und für die Anstrengungen, die von den innerstaatlichen Behörden verlangt werden, um seinen Aufenthaltsort zu ermitteln, für die zu unternehmenden Schritte, um festzustellen, ob die Aussage die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten war, und für die Art der verfahrensrechtlichen oder materiellen Ausgleichsfaktoren, welche die Schwierigkeiten ausgleichen können, die der Verteidigung infolge der Zulassung der unkonfrontiert gebliebenen Aussage als Beweismittel verursacht wurden.

B. Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

9. Unsere Meinung weicht hingegen von der mehrheitlichen Meinung in Bezug auf die Anwendung der maßgeblichen Grundsätze in dieser Rechtssache ab. Wir schließen uns der Mehrheitsmeinung an, dass es einen triftigen Grund für das Nichterscheinen der Zeuginnen O. und P. in der Hauptverhandlung und daher für die Zulassung der Aussagen als Beweismittel gab, die sie gegenüber der Polizei und dem Ermittlungsrichter im Vorverfahren gemacht hatten, und wir stimmen den Argumenten zu, die dargelegt wurden, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen. Wir können im Übrigen auch der Feststellung der Mehrheit beipflichten, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers entscheidend, (decisive) wenn auch nicht allein (sole) auf den Aussagen der abwesenden Zeuginnen O. und P. beruhte, da diese die einzigen Augenzeugen der fraglichen Straftat waren.

10. Angesichts dieser Schlussfolgerung halten wir es für erforderlich zu prüfen, ob genügend ausgleichende Faktoren vorliegen, um die der Verteidigung verursachten Schwierigkeiten zu kompensieren. Entgegen der Mehrheitsmeinung sind wir der Auffassung, dass diese Faktoren im vorliegenden Fall ausreichend waren.

11. Was die Würdigung der verschiedenen Ausgleichsfaktoren in dieser Sache anbelangt, teilen wir die Ansicht der Mehrheit, dass das Landgericht die Glaubwürdigkeit der abwesenden Zeuginnen und die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen sorgfältig geprüft hat, und erachten seine Prüfung für besonders sorgfältig.

12. Entgegen der Mehrheit denken wir jedoch, dass das Landgericht über andere, sehr überzeugende und kohärente belastende Beweismittel betreffend den Einbruch einhergehend mit Erpressung, dessen der Beschwerdeführer für schuldig befunden wurde, verfügte. Zu diesen Beweismitteln gehörte nicht nur eine vollständige Schilderung des Vorfalls durch zwei andere Zeuginnen (die Nachbarin der Zeuginnen, E., und ihre Freundin L.), allerdings lediglich in Form von Aussagen von Zeugen vom Hörensagen. Diese Beweismittel wurden ferner umfassend durch sehr unmittelbare und zuverlässige strenge technische Daten gestützt. Hierzu zählten insbesondere die Geolokalisierungsdaten und die Aufzeichnungen der beiden Telefongespräche, aus denen hervorging, dass sich der Beschwerdeführer in einer Wohnung in dem Gebiet befand, in dem die Tat begangen wurde, und er vom Balkon gesprungen war, um eine der Bewohnerinnen, die flüchtete, zu verfolgen. Die Beweismittel in Bezug auf die vom Beschwerdeführer und einem Mittäter am 14. Oktober 2006 in Kassel begangene Straftat wiesen letztlich auffallende Ähnlichkeiten mit der in Göttingen begangenen Tat auf, und zwar im Hinblick auf die Opfer, den Tatort und die Vorgehensweise der Täter, wobei es sich um Aspekte handelt, zu denen sich alle Zeugen in der Hauptverhandlung geäußert haben. Wir müssen im Übrigen auf das eigene Geständnis des Beschwerdeführers hinweisen, der in der Verhandlung eingeräumt hat, dass er zur Tatzeit sehr wohl in der Wohnung der beiden Frauen gewesen und vom Balkon gesprungen sei, um P. zu verfolgen. Er erklärte, er habe so gehandelt, aus Angst, wegen der Probleme, die er bei einem ähnlichen Zwischenfall mit Prostituierten in Kassel gehabt habe, Ärger zu bekommen (Randnummer 44 des Urteils).

13. In Bezug auf die Verfahrensmaßnahmen, die es gestatten, die fehlende Möglichkeit einer Befragung der beiden Zeuginnen in der Hauptverhandlung auszugleichen, merken wir an, dass die innerstaatlichen Gerichte die fehlende Bestellung eines Anwalts zur Vertretung des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Vernehmung nicht als Verstoß gegen § 141 Absatz 3 der Strafprozessordnung in Verbindung mit § 140 Absatz 1 der Strafprozessordnung und gemäß der Auslegung des Bundesgerichtshofs bewertet haben (Randnummern 28-29, 57-59 und 62 des Urteils). Wir nehmen hierzu die Erläuterung der Regierung (Randnummer 94 des Urteils) zur Kenntnis, derzufolge das Tatgericht nach den Maßstäben des § 168c Absatz 5 der Strafprozessordnung nicht verpflichtet war, den gegebenenfalls zur Vertretung des Beschwerdeführers bestellten Anwalt von dem Verhandlungstermin zu benachrichtigen, wenn es der Meinung ist, dass eine solche Benachrichtigung den Untersuchungserfolg gefährden würde.

14. Wir sind wie die Mehrheit der Auffassung, dass die Art der Vernehmung der Belastungszeugen im Ermittlungsstadium für die Fairness der Verhandlung selbst von erheblicher Bedeutung ist, wobei es die Fairness gefährden kann, wenn wesentliche Zeugen vom Tatgericht nicht vernommen werden können und ihre im Ermittlungsstadium gemachten Aussagen folglich unmittelbar in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Entgegen der Mehrheit denken wir jedoch nicht, dass die Behörden im Zeitpunkt der Vernehmung von O. und P., die im Ermittlungsstadium in Abwesenheit des Beschwerdeführers und seines Anwalts durchgeführt wurde, davon ausgegangen sind, dass die beiden Frauen nicht in der Hauptverhandlung vernommen werden könnten.

15. Wir sind mit dem Beschwerdeführer einer Meinung, dass O. und P. ermittlungsrichterlich vernommen wurden, weil die von der bevorstehenden Rückkehr der beiden Frauen nach Lettland unterrichteten Behörden befürchteten, dass deren Zeugenaussagen verlustig gehen könnten, wie aus der Begründung des Antrags der Staatsanwaltschaft an den Ermittlungsrichter auf eine rasche Vernehmung von O. und P. hervorgeht. Unseres Erachtens muss jedoch nicht, weil es als vorhersehbar anzusehen war, dass die beiden Zeuginnen kurz nach ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung Deutschland verlassen würden, die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zumindest per Videokonferenz im Rahmen einer späteren Verhandlung persönlich zu vernehmen. Die Zeuginnen kehrten aus Deutschland in ein Land zurück, das gemäß internationalen Übereinkünften verpflichtet war, den deutschen Behörden auch in Form einer Vernehmung der Zeuginnen per Videokonferenz Rechtshilfe in Strafsachen zu leisten. Unsere Schlussfolgerung wird noch durch das Geständnis des Beschwerdeführers gestützt, wonach er davon ausgegangen ist, dass er O. und P. in der Hauptverhandlung befragen könnte, und er somit keinen Grund hatte zu beantragen, dass der Ermittlungsrichter die beiden Frauen ein zweites Mal in seiner Anwesenheit nach seiner Festnahme anhört (Randnummer 82 des Urteils).

16. Wir stimmen schließlich mit dem Gerichtshof überein, dass es eine wichtige Verfahrensgarantie darstellt, dem Angeklagten die Möglichkeit einzuräumen, einen wesentlichen Belastungszeugen zumindest im Vorverfahren und durch seinen Anwalt befragen zu lassen, deren Fehlen bei der Abwägung großes Gewicht beizumessen ist, wenn es um die Prüfung der Fairness des Verfahrens insgesamt im Hinblick auf Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d geht. Dessen ungeachtet gab es im vorliegenden Fall andere bedeutende Garantien, wodurch das Tatgericht die Zuverlässigkeit der ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel richtig würdigen konnte. Insbesondere waren weitere sehr überzeugende und kohärente belastende Beweismittel zu der Straftat vorhanden, derentwegen der Beschwerdeführer für schuldig befunden wurde. Das Tatgericht hat ferner die Glaubwürdigkeit der abwesenden Zeuginnen und die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen besonders eingehend und sorgfältig geprüft. Daher hat unseres Erachtens die Tatsache, dass der Beschwerdeführer in keinem Stadium des Verfahrens die Zeuginnen O. und P. befragen oder befragen lassen konnte, nicht bewirkt, dass das Verfahren insgesamt nicht fair war.

 

ABWEICHENDE MEINUNG DES RICHTERS KJØLBRO

(Übersetzung)

1. Ich habe einige Bedenken hinsichtlich der durch die Große Kammer vorgenommenen Klarstellung der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der drei in dem Urteil Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigte Königreich ([GK], Nrn. 26766/05 und 22228/06, CEDH 2011) entwickelten Kriterien. Außerdem pflichte ich der Würdigung der Großen Kammer im vorliegenden Fall nicht bei und ich habe gegen die Feststellung einer Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention gestimmt. Im Folgenden werde ich meinen Standpunkt zu diesen beiden Fragen kurz darlegen.

Die Klarstellung der „Al-Khawaja Kriterien“ durch die Große Kammer

2. Es ist für die Glaubwürdigkeit und die Legitimität des Gerichtshofs und die Beachtung der Konvention durch die nationalen Behörden und die Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs durch diese Behörden von großer Bedeutung, dass diese Rechtsprechung kohärent ist. Der Gerichtshof sollte daher nicht ohne triftigen Grund von seinen Präzedenzfällen abweichen (Micallef ./. Malta [GK], Nr. 17056/06, Rdnr. 81, CEDH 2009). Dies gilt insbesondere für die neueren Urteile der Großen Kammer. Der Gerichtshof sollte ferner seine Rechtsprechung nicht ohne gute Gründe hierfür erläutern und weiterentwickeln.

3. Im Jahr 2011 hat die Große Kammer die bereits gefestigte Rechtsprechung über die Verwertung von Aussagen abwesender Zeugen als Beweismittel erläutert und weiterentwickelt. In der zuvor genannten Rechtssache Al-Khawaja und Tahery hat die Große Kammer die drei anzuwendenden Kriterien und die Reihenfolge, in der sie anzuwenden sind, festgelegt. Erstens muss es einen „triftigen Grund“ für das Nichterscheinen der Zeugen in der Verhandlung geben. Zweitens ist zu prüfen, ob die Aussage des abwesenden Zeugen das „einzige bzw. entscheidende (soleordecisive)“ Beweismittel darstellt. Stellt die schriftliche Aussage die „einzige bzw. entscheidende“ Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten dar, so müssen drittens ausreichende „Ausgleichsfaktoren (counterbalancingfactors)“ vorliegen. Meines Erachtens hätte der Gerichtshof den vorliegenden Fall ohne weiteres auf der Grundlage der in der Sache Al-Khawaja und Tahery festgelegten Kriterien entscheiden können, um so dieses neuere Urteil der Großen Kammer zu bestätigen.

4. Die Klarstellungen der Großen Kammer im vorliegenden Fall sollten meines Erachtens nicht so verstanden werden, als wichen sie von dem in dem Urteil Al-Khawaja und Tahery festgelegten dreistufigen Kriterium ab, das daher weiterhin in vergleichbaren Fällen Anwendung finden sollte. Ich halte es aus diesem Grund für erforderlich, einige ergänzende Anmerkungen zu den anzuwendenden Kriterien vorzubringen.

5. Wenn erstens kein triftiger Grund für das Nichterscheinen eines Zeugen vorliegt, sollte das innerstaatliche Gericht in der Regel der Staatsanwaltschaft nicht gestatten, die schriftliche Aussage eines abwesenden Zeugen als belastendes Beweismittel zu verwerten (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnrn. 120‑125).

6. Wenn die Staatsanwaltschaft die Aussage des abwesenden Zeugen für so maßgeblich und wichtig für die Sache erachtet, dass sie als Beweismittel verwertet werden sollte, sollte der Zeuge vor das Tatgericht geladen werden und aussagen, es sei denn, er hat einen triftigen Grund, um nicht zu erscheinen. Gibt es keinen triftigen Grund für das Nichterscheinen des fraglichen Zeugen, sollte das innerstaatliche Gericht der Staatsanwaltschaft nicht gestatten, die schriftliche Aussage als belastendes Beweismittel zu verwerten.

7. Einen Zeugen ohne triftigen Grund nicht zu laden, würde dem Recht der Verteidigung auf Befragung der Belastungszeugen im Kreuzverhör zuwiderlaufen. Dies vorausgeschickt, stimme ich zu, dass das Fehlen eines triftigen Grundes für die Abwesenheit eines Zeugen nicht automatisch und zwangsläufig bewirkt, dass das Verfahren nicht fair ist (Randnummer 113 des Urteils). Diese Klarstellung der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann jedoch nicht so verstanden werden, als beinhalte sie eine allgemeine Aufgabe der Grundregel, derzufolge es dort, wo die Aussage eines abwesenden Zeugen so maßgeblich und wichtig für die Sache ist, dass das innerstaatliche Gericht sie als belastenden Beweis zulässt, einen triftigen Grund geben sollte, von der Ladung des Zeugen zu einer Aussage in der Sitzung abzusehen.

8. Zweitens ist das Kriterium des „einzigen bzw. entscheidenden Beweismittels“ mit einigen kleineren terminologischen Unterschieden seit dem Urteil Unterpertinger ./. Österreich (24. November 1986, Rdnr. 33, Serie A Band 110) kohärent angewandt worden. Bevor der Gerichtshof sein Urteil in der Sache Al-Khawaja und Tahery erließ, stellte er eine Verletzung des Artikels 6 der Konvention fest, wenn die schriftliche Aussage des abwesenden Zeugen die „einzige bzw. entscheidende“ Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten war.

9. In dem Urteil Al-Khawaja und Tahery (Rdnr. 131) hat der Gerichtshof das Kriterium des „einzigen bzw. entscheidenden“ Beweismittels auch angewandt und definiert, was er unter „einzig“ bzw. „entscheidend“ verstand. Er hat gleichzeitig auch seine Rechtsprechung weiterentwickelt, indem er ausführte, dass „die Zulassung einer Aussage eines Zeugen vom Hörensagen, die das das einzige bzw. entscheidende belastende Beweismittel darstellt, nicht automatisch zu einer Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 führt“ (ibidem, Rdnr. 147).

10. Vor und nach dem Urteil Al‑Khawaja und Tahery stellte sich jedoch die Frage, ob die schriftliche Aussage des abwesenden Zeugen das „einzige bzw. entscheidende Beweismittel“ darstellte.

11. Die Große Kammer hat im vorliegenden Fall erklärt, dass sie „zu prüfen hat, ob hinreichende Ausgleichsfaktoren nicht nur in den Sachen vorlagen, in denen die Aussagen eines abwesenden Zeugen die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten darstellten“, sondern auch in den Fällen, in denen der Gerichtshof „es für schwierig hält zu erkennen, ob diese Beweise die einzige bzw. entscheidende Grundlage darstellten, aber dennoch überzeugt ist, dass ihnen einen gewisses Gewicht (significantweight) zukam“ (Randnummer 116 des Urteils).

12. Ich halte es für wichtig zu betonen, dass der Ausdruck „ein gewisses Gewicht (significantweight)“ nicht so verstanden werden darf, als würde das Kriterium des „einzigen bzw. entscheidenden (soleanddecisive)“ Beweismittels aufgegeben, was drei Kategorien schaffen würde: die „einzigen (sole) Beweismittel“, die „entscheidenden (decisive) Beweismittel“ und die Beweismittel, denen „ein gewisses (significant) Gewicht“ zukommt. Die Klarstellung beinhaltet nicht, dass man sich von dem Kriterium des „einzigen bzw. entscheidenden“ Beweismittels löst, sondern der Tatsache Rechnung trägt, dass es bisweilen angesichts der fraglichen Aussage und der Argumentation der innerstaatlichen Gerichte offensichtlich zu sein scheint, dass einer Aussage ein „gewisses Gewicht“ zukam, ohne dass leicht zu erkennen wäre, ob sie für die Verurteilung entscheidend war. Ist dies der Fall, sollte die Aussage sowohl vom innerstaatlichen Gericht als auch dem Gerichtshof als ein „entscheidendes“ Beweismittel behandelt werden.

13. Die Klarstellung bedeutet daher meines Erachtens nicht, dass man von dem Kriterium des „einzigen bzw. entscheidenden Beweismittels“ abweicht.

14. Drittens ergibt sich die Reihenfolge der drei Kriterien eindeutig aus dem Urteil Al-Khawaja und Tahery. Erstens muss es einen „triftigen Grund“ für das Nichterscheinen des Zeugen geben. Auf die anderen Kriterien sollte nur eingegangen werden, wenn diese erste Frage bejaht wird (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 120). Zweitens ist zu prüfen, ob die schriftliche Aussage des abwesenden Zeugen das „einzige bzw. entscheidende“ Beweismittel darstellt. Das dritte Kriterium sollte nur geprüft werden, wenn diese zweite Frage bejaht wird (ibidem, Rdnr. 147). Stellt die schriftliche Aussage die einzige bzw. entscheidende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten dar, so müssen drittens hinreichende „Ausgleichsfaktoren“ vorliegen (ibidem, Rdnr. 147).

15. Es gibt sehr gute Gründe für die Reihenfolge der Kriterien. Die Frage der Verwertung schriftlicher Aussagen von abwesenden Zeugen wird sich in verschiedenen Stadien des Verfahrens stellen. Diese Frage taucht erstens auf, wenn das Tatgericht entweder einen Antrag der Staatsanwaltschaft, die Aussage eines abwesenden Zeugen als belastendes Beweismittel zu verwerten, oder einen Einwand der Verteidigung gegen eine solche Maßnahme prüft. Diese Frage stellt sich zweitens, wenn das Tatgericht prüft, ob eine ausreichende Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten gegeben ist. Diese Prüfung findet am Ende der Verhandlung statt. Die gleiche Frage stellt sich drittens bei der Bewertung der Fairness des Verfahrens entweder durch eine innerstaatliche Rechtsmittelinstanz oder im Anschluss daran durch den Gerichtshof. Entscheidet das Tatgericht darüber, ob der Staatsanwaltschaft gestattet werden soll, die schriftliche Aussage eines abwesenden Zeugen als Beweismittel zu verwerten, wird es häufig schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sein, zu prüfen, ob diese Aussage die einzige bzw. entscheidende Grundlage für eine Verurteilung des Angeklagten sein wird. In der Praxis sollten somit die drei Stufen in den meisten Fällen in der im Urteil Al-Khawaja und Tahery festgelegten Reihenfolge und sehr häufig zu unterschiedlichen Zeitpunkten gewürdigt werden. Die Grundsätze, denenzufolge alle belastenden Beweismittel üblicherweise in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Sitzung im Hinblick auf eine streitige Verhandlung vorzulegen sind und der Angeklagte die entsprechende und angemessene Möglichkeit haben muss, die Aussagen eines Belastungszeugen anzufechten und diesen zu befragen, sind so wichtig, dass man sich nicht ohne triftigen Grund von ihnen lösen sollte. Dies hat andernfalls in den meisten Fällen zur Folge, dass das Verfahren nicht fair ist.

16. Ich möchte daher auf die Bedeutung nicht nur der drei in dem Urteil Al-Khawaja und Tahery entwickelten Kriterien, sondern auch auf die Bedeutung der für diese drei Kriterien festgelegte Reihenfolge hinweisen. Ich schließe dennoch nicht die Möglichkeit aus, dass es Situationen geben kann, in denen die drei Stufen in einer anderen Reihenfolge geprüft werden könnten. In bestimmten Fällen steht beispielsweise von Anfang an für das Tatgericht fest, dass die schriftliche Aussage das einzige bzw. entscheidende Beweismittel darstellt und die Zulassung und die Verwertung dieser Aussage bewirken, dass das Verfahren nicht fair ist. Es kann aber ebenso Situationen geben, in denen der Gerichtshof es aus praktischen Gründen für angemessen hält, die drei Stufen in einer anderen Reihenfolge zu prüfen. Die drei Stufen sollten jedoch in der Regel in der im Urteil Al-Khawaja und Tahery vorgeschriebenen Reihenfolge gewürdigt werden.

Die Würdigung der Großen Kammer im vorliegenden Fall

17. Ich stimme der Mehrheit zu, dass ein „triftiger Grund“ für das Nichterscheinen der Belastungszeuginnen O. und P. vorlag (Randnummern 132-140 des Urteils).

18. Ich schließe mich auch der Meinung der Mehrheit an, dass die schriftlichen Aussagen der beiden abwesenden Zeuginnen O. und P. „entscheidend“ für die Verurteilung des Beschwerdeführers waren, und zwar in dem Sinn, der diesem Begriff in der Rechtsprechung des Gerichtshofs gegeben wurde (Randnummern 141-144 des Urteils).

19. Was die Fairness des Verfahrens anbelangt, weicht meine Meinung von derjenigen der Mehrheit ab. Meines Erachtens und wie ich weiter oben dargelegt habe, gab es hinreichende „Ausgleichsfaktoren“, damit das Verfahren des Beschwerdeführers fair ist.

20. Im Urteil Al-Khawaja und Tahery (Rdnr. 147) hat der Gerichtshof Folgendes ausgeführt: „In jeder Rechtssache, in der sich das Problem der Fairness des Verfahrens im Zusammenhang mit der Aussage eines abwesenden Zeugen stellt, geht es um die Frage, ob genügend ausgleichende Faktoren in Bezug auf die Zulassung eines solchen Beweismittels vorliegen, um eine korrekte und angemessene Würdigung der Zuverlässigkeit des Beweises zu ermöglichen. Die Prüfung dieser Frage gestattet es, nur eine Verurteilung auszusprechen, wenn die Aussage des abwesenden Zeugen angesichts ihrer Bedeutung in der Sache hinreichend zuverlässig ist“. Somit ist das Ziel der „ausgleichenden Faktoren“, „eine korrekte und angemessene Prüfung der Zuverlässigkeit“ der fraglichen Aussage sicherzustellen und zu gewährleisten, dass diese „hinreichend zuverlässig“ ist.

21. Wie die Mehrheit zu Recht ausführt, ist das Tatgericht mit Vorsicht an die Beweismittel herangegangen (Randnummern 146-150 des Urteils). Meines Erachtens hat die Mehrheit jedoch der Verfügbarkeit und der Beweiskraft der anderen belastenden Beweise zu wenig Bedeutung beigemessen (Randnummer 151 des Urteils mit Verweis auf die Randnummern 143-144).

22. Ich bin der Meinung, dass das Landgericht über andere, sehr überzeugende und kohärente belastende Beweismittel betreffend die Straftat, derentwegen der Beschwerdeführer verurteilt wurde, verfügte. Auf der Grundlage dieser anderen Beweismittel konnte das Tatgericht die Zuverlässigkeit der Aussagen der abwesenden Zeuginnen O. und P. prüfen. Nach Auffassung des Gerichts „ergab die Zusammenschau aller Beweismittel ein schlüssiges und vollständiges Gesamtbild der Geschehnisse, das die Version der Zeuginnen O. und P. stützte und die im Verlauf der Verhandlung gemachten widersprüchlichen Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten widerlegte“ (Randnummer 46 des Urteils).

23. Wie die Mehrheit zu Recht betont, konnte der Beschwerdeführer ferner seine eigene Version der Geschehnisse schildern und die anderen Zeugen, die vor Gericht erschienen waren, befragen (Randnummer 152 des Urteils). Der Beschwerdeführer hatte im Übrigen die Möglichkeit, die Verwertung und Bedeutung der schriftlichen Aussagen zu beanstanden.

24. Das Hauptargument, das die Mehrheit zur Feststellung der Verletzung des Artikels 6 im vorliegenden Fall veranlasst hat, scheint nämlich die Tatsache zu sein, dass die nationalen Behörden ihr Recht, einen Anwalt für die Vertretung des Beschwerdeführers vor der Vernehmung der beiden Zeuginnen zu bestellen, nicht wahrgenommen haben, was dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben hätte, die Zeuginnen im Ermittlungsstadium durch einen für seine Vertretung bestellten Anwalt befragen zu lassen (Randnummern 153-160).

25. Ich stimme der mehrheitlichen Einschätzung der Bedeutung des Vorverfahrens für die Fairness des Verfahrens insgesamt im vorliegenden Fall nicht zu.

26. Erstens hätte es ganz einfach keine Rüge auf der Grundlage der Konvention gegeben, wenn ein Anwalt für die Vertretung des Beschwerdeführers in den ersten Ermittlungsstadien gegeben hätte, als die beiden Zeuginnen O. und P. vom Ermittlungsrichter vernommen worden sind, und wenn der Beschwerdeführer und der Anwalt von der Vernehmung der beiden Frauen benachrichtigt worden wären und der Betroffene und sein Anwalt die Gelegenheit gehabt hätten, sie in dem Augenblick zu befragen, als diese ihre Aussage machten. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs über die Verwertung schriftlicher Aussagen von abwesenden Zeugen betrifft „Aussagen einer Person, die der Angeklagte weder im Ermittlungsstadium noch in der Verhandlung befragen oder befragen lassen konnte“ (Al-Khawaja und Tahery, a.a.O., Rdnr. 119). Wenn, mit anderen Worten, dem Beschwerdeführer die Möglichkeit gegeben worden wäre, die Zeuginnen O. und P. im Zeitpunkt ihrer Vernehmung durch den Ermittlungsrichter zu befragen oder befragen zu lassen, hätte die spätere Verwertung ihrer Aussagen keine Frage hinsichtlich der Fairness des Verfahrens aufgeworfen (siehe z.B. Sadak und andere ./. Türkei (Nr. 1), Nrn. 29900/96, 29901/96, 29902/96 und 29903/96, Rdnr. 65, CEDH 2001‑VIII, Sommer ./. Italien (Entsch.), Nr. 36586/08, 23. März 2010, Chmura ./. Polen, Nr. 18475/05, Rdnrn. 49-59, 3. April 2012, und Aigner ./. Österreich, Nr. 28328/03, Rdnr. 41, 10. Mai 2012).

27. Zweitens schenkt die Mehrheit den Gründen wenig Aufmerksamkeit, die der Ermittlungsrichter dafür angeführt hat, dass er den Beschwerdeführer nicht von der Vernehmung der beiden Zeuginnen O. und P. benachrichtigt hat. Der Beschwerdeführer ist nicht über die Untersuchung unterrichtet worden, „um die Ermittlungen nicht zu gefährden“ (Randnummer 21 des Urteils). Gemäß dem innerstaatlichen Recht hat der Ermittlungsrichter außerdem den Beschwerdeführer von der Vernehmung der Zeuginnen ausgeschlossen, „da er befürchtete, dass diese, die ihm durch den Vorfall erheblich schockiert und verängstigt schienen, in Gegenwart des Täters aus Angst nicht die Wahrheit sagen würden“ (Randnummer 21 des Urteils). Der Gerichtshof sollte meines Erachtens in seiner Rechtsprechung den Rechten und Interessen der Opfer von Straftaten gleichermaßen Aufmerksamkeit schenken und Schutz gewähren; unter den besonderen Umständen des Falles gibt es gute Gründe, die Opfer zu schützen. Ferner haben die innerstaatlichen Gerichte die fehlende Bestellung eines Anwalts zur Vertretung des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Vernehmung nicht als Verstoß gegen § 141 Absatz 3 der Strafprozessordnung in Verbindung mit § 140 Absatz 1 der Strafprozessordnung und gemäß der Auslegung des Bundesgerichtshofs bewertet (Randnummern 28-29, 57-59 und 62 des Urteils). Ich nehme hierzu die Erläuterung der Regierung (Randnummer 94 des Urteils) zur Kenntnis, derzufolge das Tatgericht nach den Maßstäben des § 168c § der Strafprozessordnung nicht verpflichtet war, den gegebenenfalls zur Vertretung des Beschwerdeführers bestellten Anwalt von dem Verhandlungstermin zu benachrichtigen, wenn es der Meinung ist, dass eine solche Benachrichtigung den Untersuchungserfolg gefährden würde.

28. Drittens kann meines Erachtens die Tatsache, dass „es vielleicht nicht möglich war, diese Zeuginnen in einer späteren Verhandlung gegen den Beschwerdeführer (…) anzuhören“ (Randnummer 159 des Urteils) nicht zur Schlussfolgerung führen, dass der Umstand, dass kein Anwalt bestellt und dem Beschwerdeführer nicht die Gelegenheit gegeben wurde, O. und P. im Ermittlungsstadium durch einen zu seiner Vertretung bestellten Anwalt vernehmen zu lassen (Randnummer 160), bewirkt hat, dass das spätere Verfahren nicht fair war. Es bestand zwar die Gefahr, dass die beiden Frauen nicht in der Hauptverhandlung erscheinen, und eine solche Gefahr besteht immer, wenn Aussagen im Vorverfahren gemacht werden. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles gibt es jedoch keine hinreichende Grundlage für die Behauptung, dass es vorhersehbar gewesen sei, dass die Zeuginnen O. und P. nicht vor Gericht erscheinen würden, um auszusagen. Die Tatsache, dass es wahrscheinlich war, dass die Zeuginnen kurze Zeit nach der ermittlungsrichterlichen Vernehmung Deutschland verlassen würden, kann nicht mit der Schlussfolgerung als gleichbedeutend angesehen werden, dass es unmöglich gewesen wäre, diese in der späteren Verhandlung entweder persönlich oder im Wege einer Videoübertragung zu vernehmen. Hierzu möchte ich auch auf die eigenen Angaben des Beschwerdeführers verweisen, denenzufolge er davon ausgegangen ist, dass er die beiden Frauen in der Hauptverhandlung hätte befragen können, und dass er daher keinen Grund gehabt hatte zu beantragen, dass diese ein zweites Mal durch den Ermittlungsrichter vernommen werden (Randnummer 82 des Urteils).

29. Die Mehrheit misst meines Erachtens dem Vorverfahren und der Entscheidung, keinen Anwalt zu bestellen und den Beschwerdeführer und seinen Anwalt von der Vernehmung der beiden Zeuginnen nicht zu benachrichtigen, zu großes Gewicht bei.

30. Ferner misst die Mehrheit dem Zweck der „Ausgleichsfaktoren“ nicht genügend Bedeutung bei, der darin besteht, „eine korrekte und angemessene Prüfung der Zuverlässigkeit der Aussagen“ sicherzustellen und zu gewährleisten, dass diese Aussagen „hinreichend zuverlässig“ sind. In einem ausführlichen und gut begründeten Urteil hat das innerstaatliche Gericht dargelegt, weshalb die Aussagen der abwesenden Zeuginnen O. und P. im Lichte aller Beweismittel für zuverlässig gehalten wurden. Wie ich weiter oben ausgeführt habe, konnte das Tatgericht auf der Grundlage aller Beweismittel eine Prüfung der Zuverlässigkeit der Aussagen der abwesenden Zeuginnen O. und P. vornehmen. Nach Auffassung des Gerichts „ergab die Zusammenschau aller Beweismittel ein schlüssiges und vollständiges Gesamtbild der Geschehnisse, das die Version der Zeuginnen O. und P. stützte und die im Verlauf der Verhandlung gemachten widersprüchlichen Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Mitangeklagten widerlegte.“

31. Ich bin daher der Meinung, dass die Verwertung der schriftlichen Aussagen der abwesenden Zeuginnen O. und P. und die fehlende Möglichkeit für den Beschwerdeführer, die beiden Frauen in irgendeinem Verfahrensstadium zu befragen oder befragen zu lassen, nicht dazu geführt haben, dass das Verfahren insgesamt nicht fair war.

32. Dieses Urteil ist für mich ein weiteres Beispiel dafür, welche Bedeutung der Gerichtshof dem Ermittlungsstadium für die Vorbereitung des Strafverfahrens zumisst (Salduz ./. Türkei [GK], Nr. 36391/02, Rdnr. 54, CEDH 2008), was beinhaltet, dass die Nichtbeachtung bestimmter Verfahrensgarantien im Vorverfahren mehr oder weniger automatisch zur Folge hat, dass die aufgenommenen Beweismittel nicht zu Lasten des Angeklagten verwertet werden können.

33. Dies ist besonders bedauerlich in einer Situation, in der die Einschränkung bestimmter Verfahrensgarantien durch die Notwendigkeit gerechtfertigt ist, die Opfer von Straftaten zu schützen, oder in der stützende Beweise es dem Tatgericht ermöglichen, die Zuverlässigkeit der von abwesenden Zeugen gemachten Aussagen zu würdigen.

34. Dieses Urteil ist ein Beispiel für einen recht formalistischen Ansatz des Gerichtshofs in Bezug auf die Bedeutung der Verfahrensgarantien, wonach die Nichtbeachtung bestimmter Verfahrensgarantien im Vorverfahren die gewonnenen Beweise zur Folge hat, selbst wenn die Verwertung dieser Beweise im Rahmen einer Gesamtwürdigung nicht zur Folge hat, dass das Verfahren in seiner Gesamtheit unfair wäre.

___________

[1] Deutsch auch im englischen und französischen Original

[2] Deutsch auch im englischen und französischen Original

[3] Fehlzitat im französischsprachigen und englischsprachigen Originaltext enthalten; gemeint ersichtlich: § 168c Abs. 3 StPO.

[4] Fehlzitat im englischsprachigen und französischsprachigen Originaltext enthalten; gemeint wohl § 141 Abs. 3 StPO.

Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze

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