RECHTSSACHE BLÜHDORN ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 62054/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE B. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 62054/12)
URTEIL
STRASSBURG
18. Februar 2016

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache B. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Khanlar Hajiyev, Präsident,
Angelika Nußberger,
Erik Møse,
Faris Vehabović,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
und Mārtiņš Mits,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 26. Januar 2016

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 62054/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, B. („der Beschwerdeführer“), am 13. September 2012 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn S., Rechtsanwalt in F., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer brachte insbesondere vor, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus – die angeordnet sei, obwohl die behandelnden Ärzte in ihren jährlichen Berichten keine psychische Erkrankung diagnostiziert hätten – sein Recht auf Freiheit verletze.

4. Am 18. Juni 2013 wurde die nach Artikel 5 der Konvention erhobene Rüge hinsichtlich der fortdauernden Unterbringung des Beschwerdeführers der beschwerdegegnerischen Regierung übermittelt und gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS

5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist derzeit in dem Psychiatrischen Krankenhaus R. untergebracht.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

1. Das Strafverfahren und die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus

6. Bei dem Beschwerdeführer liegen frühere Verurteilungen vor; er war 1968 der Vergewaltigung und 1990 der sexuellen Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen worden.

7. Am 14. Januar 2002 sprach das Landgericht Darmstadt den Beschwerdeführer der Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung schuldig. Unter Einbeziehung einer Strafe aus einer früheren Verurteilung verurteilte es ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Gleichzeitig ordnete das Gericht nach § 63 StGB die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an (siehe Rdnr. 31). Es war der Auffassung, dass bei dem Beschwerdeführer eine Störung der Sexualpräferenz in Form des Sadismus vorliege, und stellte fest, dass weitere Straftaten von ihm zu erwarten seien. Das Landgericht stützte seine Anordnung in erster Linie auf die Schlussfolgerungen eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens, berücksichtigte aber auch die frühere Verurteilung des Beschwerdeführers wegen sexueller Nötigung aus dem Jahr 1990. Es stellte auch fest, dass der Beschwerdeführer versucht habe, mehrere Prostituierte, zu denen er in den vergangenen Jahren Kontakt gehabt habe, zu unterwerfen. Das Landgericht befand, dass dies auf eine Progredienz seines Verhaltens hindeute. Es führte aus, dass der Beschwerdeführer bislang eine psychiatrische Behandlung abgelehnt habe, und schloss sich der Meinung des Sachverständigen an, dass der Beschwerdeführer sich dem Drang, zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs Frauen zu demütigen und zu misshandeln, nicht werde widersetzen können. Das Landgericht kam zu dem Ergebnis, dass gleichartige Straftaten zu erwarten seien und dass der Beschwerdeführer daher für die Allgemeinheit gefährlich sei.

8. Der Beschwerdeführer wurde noch am selben Tag festgenommen und in der Klinik für forensische Psychiatrie H. untergebracht.

2. Forensisch-psychiatrische Sachverständigengutachten anlässlich der jährlichen Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers im Krankenhaus

9. Die Unterbringung des Beschwerdeführers in psychiatrischen Krankenhäusern wurde in regelmäßigen Abständen überprüft (vgl. §§ 67d und 67e StGB, siehe Rdnrn. 32 und 33) und jährlich verlängert. Im Rahmen der entsprechenden Verfahren forderten die Gerichte jährlich forensisch-psychiatrische Sachverständigengutachten zur Frage der Notwendigkeit seiner Unterbringung im Krankenhaus an. Sämtliche Sachverständigengutachten kamen zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer wahrscheinlich erneut straffällig werden würde.

10. Am 2. April 2003 legte die Klinik für forensische Psychiatrie H. eine Erststellungnahme vor; darin wurde die Diagnose antisoziales Verhalten im Erwachsenenalter und Alkoholmissbrauch bestätigt. Es wurde jedoch kein sexueller Sadismus diagnostiziert. Unter Bezugnahme auf das „Diagnostische und statistische Manual Psychischer Störungen“ – das von der American Psychiatric Association veröffentlicht wird und eine gemeinsame Sprache und Standardkriterien für die Klassifikation psychischer Störungen bietet – wurde festgestellt, dass die dafür erforderlichen Kriterien nicht erfüllt seien. Im Ergebnis wurde festgehalten, dass diese Diagnose eher unwahrscheinlich sei, ohne umfassende und glaubhafte Sexualanamnese aber auch nicht vollständig ausgeschlossen werden könne.

11. Am 13. Mai 2004 wurde der Beschwerdeführer in die Klinik für forensische Psychiatrie A. verlegt.

12. Am 21. November 2005 wurde der Beschwerdeführer von einer externen psychologischen Sachverständigen begutachtet, die die im Strafverfahren gestellte Diagnose des sexuellen Sadismus eingehend kritisierte, insbesondere die fehlenden Angaben zum inneren Erleben des Beschwerdeführers zu Beginn der Störung und deren Weiterentwicklung sowie die fehlende Bewertung seiner Vortaten. Die Sachverständige kam zu dem folgenden Schluss: „Es bleibt also weiterhin fraglich, inwieweit ein sexueller Sadismus wirklich vorliegt.“ 13. Am 11. Dezember 2006 erstattete die Klinik für forensische Psychiatrie A. ein weiteres Sachverständigengutachten. Darin wurde zwar die Verdachtsdiagnose des sexuellen Sadismus angesprochen, jedoch festgestellt, dass diese angesichts der Vorgeschichte und der Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers nicht haltbar sei. Selbst wenn der Beschwerdeführer eine sexuell sadistische Veranlagung haben sollte, so erlebe er diese ohne Leidensgefühl, und ohne Veränderungswillen. Gemäß dem Urteil im Strafverfahren habe der Beschwerdeführer seine sexuellen Neigungen vermutlich mit Prostituierten ausgelebt, um eine Anzeige zu vermeiden. Weder aus der Aktenlage, noch aus seinen Angaben seien dabei Anzeichen einer süchtigen Entwicklung, drängender perverser Fantasien oder pathologischer Impulsivität zu erkennen. Es gebe keinen Therapieansatz, weil der Beschwerdeführer unter seinem Verhalten nicht leide und auch keine Bereitschaft zur Veränderung habe. Die Klinik kam daher zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus um eine Fehleinweisung handele.

14. Am 3. September 2007, 20. August 2008 und 18. Agust 2009 wurden durch die Klinik für forensische Psychiatrie A. ähnliche Sachverständigengutachten erstellt. Obwohl in allen diesen Gutachten auch die Verdachtsdiagnose des sexuellen Sadismus angesprochen wurde, bestätigten sie die vorangegangenen Feststellungen. Sämtliche Sachverständigengutachten kamen zu dem Schluss, dass es abgesehen von den im Urteil des erkennenden Gerichts enthaltenen Tatsachenschilderungen keine Hinweise für eine Diagnose des sexuellen Sadismus gebe. In jedem Sachverständigengutachten wurde der Fall des Beschwerdeführers als klassische Fehleinweisung in den Maßregelvollzug beschrieben.

15. Am 29. Dezember 2009 verweigerte der Beschwerdeführer die Begutachtung durch einen externen Sachverständigen.

16. Am 26. Januar 2010 wurde der Beschwerdeführer in das forensisch-psychiatrische Krankenhaus H. verlegt.

3. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens

17. Am 30. September 2008 ließ das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Wiederaufnahme des mit Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 14. Januar 2002 abgeschlossenen Strafverfahrens zu.

18. Das Landgericht Kassel bestellte 2010 einen neuen externen psychiatrischen Sachverständigen. Der Sachverständige kam, allerdings unter dem Vorbehalt, dass er den Beschwerdeführer nicht persönlich begutachtet, sondern seine Bewertung ausschließlich auf die Aktenlage gestützt habe, zu dem Schluss, dass bei dem Beschwerdeführer sexueller Sadismus vorliege. Im Anschluss verwarf das Landgericht Kassel den Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens. Die von dem Beschwerdeführer gegen diese Verwerfung eingelegte sofortige Beschwerde wurde verworfen.

19. Am 17. September 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die entsprechende Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1364/12).

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Das aktuelle forensisch-psychiatrische Sachverständigengutachten

20. Am 15. März 2011 erstattete die Klinik für forensische Psychiatrie H., wo der Beschwerdeführer untergebracht war, ein Sachverständigengutachten zur Notwendigkeit der weiteren Unterbringung des Beschwerdeführers im Krankenhaus. Diagnostiziert wurden eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, Alkoholmissbrauch und Verdacht auf sexuellen Sadismus. Obwohl das Risiko, dass der Beschwerdeführer erneut Straftaten begehen würde, als hoch eingeschätzt wurde, wurde die frühere Einschätzung, dass im Fall des Beschwerdeführers eine klassische Fehleinweisung vorliege, bestätigt. Diese Schlussfolgerung wurde auf die Tatsache gestützt, dass das Verhalten des Beschwerdeführers zu keinem Zeitpunkt während der Behandlung Anlass geboten habe, von einem psychopathologischen Befund auszugehen, wie es im Rahmen einer psychiatrischen Erkrankung zu erwarten gewesen wäre.

2. Das Verfahren vor dem Landgericht Darmstadt

21. Am 24. Mai 2011 bat das Landgericht Darmstadt den Beschwerdeführer, dem Gericht mitzuteilen, ob er einer Begutachtung durch den externen Sachverständigen Dr. E. zustimme.

22. Am 29. Mai 2011 teilte der Beschwerdefüher dem Landgericht schriftlich mit, dass er einer medizinischen Begutachtung nicht zustimme.

23. Am 26. Juli 2011 hörte das Landgericht den Beschwerdeführer und seinen Verteidiger sowie eine Sachverständige der Klinik für forensische Psychiatrie H. an.

24. Am 28. Juli 2011 lehnte es das Landgericht ab, die Unterbringung des Beschwerdeführers im Krankenhaus zu beenden und ihn auf Bewährung zu entlassen, da die Voraussetzungen der §§ 67d Abs. 2 und 6 StGB nicht erfüllt seien (siehe Rdnr. 32). Es führte aus, dass die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nur dann wegen einer Fehleinweisung beendet werden könne, wenn mit Sicherheit feststehe, dass der Beschwerdeführer von Anfang an nicht unter einer psychischen Erkrankung gelitten habe, die seine Unterbringung gemäß § 63 StGB wegen verminderter Schuldfähigkeit rechtfertige. Das Landgericht stellte in diesem Zusammenhang fest, dass weder die Angaben der psychologischen Sachverständigen im Anhörungstermin noch die aktuellen und vorangegangenen Sachverständigengutachten ausgeschlossen hätten, dass bei dem Beschwerdeführer sexueller Sadismus vorliege, auch wenn diese Diagnose als eher unwahrscheinlich eingeschätzt worden sei (siehe Rdnrn. 10 bis 14). Das Gericht berücksichtigte ferner, dass der Beschwerdeführer sich geweigert habe, glaubhafte und vollständige Angaben zu seiner sexuellen Vorgeschichte zu machen, und es dadurch unmöglich gemacht habe, eine sichere Diagnose zu stellen. Daher sei eine Fehleinweisung nicht zweifelsfrei festgestellt worden. Bereits aus diesem Grund seien daher die Voraussetzungen für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB nicht erfüllt. Ohne sein Entscheidung darauf zu stützen, wies das Landgericht schließlich auf das im Wiederaufnahmeverfahren erstellte Sachverständigengutachten hin, in dem die Diagnose des Sadismus bestätigt worden sei

25. Abschließend stellte das Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer nicht auf Bewährung entlassen werden könne, da er sich geweigert habe, sich mit seinen Problemen in Bezug auf Sexualität und Gewalt auseinanderzusetzen. Der Verlauf der Unterbringung des Beschwerdeführers und seine fehlende Einsicht hinsichtlich seiner Straftaten legten nahe, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut straffällig werden würde.

3. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main

26. Am 29. September 2011 bestätigte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Entscheidung des Landgerichts. Es stellte fest, dass ausnahmsweise keine Begutachtung durch einen externen psychiatrischen Sachverständigenerforderlich sei. Ein solches Sachverständigengutachten würde sich allein auf die Aktenlage stützen müssen, da der Beschwerdeführer angekündigt habe, jegliche Begutachtung zu verweigern. Das Oberlandesgericht war der Ansicht, dass unter diesen Umständen von einem externen Sachverständigengutachten keine neuen Erkenntnisse erwartet werden könnten. Darüber hinaus stellte es fest, dass sich am Zustand und an der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers seit der letzten Begutachtung nichts geändert habe, da er jegliche Therapie verweigert habe. Das Oberlandesgericht wies ferner das Vorbringen des Beschwerdeführers zurück, das Landgericht werfe ihm seine mangelnde Therapiebereitschaft vor, obwohl die Klinik der Auffassung sei, es handele sich um eine Fehleinweisung. Es vertrat die Ansicht, dass die Ursachen der schweren Sexualstraftaten, die der Beschwerdeführer begangen habe, in jedem Fall der therapeutischen Aufarbeitung bedürften. Eine solche Behandlung wäre auch dann angezeigt, wenn der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden wäre. Der Beschwerdeführer habe die Konsequenzen seiner Therapieverweigerung selbst zu tragen, denn in der Klinik seien Therapien zur Deliktsbearbeitung auch für fehleingewiesene Patienten möglich.

4. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

27. Am 16. August 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht (2 BvR 2679/11) ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.

C. Das anschließende Verfahren

28. Nach Einholung eines mit dem 22. Februar 2014 datierten externen Sachverständigengutachtens und Anhörung des Sachverständigen und des Anwalts des Beschwerdeführers beschloss das Landgericht Darmstadt am 23. April 2014, die angeordnete Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zur Bewährung auszusetzen. Der Sachverständige, der den Beschwerdeführer nicht persönlich begutachtet hatte, weil dieser in eine solche Begutachtung nicht eingewilligt hatte, stellte fest, dass bei dem Beschwerdeführer eine Störung seiner Sexualpräferenz in Form eines Sadismus vorliege und zu erwarten sei, dass er weitere Straftaten begehen würde. Die vom Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung eingelegte sofortige Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht verworfen. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist noch nicht abgeschlossen.

29. Nach Einholung einer Stellungnahme der Klinik für forensische Psychiatrie H., in der der Beschwerdeführer untergebracht ist, und nach Anhörung des Beschwerdeführers beschluss das Landgericht Darmstadt am 19. Januar 2015 erneut, die angeordnete Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zur Bewährung auszusetzen. Die vom Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung eingelegte sofortige Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht verworfen.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

30. Das deutsche Strafgesetzbuch sieht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vor, wenn ein Straftäter mit verminderter Schuldfähigkeit gehandelt hat. Der Zweck dieser Maßregel besteht darin, gefährliche Straftäter zu resozialisieren und die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen. Die Maßnahme muss jedoch im angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der vom Täter begangenen oder möglicherweise zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr stehen (§§ 62, 63 StGB).

31. § 63 StGB bestimmt, dass das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne Angabe einer Höchstdauer anordnet, wenn jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat und die Gesamtwürdigung des Täters und der begangenen Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

32. § 67d StGB regelt die Dauer der Unterbringung. In der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung lauteten die Absätze 2 und 6:

„(2) Ist keine Höchstfrist vorgesehen …, so setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein.

[…]

(6) Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein. Das Gericht ordnet den Nichteintritt der Führungsaufsicht an, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird.“

33. § 67e StGB regelt die Überprüfung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das Vollstreckungsgericht kann jederzeit prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen ist. Im Falle der Unterbringung in einem psychiatrsichen Krankenhaus muss es dies innerhalb einer Frist von einem Jahr prüfen (§ 67e). § 463 Abs. 4 StPO sieht vor, dass das Gericht nach jeweils fünf Jahren vollzogener Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus das Gutachten eines Sachverständigen einholen muss. Der Sachverständige, der das Gutachten erstellt, darf weder mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSATZ 1 DER KONVENTION

34. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sein Recht auf Freiheit verletzt habe. Seine Unterbringung sei verlängert worden, obwohl nicht festgestellt worden sei, dass bei ihm tatsächlich die psychische Störung vorliege, die bei der ursprünglichen Anordnung seiner Unterbringung diagnostiziert worden sei. Daher könne ihm nicht wegen „psychischer Krankheit [of unsound mind]“ die Freiheit entzogen werden. Er berief sich auf Artikel 5 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;…

e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern […]“

35. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

36. Die Regierung brachte zunächst vor, dass die vorliegende Individualbeschwerde unzulässig sei, da das Bundesverfassungsgericht über die wegen der Ablehnung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens eingelegte Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers noch nicht entschieden habe. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass dieses Vorbringen nicht mehr relevant ist, da das Bundesverfassungsgericht die entsprechende Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers am 17. September 2013 verwarf (siehe Rdnr. 19). Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Rüge nicht nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet oder aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

37. Der Beschwerdeführer trug vor, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe. Sie sei weder nach einem der Buchstaben a bis f des Artikels 5 Abs. 1 gerechtfertigt, noch sei sie rechtmäßig gewesen.

38. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass der nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erforderliche Kausalzusammenhang zwischen seiner Verurteilung und seiner Freiheitsentziehung nicht gegeben sei, weil die zum Zeitpunkt seiner Verurteilung gestellte Diagnose des sexuellen Sadismus durch eine andere Diagnose, die der dissozialen Persönlichkeitsstörung und des Alkoholmissbrauchs, sowie eine Verdachtsdiagnose des sexuellen Sadismus ersetzt worden sei. Die Feststellungen in dem rechtskräftigen Urteil aus dem Jahr 2002 stellten daher keine einschlägige Grundlage für seine fortdauernde Unterbringung dar. Die vorliegende Rechtssache müsse von der Rechtssache R. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 20084/07, 16. Mai 2013) unterschieden werden. Während sich die Gerichte in jener Rechtssache nur hinsichtlich der korrekten rechtlichen Einordnung der unveränderten Diagnose uneinig gewesen seien, seien in der vorliegenden Rechtssache die Vollstreckungsgerichte hinsichtlich der Diagnose und somit der Tatsachen anderer Meinung als das erkennende Gericht gewesen. Darüber hinaus war der Beschwerdeführer der Auffassung, dass sich die innerstaatlichen Gerichte auf ein veraltetes Sachverständigengutachten gestützt hatten.

39. Der Beschwerdeführer brachte erneut vor, dass sich seine fortdauernde Freiheitsentziehung nicht, wie nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e erforderlich, mit dem Fortbestehen einer pathologischen psychischen Störung rechtfertigen lasse, weil die Sachverständigen die ursprüngliche Diagnose des sexuellen Sadismus nicht bestätigen könnten, sondern lediglich nicht in der Lage seien, sie auszuschließen.

40. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unrechtmäßig gewesen sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten die Unterbringung beenden müssen, da eine Fehleinweisung vorgenommen worden sei, denn die Sachverständigen hätten erklärt, er sei ein „normaler“ Vergewaltiger, dessen Schuldfähigkeit nicht vermindert gewesen sei.

(b) Die Regierung

41. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar sei.

42. Sie führte aus, es bestehe, wie nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erforderlich, weiterhin ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Landgericht Darmstadt im Jahre 2002 und der Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Er leide immer noch, wie zum Zeitpunkt der Anordnung seiner Unterbringung im Jahr 2002, an einer psychischen Störung und werde so lange eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen, bis seine Gefährlichkeit aufgrund einer erfolgreichen Behandlung der Störung abgenommen habe. Keiner der Sachverständigen, die sich mit dem Fall des Beschwerdeführers befasst hätten, hätten ihn als psychisch gesunde Person angesehen, die an keiner behandlungsbedürften psychischen Störung leide. Lediglich die Klassifikation der psychischen Krankheit des Beschwerdeführers habe Schwierigkeiten bereitet.

43. Die Regierung war der Ansicht, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers sowohl rechtmäßig gewesen als auch in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgt sei. Die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers habe sich auf den Beschluss des Landgerichts Darmstadt[1] vom 28. Juli 2011 gestützt und habe ihre gesetzliche Grundlage in § 67d StGB (siehe Rdnr. 32). Hinsichtlich der Frage, ob die Unterbringung des Beschwerdeführers wegen Fehleinweisung hätte beendet werden müssen, betonte die Regierung, dass dies nur möglich sei, wenn zweifelsfrei feststehe, dass der die Unterbringung begründende Defekt nicht vorliege. In der vorliegenden Rechtssache könnten die Sachverständigen lediglich nicht ausschließen, dass der Beschwerdeführer nicht an einer krankhaften seelischen Störung leide.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

44. Hinsichtlich der Gründe für die Freiheitsentziehung erinnert der Gerichts an die Grundsätze, die er u. a. in der Rechtssache Del Río Prada ./. Spanien ([GK], Individualbeschwerde Nr. 42750/09, Rdnr. 123, ECHR 2013, mit weiteren Nachweisen) niedergelegt hat.

45. Insbesondere muss nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a die Freiheitsentziehung des Betroffenen, und nicht seine Verurteilung, rechtmäßig sein. Da der Zweck von Artikel 5 darin besteht, den Einzelnen vor Willlkür zu schützen, kann eine Freiheitsentziehung (nur) dann aufgrund einer fehlerhaften Verurteilung unrechtmäßig sein, wenn diese Verurteilung das Ergebnis einer flagranten Rechtsverweigerung ist (vgl. Ilaşcu u.a. ./. Moldawien und Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 48787/99, Rdnr. 461, ECHR 2004‑VII).

46. Überdies bedeutet das Wort „nach” in Buchstabe a nicht einfach, dass die „Freiheitsentziehung“ zeitlich auf die „Verurteilung“ folgen muss: Zusätzlich muss die „Freiheitsentziehung” sich aus dieser „Verurteilung“ ergeben, ihr folgen und von ihr abhängen oder kraft dieser „Verurteilung“ angeordnet werden. Kurz gefasst muss zwischen der Verurteilung und der betreffenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang bestehen (siehe Kafkaris ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Rdnr. 117, ECHR 2008, mit weiteren Nachweisen). Jedoch kann die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und einer weiteren Freiheitsentziehung mit zunehmendem Zeitablauf allmählich schwächer werden (vgl. van Droogenbroeck ./. Belgien, 24. Juni 1982, Rdnr. 40, Serie A Band 50). Der nach Buchstabe a erforderliche Kausalzusammenhang könnte durchbrochen werden, wenn eine Position erreicht würde, in der die Entscheidung, keine Freilassung bzw. eine neue Haft anzuordnen, sich auf Gründe stützte, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung (durch ein erkennendes Gericht) unvereinbar wären, oder auf eine Einschätzung, die im Hinblick auf diese Ziele unangemessen wäre. Unter diesen Umständen würde sich eine Freiheitsentziehung, die zu Beginn rechtmäßig war, in eine willkürliche Freiheitsentziehung verwandeln, die folglich mit Artikel 5 nicht vereinbar wäre (vgl. van Droogenbroeck, a. a. O., Rdnr. 40)

47. Jede Freiheitsentziehung muss unter eine der Ausnahmen nach den Buchstaben a bis f fallen und zudem „rechtmäßig“ sein. Bei der Frage der „Rechtmäßigkeit“ der Freiheitsentziehung, u. a. auch der, ob sie „auf die die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgt ist oder nicht, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht und erlegt die Verpflichtung auf, dessen materiell- und verfahrensrechtliche Bestimmungen einzuhalten (siehe u. v. a. R., a. a. O., Rdnr. 94).

48. Die Einhaltung des innerstaatlichen Rechts reicht jedoch nicht aus: Artikel 5 Abs. 1 verlangt darüber hinaus, dass jede Freiheitsentziehung dem Zweck entsprechen sollte, den Einzelnen vor Willkür zu schützen (siehe u. v. a. Winterwerp, a. a. O., Rdnrn. 37, und M. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11364/03, Rdnr. 72, 9. Juli 2009).

(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

(i) Freiheitsentziehungsgrund

49. Der Gerichtshof ist aufgefordert zu untersuchen, ob dem Beschwerdeführer während seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die aufgrund des hier in Rede stehenden Verfahrens erfolgte, die Freiheit gemäß einem der Buchstaben a bis f von Artikel 5 Abs. 1 rechtmäßig entzogen war.

50. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus im Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 14. Januar 2002 zusammen mit seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung angeordnet wurde (siehe Rdnr. 7). Er möchte daher zunächst prüfen, ob die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a als „Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht“ gerechtfertigt war.

51. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus im Jahr 2002 durch das erkennende Gericht angeordnet wurde, das ihn der Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung schuldig gesprochen hatte. Dieses Urteil entsprach daher dem Erfordernis einer „Verurteilung“ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1.

52. Der Gerichtshof muss ferner feststellen, ob die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus „nach Verurteilung“ erfolgte, ob, anders ausgedrückt, noch ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das erkennende Gericht im Jahre 2002 und der Fortdauer seiner Freiheitsentziehung nach dem 28. Juli 2011 bestand.

53. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht Darmstadt als erkennendes Gericht die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB anordnete, weil es der Auffassung war, dass der Beschwerdeführer aufgrund einer Störung seiner Sexualpräferenz in Form eines Sadismus mit verminderter Schuldfähigkeit gehandelt habe. Das Landgericht war der Auffassung, dass sich der Beschwerdeführer dem Drang, zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs Frauen zu demütigen und zu misshandeln, nicht werde widersetzen können. Es kam zu dem Ergebnis, dass gleichartige Straftaten zu erwarten seien und dass der Beschwerdeführer daher für die Allgemeinheit gefährlich sei (siehe Rdnr. 7).

54. In dem Überprüfungsverfahren im Jahr 2011 stützte sich das Landgericht Darmstadt auf ein Sachverständigengutachten, das bei dem Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, Alkoholmissbrauch und Verdacht auf sexuellen Sadismus dagnostiziert hatte und eine hohe Rückfallgefahr gegeben sah. Das Landgericht stellte in diesem Zusammenhang fest, dass weder die Angaben der psychologischen Sachverständigen im Anhörungstermin noch die aktuellen und vorangegangenen Sachverständigengutachten ausschlössen, dass bei dem Beschwerdeführer sexueller Sadismus vorliege, auch wenn diese Diagnose als eher unwahrscheinlich eingeschätzt worden sei. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht Frankfurt gelangten zu dem Schluss, dass sich am Zustand und an der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers seit seiner Verurteilung nichts geändert habe, da er jegliche Therapie verweigert habe. Da eine Fehleinweisung auf der Grundlage unzutreffend festgestellter Tatsachen nicht vorliege, seien die Bedingungen einer Beendigung der Unterbringung des Beschwerdeführers gemäß § 67d Abs. 6 StGB nicht erfüllt.

55. Bei der Entscheidung darüber, ob die die von den innerstaatlichen Gerichten in dem in Rede stehenden Verfahren angeführten Gründe mit den Zielen des Urteils des erkennenden Gerichts vereinbar waren, stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte feststellten, dass sich am Zustand des Beschwerdeführers seit seiner Verurteilung nichts geändert habe, und dass sie daher hinsichtlich der Tatsachengrundlage für die Schlussfolgerung, der Beschwerdeführer leide an einer psychischen Störung, mit dem erkennenden Gericht einer Meinung waren. Darüber hinaus waren sie sich einig darüber, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Gefährlichkeit unterzubringen sei. Sowohl das erkennende Gericht als auch die Gerichte in dem in Rede stehenden Verfahren hielten es für wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer erneut straffällig werden würde, wenn seine Unterbringung beendet würde.

56. Zutreffend ist, dass die Vollstreckungsgerichte die Auffassung des erkennenden Gerichts, der Beschwerdeführer sei aufgrund einer Störung seiner Sexualpräferenz in Form des Sadismus vermindert schuldfähig, nur vorbehaltlich einiger Zweifel bestätigten. Sie wiesen jedoch wiederholt darauf hin, dass die Sachverständigen festgestellt hätten, dass eine Diagnose des sexuellen Sadismus nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden könne. Auf dieser Grundlage prüften sie, ob es Raum für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB gebe, dem gemäß ein Gericht eine Unterbringung beenden kann, wenn die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen, befanden jedoch, dass sie wegen der Weigerung des Beschwerdeführers, sich begutachten zu lassen, nicht mit Sicherheit feststellen könnten, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr gegeben seien. Ferner habe sich die Tatsachengrundlage für die ursprüngliche Diagnose nicht verändert. Darüber hinaus verneinten sie die Frage, ob die Unterbringung des Beschwerdeführers vorläufig ausgesetzt werden könne, weil immer noch zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer im Falle seine Entlassung weitere Straftaten begehen würde.

57. Hinsichtlich der von den Vollstreckungsgerichten geäußerten Zweifel an der korrekten Klassifikation der psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers nimmt der Gerichtshof auf die Rechtssache R. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 20084/07, 16. Mai 2013) Bezug. In der Rechtssache R. stimmten das erkennende Gericht und die Vollstreckungsgerichte dahingehend überein, dass der Beschwerdeführer an einer psychischen Störung leide, die eine Unterbringung wegen seiner Gefährlichkeit rechtfertige, jedoch waren die Vollstreckungsgerichte, anders als das Urteilsgericht, nicht der Auffassung, dass die psychische Störung des Beschwerdeführers als eine Störung klassifiziert werden könne, die eine verminderte Schuldfähigkeit begründe. Hinsichtlich der korrekten rechtlichen Einordnung der psychischen Störung des Beschwerdeführers bestand somit eine unterschiedliche Auffassung (siehe R., a. a. O., Rdnr. 103). Ebenso wie in der Rechtssache R. waren sich die Vollstreckungsgerichte in der vorliegenden Rechtssache mit dem erkennenden Gericht darin einig, dass bei dem Beschwerdeführer eine psychische Störung vorliege, die seine Unterbringung aufgrund seiner Gefährlichkeit erforderlich mache. Anders als in der Rechtssache R. waren die Vollstreckungsgerichte jedoch hinsichtlich der korrekten rechtlichen Einordnung der psychischen Störung des Beschwerdeführers nicht anderer Auffassung als das erkennende Gericht, sondern hatten lediglich dahingehend Zweifel, ob die psychische Störung des Beschwerdeführers als sexueller Sadismus, der eine vermindete Schuldfähigkeit begründe, klassifiziert werden könne oder nicht. Daher ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Gründe, die in der Rechtssache R. angeführt wurden, in der der Gerichtshof zu dem Schluss gelangte, dass zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers und der Fortdauer seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung immer noch ein hinreichender Kausalzusammenhang bestand, in dem vorliegenden Fall erst recht anwendbar sind.

58. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Tatsache, das sich die innerstaatlichen Gerichte zur Rechtfertigung der Freiheitsentziehung einer Person auf Feststellungen in einem rechtskräftigen Urteil eines Strafgerichts stützten, obwohl die Feststellungen des erkennenden Gerichts möglicherweise falsch waren, keine Frage nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention aufwirft, weil nicht behauptet werden kann, dass diese Verurteilung das Ergebnis einer flagranten Rechtsverweigerung war (siehe Ilaşcu u. a. ./. Moldawien und Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 48787/99, Rdnr. 461, ECHR 2004‑VII; und R., a. a. O., Rdnr. 104).

59. Der Gerichtshof ist ferner davon überzeugt, dass das Ziel, das den Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus zu verlängern, zugrunde lag, darin bestand, die Allgemeinheit weiterhin, solange der Beschwerdeführer für sie eine Gefahr darstellte, zu schützen und für eine Behandlung der Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers zu sorgen, um seine Gefährlichkeit zu mindern.

60. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Überprüfungsverfahren, den Beschwerdeführer nicht zu entlassen, sich auf Gründe stützte, die mit den Zielen, die vom erkennenden Gericht mit der Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus verfolgt wurden, vereinbar waren.

61. Der Gerichtshof stellt auch fest, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, den Beschwerdeführer nicht zu entlassen, nicht auf einer Einschätzung beruhte, die im Hinblick auf diese Ziele unangemessen war. Dass die innerstaatlichen Gerichte die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers angeordnet haben, kann unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht als Entscheidung angesehen werden, die auf einem veralteten Sachverständigengutachten beruhte, wie es der Beschwerdeführer – in ziemlich allgemeiner Form – behauptet hat. Angesichts der von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe ist klar, dass der Grund für die Nichteinholung eines neuen externen Sachverständigengutachtens darin bestand, dass der Beschwerdeführer sich zu der Zeit ausdrücklich weigerte, sich von einem Sachverständigen begutachen zu lassen (siehe Rdnrn. 21 und 22; vgl., sinngemäß, Constancia ./. die Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 73560/12, Rdnr. 30, 30. März 2015). Darüber hinaus merkt der Gerichtshof an, dass die innerstaatlichen Gerichte im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmeverfahren im Jahr 2010 wie auch dem Überprüfungsverfahren im Jahr 2014 Sachverständigengutachten eingeholt holten, und sich der Beschwerdeführer bei beiden Gelegenheiten geweigert hatte, sich begutachten zu lasssen (siehe Rdnrn. 18 und 28).

62. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Verfahren seine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten vollständig verbüßt (siehe Rdnr. 7) und insgesamt etwa fünf Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht hatte. Ungeachtet der Tatsache, dass die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung des Beschwerdeführers und der weiteren Freiheitsentziehung mit zunehmendem Zeitablauf möglicherweise schwächer geworden ist, war die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, kein neues Sachverständigengutachten einzuholen, und ihre Einschätzung, dass der Beschwerdeführer immer noch gefährlich sei, weil er sich keiner Therapie unterzogen habe, nicht willkürlich. Angesichts der vorstehenden Erwägungen gilt dies auch für die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus sei angesichts der Tatsache, dass bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung, Alkoholmissbrauch und Verdacht auf sexuellen Sadismus diagnostiziert worden seien und eine hohe Rückfallgefahr gegeben sei, immer noch gerechtfertigt.

63. Daher bestand weiterhin, im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a, ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahre 2002 und seiner weiteren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die das Ergebnis des in Rede stehenden Verfahrens war. Angesichts dieser Feststellungen ist eine Entscheidung des Gerichtshof darüber entbehrlich, ob die in Rede stehende Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers (auch) nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e gerechtfertigt sein könnte.

(ii) “„Rechtmäßige” Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“

64. Der Gerichtshof muss ferner feststellen, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers gemäß Artikel 5 Abs. 1 „rechtmäßig“ war und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgt ist.

65. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer vorgebracht hat, seine Unterbringung sei nicht unter Einhaltung der materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts angeordnet worden. Außerdem war der Beschwerdeführer der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen Vorliegens einer Fehleinweisung hätten beenden müssen, denn die Sachverständigen hätten erklärt, er sei ein „normaler“ Vergewaltiger, dessen Schuldfähigkeit nicht vermindert gewesen sei.

66. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d Abs. 2 StGB anordneten, jedoch der Auffassung waren, dass § 67d Abs. 6 nicht anwendbar sei. Somit gab es für die Freiheitsentziehung eine gesetzliche Grundlage im innerstaatlichen Recht.

67. Bei der Entscheidung darüber, ob das innerstaatliche Recht auch die erforderliche Qualität hatte, um rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen, muss der Gerichtshof insbesondere prüfen, ob die (Nicht-)Anwendung des – zugänglichen und präzise formulierten – § 67d Abs. 6 StGB im Fall des Beschwerdeführers vorhersehbar war.

68. Der Gerichtshof stellt fest, dass nach dem Wortlaut dieser Bestimmung das Gericht eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für beendet erklärt, wenn die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder von Anfang an nicht vorgelegen haben (vgl. R., a. a. O., Rdnr. 113).

69. Der Gerichtshof merkt an, dass die innerstaatlichen Gerichte sich darin einig waren, dass die Bedingungen für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB nur erfüllt wären, wenn mit Sicherheit feststehe, dass die die Maßnahme rechtfertigenden Umstände nicht mehr vorlägen, d. h. wenn der Beschwerdeführer nicht mehr an einer psychischen Störung leide, die seine Unterbringung erforderlich mache. Die Vollstreckungsgerichte stellten in diesem Zusammenhang fest, dass weder die Angaben der psychologischen Sachverständigen im Anhörungstermin noch die aktuellen und vorangegangenen Sachverständigengutachten ausschlössen, dass bei dem Beschwerdeführer sexueller Sadismus vorliege, auch wenn diese Diagnose als eher unwahrscheinlich eingeschätzt worden sei. Folglich seien die Voraussetzungen für die Anwendung von § 67d Abs. 6 StGB nicht erfüllt. Im Hinblick auf die von den innerstaatlichen Gerichte vorgebrachten Gründe kann sich der Gerichtshof der Auffassung des Beschwerdeführers, in dem in Rede stehenden Verfahren sei festgestellt worden, dass bei ihm niemals eine psychische Krankheit vorgelegen habe, die als sexueller Sadismus klassifiziert werden könne, nicht anschließen, da diese Diagnose von den Gerichten ausdrücklich nicht ausgeschlossen wurde. Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer, erforderlichenfalls mit entsprechender Rechtsberatung, voraussehen konnte, dass die innerstaatlichen Gerichte § 67d Abs. 6 StGB als auf seinen Fall nicht anwendbar ansehen würden.

70. Schließlich nimmt der Gerichtshof die ausführliche Begründung, die die innerstaatlichen Gerichte für ihre Entscheidungen gegeben haben, und den Kontext, in dem sie erfolgt sind, zur Kenntnis (siehe Rdnrn. 24 bis 26). Er stellt inbesondere fest, dass sie § 67d Abs. 6 StGB für nicht anwendbar hielten, da seine Bedingungen nicht erfüllt seien. Darüber hinaus machten sie deutlich, dass der Beschwerdeführer nach § 67d Abs. 2 StGB einen Anspruch auf Entlassung habe, sobald davon ausgegangen werden könne, dass er nach seiner Freilassung keine weiteren Straftaten begehen würde. Eine Entlassung des Beschwerdeführers werde daher durch die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Anwendung des innerstaatlichen Rechts nicht unmöglich gemacht. Angesichts der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass dem Beschwerdeführer unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht willkürlich die Freiheit entzogen war. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die sich aus dem in Rede stehenden Überprüfungsverfahren ergebende Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus entsprechend den Erfordernissen aus Artikel 5 Abs. 1 „rechtmäßig“ war und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgte.

71. Folglich ist Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 18. Februar 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                      Khanlar Hajiyev
Kanzlerin                                                         Präsident

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[1] Im englischsprachigen Originalurteil versehentlich als „Frankfurt am Main regional court“ bezeichnet. Anm. d. Übers.: richtig wäre „Darmstadt“

Zuletzt aktualisiert am Dezember 10, 2020 von eurogesetze

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