MEYER ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 16722/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 16722/10
M. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 22. März 2016 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Yonko Grozev,
Carlo Ranzoni,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 22. März 2010 erhoben wurde,

im Hinblick auf die Stellungnahme der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderung des Beschwerdeführers,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19… geborene Beschwerdeführer, Herr M., ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten.

2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr und Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

A. Die Umstände des Falles

3. Der Sachverhalt, so wie er von den Parteien vorgebracht wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Der Hintergrund der Rechtssache

4. Nach ihrer Gründung im Jahr 1927 erwarb die Gesellschaft ein großes Stück Land in der Nähe von B.. Ziel des Unternehmens war es, dieses zu erschließen und zu parzellieren, um es an künftige Siedler zu verkaufen. 1930 begann der Verkauf der ersten Grundstücke. Der jüdische Unternehmer A. S., ein deutscher Staatsangehöriger, hielt 50 % der Gesellschaftsanteile persönlich und ihm gehörten – mittelbar und unmittelbar – 58,8 % der Anteile eines anderen Unternehmens, das die übrigen 50 % der Gesellschaftsanteile hielt.

5. 1933 wurde A. S. nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gezwungen, Deutschland zu verlassen und u. a. seine Gesellschaftsanteile, die sich auf 79,4 % des Gesamtaktienvolumens beliefen, an Vertreter des neuen Regimes zu übergeben. Bis 1943 wurden nahezu alle der insgesamt etwa 1.500 Grundstücke durch die Gesellschaft verkauft.

6. Nach 1949 gehörte die Gemeinde zur ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Für A. S. bestand zu dieser Zeit keine Möglichkeit der Restitution von Grundbesitz.

7. 1950 wurden A. S. in Westdeutschland seine Anteile zurückgegeben, allerdings verfügte die Gesellschaft zu dem Zeitpunkt nicht mehr über nennenswerten Grundbesitz.

8. 1990 wurde im Zuge der deutschen Wiedervereinigung das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz, nachfolgend: VermG) verabschiedet und anschließend mehrfach geändert; es sah die Möglichkeit vor, Rückübertragungsansprüche für auf dem Gebiet der ehemaligen DDR belegenen Grundbesitz geltend zu machen (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 19-22).

9. 1995 meldete die C. against Germany, Inc. nach dem Vermögensgesetz mit einer Globalanmeldung Rückübertragungsansprüche in Bezug auf 79,4 % des Eigentums an einer Vielzahl von Grundstücken an, die früher der Gesellschaft gehört hatten. Die Anmeldung erfolgte nach § 2 Abs. 1 Satz 3 VermG (siehe Rdnr. 20). Die Erben von A. S. hatten ihre potenziellen Ansprüche nicht geltend gemacht.

10. Am 20. August 1997 trat die C. alle Ansprüche hinsichtlich der entsprechenden Grundstücke an den Beschwerdeführer ab.

11. Mit Bescheid vom 12. März 1999 wies das zuständige Landesamt für offene Vermögensfragen Brandenburg die ursprünglich von der C. gestellten Restitutions- und Entschädigungsanträge des Beschwerdeführers zurück.

2. Die Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten

12. Der Beschwerdeführer machte 1.388 Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Potsdam anhängig. Ein Teil der Verfahren betraf Rückübertragungen, andere betrafen Entschädigungsforderungen, da die betreffenden Grundstücke unstreitig nach dem 8. Mai 1945 in redlicher Weise durch Dritte erworben worden waren und eine Rückübertragung daher zum Schutz der neuen Eigentümer gesetzlich ausgeschlossen war. Eines der Rückübertragungsverfahren wurde zum Musterverfahren bestimmt. Das entsprechende Grundstück war 1934 verkauft und später nie weiterveräußert, sondern weitervererbt worden.

13. Am 18. August 2005 wies das Verwaltungsgericht die Klage des Beschwerdeführers in dem Musterverfahren ab. Es stellte fest, dass die C. als Rechtsnachfolgerin von A. S. gelte und die streitgegenständlichen Ansprüche rechtmäßig an den Beschwerdeführer abgetreten habe. Ungeachtet dessen sei ein Rückübertragungsanspruch jedoch aufgrund von § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG ausgeschlossen, da die Grundstücke zuvor Eigentum eines Siedlungsunternehmens gewesen seien. Das Verwaltungsgericht erkannte das Vorbringen des Beschwerdeführers an, dass er anders behandelt werde als andere Opfergruppen in der Vergangenheit, da für Nutzer oder Eigentümer, die vor dem 8. Mai 1945 Grundeigentum erworben hatten, nie ein Schutz bestanden habe. Überdies hätten andere Unternehmen, die Land parzelliert hätten, aber nicht unter den engen Begriff des „Siedlungsunternehmens“ fallen würden, Anspruch auf Rückübertragung. Das Verwaltungsgericht war jedoch der Auffassung, dass der Staat hinsichtlich der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus einen weiten Gestaltungsspielraum habe und vermochte keine Verletzung von Artikel 3 GG (siehe Rdnr. 18) durch § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG zu erkennen.

14. Am 21. Juni 2007 wies das Bundesverwaltungsgericht die Revision des Beschwerdeführers zurück und schloss sich im Wesentlichen der Auffassung des Verwaltungsgerichts an. Es befand ferner, dass § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG nicht gegen Artikel 14 GG (siehe Rdnr. 17) verstoße, da für die Rechtsvorgängerin des Beschwerdeführers zuvor keine vermögensrechtlichen Ansprüche bestanden hätten. Es verwies auf ein früheres Urteil, das am 7. März 2007 ergangen war (siehe Rdnr. 24), und dem zufolge das Vermögensgesetz in seiner maßgeblichen Fassung von 1992 keine Entschädigungsansprüche für die Anteilseigner eines über Grundbesitz verfügenden Unternehmens, sondern nur für die Eigentümergesellschaft selbst vorgesehen habe. Unter Bezugnahme auf Sinn und Zweck der Novellierung von 1997 gelangte das Bundesverwaltungsgericht in der vorliegenden Rechtssache zu der Einschätzung, dass Restitutionsforderungen von Anteilseignern erst 1997 durch die Änderung von § 3 Abs. 1 Satz 4 VermG möglich geworden seien (siehe Rdnr. 22). Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass die Rechtsvorgängerin des Beschwerdeführers 1997 bei Inkrafttreten der Neuregelung bereits einen Anspruch auf Entschädigung gehabt habe, sei vom Gesetzgeber ein gerechter Ausgleich zwischen den betroffenen Interessen geschaffen worden.

15. Am 16. September 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 2275/07). Es teilte die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts, dass § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG den Beschwerdeführer nicht in seinem Recht aus Artikel 3 GG verletze.

Es gelangte ferner zu dem Schluss, dass auch keine Verletzung des Eigentumsrechts des Beschwerdeführers aus Artikel 14 GG vorliege. Hinsichtlich der Rechtslage vor 1997 führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass es juristisch umstritten sei, inwiefern nicht nur Unternehmen, sondern auch deren Anteilseignern ein unmittelbarer Restitutionsanspruch in Bezug auf in der Vergangenheit aus dem Unternehmen ausgeschiedenes Vermögen zugestanden habe. Während teilweise in der Literatur sowie in einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1997 davon ausgegangen werde, dass dieser Anspruch schon in der Fassung des Vermögensgesetzes von 1992 vorgesehen gewesen sei, habe sich das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 7. März 2007 auf den – ebenfalls in der Literatur vertretenen – Standpunkt gestellt, dass erst 1997 ein unmittelbares Durchgriffsrecht von Anteilseignern geschaffen worden sei. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, dass die Entscheidung der Frage, ob ein Anspruch bestanden habe, den Fachgerichten obliege und dass der Wechsel in der Rechtsprechung weder willkürlich noch unvertretbar sei. Die diesbezüglichen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts seien zwar sehr knapp ausgefallen und hätten Sinn und Zweck der Änderung nicht näher erläutert, aber es müsse berücksichtigt werden, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Literatur der Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts folge; schon allein deshalb sei diese nicht als unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar anzusehen.

16. Am 2. Februar 2010 wies das Verwaltungsgericht Potsdam die Restitutionsklage des Beschwerdeführers in 225 noch anhängigen Fällen ab. Mit einem weiteren Urteil vom selben Tag wies es auch 489 Entschädigungsklagen des Beschwerdeführers zurück. Am 23. März 2010 unterlag der Beschwerdeführer vor dem Verwaltungsgericht in weiteren 26 Entschädigungsverfahren. In allen drei Urteilen verwies das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen lediglich auf sein eigenes Urteil und die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts in dem Musterverfahren (siehe Rdnrn. 13-15).

B. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis

1. Grundgesetz

17. Artikel 14 des Grundgesetzes lautet wie folgt:

„(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.“

18. Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet folgendermaßen:

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“

2. Vermögensgesetz (VermG)

19. Das Vermögensgesetz von 1990 besagt, dass Personen, die zu DDR-Zeiten unrechtmäßig enteignet wurden, grundsätzlich einen Anspruch auf Rückübertragung haben, es sei denn, ein Dritter hat das Eigentum in redlicher Weise erworben. In derartigen Fällen haben die früheren Eigentümer Anspruch auf finanzielle Entschädigung.

20. § 1 Abs. 6 weitet die Anwendbarkeit des Vermögensgesetzes auf Personen aus, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen durch Enteignung oder Verkauf unter Zwang verloren haben. § 2 Abs. 1 Satz 3 sieht vor, dass, soweit ein Anspruch von jüdischen Berechtigten nicht geltend gemacht wird, die C. als Rechtsnachfolgerin hinsichtlich des Anspruchs gilt.

21. 1992 wurde § 3 Abs. 1 um einen vierten Satz ergänzt, der soweit maßgeblich zum damaligen Zeitpunkt lautete:

„Gehören Vermögensgegenstände, die mit einem nach § 1 Abs. 6 […] zurückzugebenden oder einem […] bereits zurückgegebenen Unternehmen entzogen […] worden sind, […] nicht mehr zum Vermögen des Unternehmens, so kann der Berechtigte verlangen, dass ihm an diesen Gegenständen im Wege der Einzelrestitution in Höhe der ihm entzogenen Beteiligung Bruchteilseigentum eingeräumt wird; […]“

Ausweislich der schriftlichen Begründung des Gesetzesentwurfs wurde diese Änderung vorgenommen, um zu verhindern, dass zwischen 1933 und 1945 enteignete Unternehmen zurückgegeben werden, nachdem ihnen bereits alle Vermögensgegenstände entnommen worden sind (siehe BTDrucks 12/2480, S. 40).

22. Der Bundestag verabschiedete weitere Änderungen des Vermögensgesetzes, die am 24. Juli 1997 in Kraft traten.

In § 3 Abs. 1 Satz 4 wurde u. a. ein weiterer Halbsatz eingefügt, der soweit maßgeblich lautet:

„[…] dieser Anspruch besteht auch, wenn eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an einem Unternehmen Gegenstand der Schädigung nach § 1 Abs. 6 ist […]“

Gleichzeitig wurde ein neuer Satz 11 eingeführt, der die Anwendung von Satz 4 u. a. im Hinblick auf für den Wohnungsbau bestimmte Vermögenswerte, die bis zum 8. Mai 1945 von einem Siedlungsunternehmen zu einem marktüblichen Preis an natürliche Personen veräußert wurden, ausschloss.

3. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts

23. In einem Urteil vom 26. Juni 1997 (7 C 53/96) stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass § 3 Abs. 1 Satz 4 VermG bereits in der Fassung von 1992 einen unmittelbaren Anspruch für Anteilseigner von Unternehmen vorgesehen habe. Zwar sah es den Wortlaut der Bestimmung als unklar an, verwies jedoch auf den Zweck des Gesetzes, insbesondere solchen Personen, die aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung Vermögen verloren hätten, welches auf dem Gebiet der ehemaligen DDR belegen gewesen sei, die gleiche Entschädigung zukommen zu lassen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg Eigentümer nach den alliierten Rückerstattungsgesetzen erhalten hätten. Es vertrat den Standpunkt, dass eine umfassende Entschädigung für die sogenannte „Arisierung“ jüdischer Unternehmen nur durch die Einräumung unmittelbarer Restitutionsansprüche möglich sei.

24. Am 7. März 2007 stellte das Bundesverwaltungsgericht in einem anderen Urteil (8 C 26/05) fest, dass für nationalsozialistisch verfolgte Anteilseigner von Unternehmen bis 1997 keine durch Artikel 14 GG geschützten eigentumsrechtlichen Ansprüche bestanden hätten. Es befand, dass die unter dem NS-Regime typische Methode der Enteignung jüdischer Anteilseigner in der Gesetzesfassung von 1992 nicht erfasst worden sei. Aus dem Zweck der Neuregelung vom 24. Juli 1997 und dem unklaren Wortlaut der Vorschrift in der Fassung von 1992 schloss das Gericht, dass erst die neue Bestimmung den Anteilseignern solcher Unternehmen Restitutionsansprüche eingeräumt habe. Außerdem stellte es fest, dass es dem Gesetzgeber gelungen sei, sofern bereits 1992 gesetzliche Ansprüche bestanden haben sollten, die durch die Neuregelung wieder entzogen worden wären, einen gerechten Ausgleich der betroffenen Rechte herbeizuführen. Das Bundesverwaltungsgericht nahm nicht Bezug auf sein Urteil vom 26. Juni 1997 (siehe Rdnr. 23).

RÜGEN

25. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1, dass die 1997 vorgenommene Neufassung von § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG, so wie sie durch die innerstaatlichen Gerichte in den angegriffenen Entscheidungen ausgelegt worden sei, seiner Rechtsvorgängerin den Anspruch auf Rückübertragung von 226 Grundstücken und Entschädigung für 515 Grundstücke nehme, den sie ihm zufolge nach dem Vermögensgesetz in der Fassung von 1992 erworben habe. Er rügte ferner nach Artikel 14 i. V. m. Artikel 1 des Protokolls Nr. 1, dass er durch § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG einer Ungleichbehandlung ausgesetzt werde, da dieser nur Ansprüche von ehemaligen Anteilseignern von Gesellschaften ausschließe, nicht jedoch von ehemaligen Anteilseignern von Unternehmen, die Landerschließung als Nebengeschäft betrieben hätten. Schließlich rügte er nach Artikel 6 der Konvention, dass die Regierung unfair in laufende Verfahren eingreife, indem sie die einschlägigen Bestimmungen zugunsten der Staatskasse abändere.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Artikel 1 Protokoll Nr. 1

26. Der Beschwerdeführer brachte vor, die Neufassung des Vermögensgesetzes vom 24. Juli 1997 verletze sein Eigentumsrecht nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1; dieser lautet:

„Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.

Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Die Regierung

27. Die Regierung verwies auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und machte geltend, dass Deutschland nicht in die nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 geschützten Eigentumsrechte des Beschwerdeführers eingegriffen habe. Vollumfänglich gestützt auf die Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte verwies sie darauf, dass die C., die Erben von Herrn A. S. und der Beschwerdeführer nie den von dem Beschwerdeführer geltend gemachten Anspruch erworben hätten. Aus Sicht der Regierung hat für den Beschwerdeführer folglich nie eine berechtigte Erwartung auf Erlangung eines konventionsrechtlich geschützten Eigentumsrechts bestanden.

28. Unter weiterem Verweis auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in der vorliegenden Rechtssache (siehe Rdnr. 14) trug die Regierung vor, dass, falls die Regelung von 1992 der C. tatsächlich einen durchsetzbaren Anspruch gewährleistet haben sollte, es im Ermessen der gesetzgeberischen Organe Deutschlands gelegen habe, Grundstücke auszuschließen, die vordem im Bereich des Siedlungsbaus tätigen Unternehmen gehört hätten.

b) Der Beschwerdeführer

29. Der Beschwerdeführer trug vor, dass die C. zum Zeitpunkt der Neufassung des Vermögensgesetzes im Juli 1997 eine berechtigte Erwartung auf Rückübertragung und Entschädigung gehabt habe. Wortlaut und Zweck von § 3 Abs. 1 Satz 4 VermG seien bezüglich der Anspruchsvoraussetzungen früherer Anteilseigner von Unternehmen hinsichtlich eines direkten und unmittelbaren Durchgriffs auf ehemaliges Unternehmensvermögen im Verhältnis der ihnen vom nationalsozialistischen Regime entzogenen Anteile hinreichend klar gewesen. Er nahm auch Bezug auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1997 (siehe Rdnr. 23) und unterstrich, dass im Juli 1997, als ihm sein Anspruch genommen worden sei, keine andere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorgelegen habe. Er ist der Ansicht, dass für ihn zu diesem Zeitpunkt „berechtigte Erwartung“ bestanden hat; neue Rechtsprechung, die zehn Jahre später ergangen sei, sei retrospektiv und nicht von Belang. Wenn die Verwaltungsgerichte in vorliegender Rechtssache vor Juli 1997 entschieden hätten, wäre eine Entscheidung zu seinen Gunsten ergangen. Die 1997 erfolgte Neufassung von § 3 Abs. 1 Satz 4 VermG (siehe Rdnr. 22) sei lediglich als Klarstellung vorgesehen gewesen.

Überdies seien die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts von 2007 nicht plausibel und substantiiert begründet und daher als willkürlich anzusehen. Der Gerichtshof solle sie außer acht lassen.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

30. Der Gerichtshof verweist auf die Grundsätze, die er in seiner Rechtsprechung zu Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 festgelegt hat und die in seinem Urteil in der Rechtssache Kopecký ./. Slowakei ([GK], Individualbeschwerde Nr. 44912/98, Rdnr. 35, ECHR 2004‑IX) und in seiner Entscheidung in der Sache von M. u. a. ./. Deutschland ((Entsch.) [GK], Nrn. 71916/01, 71917/01 und 10260/02, Rdnr. 74, ECHR 2005‑V) ausgeführt werden. Die wesentlichen Passagen lauten:

„[…]

c) Ein Beschwerdeführer kann eine Verletzung von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nur insoweit geltend machen, als die angegriffenen Entscheidungen sein „Eigentum“ im Sinne dieser Bestimmung betreffen. „Eigentum“ kann sowohl „vorhandenes Eigentum“ als auch Vermögensgegenstände einschließlich Forderungen umfassen, hinsichtlich derer der Beschwerdeführer vorbringen kann, dass er zumindest eine „berechtigte Erwartung“ hat, in den effektiven Genuss eines Eigentumsrechts zu gelangen. Hingegen kann die Hoffnung, dass ein Eigentumsrecht zuerkannt wird, das nicht effektiv ausgeübt werden kann, nicht als „Eigentum“ im Sinne von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 betrachtet werden, gleiches gilt für einen bedingten Anspruch, der in Anbetracht der Nichtverwirklichung der Bedingung erlischt (siehe L. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 42527/98, Rdnrn. 82 und 83, ECHR 2001-VIII; und Gratzinger und Gratzingerova ./. die Tschechische Republik (Entsch.) [GK], Individualbeschwerde Nr. 39794/98, Rdnr. 69, ECHR 2002-VII).

d) Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass den Vertragsstaaten eine allgemeine Verpflichtung zur Rückübertragung von Vermögenswerten auferlegt wird, die an sie übergegangen sind, bevor sie die Konvention ratifiziert haben. Ebenso wenig beschränkt Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 die Freiheit der Vertragsstaaten bei der Festlegung des Umfangs der Restitution von Vermögenswerten oder der Bedingungen, unter denen sie zu einer Rückübertragung von Eigentumspositionen an frühere Eigentümer bereit sind (siehe Jantner ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 39050/97, Rdnr. 34, 4. März 2003).

Insbesondere haben die Vertragsstaaten einen weiten Ermessensspielraum im Hinblick darauf, bestimmte Kategorien von früheren Eigentümern von einem solchen Anspruch auszuschließen. Sind bestimmte Kategorien von Eigentümern in dieser Weise ausgeschlossen, können ihre Rückübertragungsansprüche nicht die Grundlage für eine „berechtigte Erwartung“ darstellen und so den Schutz nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 begründen (siehe u. a. Gratzinger und Gratzingerova, a. a. O., Rdnrn. 70-74).

Erlässt jedoch andererseits ein Vertragsstaat, der die Konvention einschließlich des Protokolls Nr. 1 ratifiziert hat, Rechtsvorschriften, die eine vollständige oder teilweise Rückübertragung der unter einem früheren Regime entzogenen Vermögenswerte vorsehen, kann davon ausgegangen werden, dass diese Vorschriften ein neues nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 geschütztes Eigentumsrecht bei anspruchsberechtigten Personen begründen. […]“

b) Anwendung der einschlägigen Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

31. Der Gerichtshof weist eingangs darauf hin, dass es in vorliegender Rechtssache nicht um „vorhandenes Eigentum“ des Beschwerdeführers geht. Herr A. S. ist nie persönlich Eigentümer der in Rede stehenden Grundstücke gewesen. Er war – mittelbar und unmittelbar – lediglich Anteilseigner der Gesellschaft, dem das Land gehörte. Seine Anteile wurden in den 1930er-Jahren Vertretern des nationalsozialistischen Regimes übertragen; die Gesellschaft verkaufte die Grundstücke anschließend an die Rechtsvorgänger der gegenwärtigen Eigentümer.

32. Der Gerichtshof merkt ferner an, dass zwischen den Parteien nicht strittig ist, dass der Wortlaut des im Juli 1997 eingeführten § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG (siehe Rdnr. 22) einen Anspruch des Beschwerdeführers nach § 3 Abs. 1 Satz 4 VermG ausschließt, und der Gerichtshof sieht sich nicht veranlasst, dies anders zu beurteilen. Der Gerichtshof beschränkt sich darauf zu prüfen, ob die Rechtsvorgängerin des Beschwerdeführers, die C., zu diesem Zeitpunkt die „berechtigte Erwartung“ hatte, einen durchsetzbaren Anspruch durch Rückübertragung von Vermögenswerten oder Entschädigung zu realisieren.

33. Der Gerichtshof wiederholt, dass in seiner Rechtsprechung bei der Entscheidung, ob eine durch Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 geschützte „berechtigte Erwartung“ besteht, das Vorliegen eines „echten Streits“ oder eines „vertretbaren Anspruchs“ nicht als Kriterium herangezogen wird. Wenn das vermögenswerte Interesse in Gestalt einer Forderung besteht, kann es nur als „Vermögensgegenstand“ angesehen werden, wenn es eine hinreichende Grundlage im innerstaatlichen Recht hat, also beispielsweise durch die gefestigte Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte bestätigt wird (Kopecký, a. a. O., Rdnr. 52). Von der Begründung einer „berechtigten Erwartung“ kann jedoch nicht ausgegangen werden, wenn die richtige Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts umstritten ist und die Anträge des Beschwerdeführers in der Folge von den innerstaatlichen Gerichten zurückgewiesen werden (Anheuser‑Busch Inc. ./. Portugal [GK], Individualbeschwerde Nr. 73049/01, Rdnr. 65, ECHR 2007‑I).

34. In der vorliegenden Rechtssache ist demnach entscheidend, ob die C. nach innerstaatlichem Recht zwischen 1992 und 1997 einen unstrittigen Anspruch erworben hatte. In diesem Zusammenhang verweist der Gerichtshof darauf, dass er nur begrenzt dafür zuständig ist zu überprüfen, ob innerstaatliches Recht richtig ausgelegt und angewendet wurde, und dass es nicht seine Aufgabe ist, an die Stelle der innerstaatlichen Gerichte zu treten, sondern vielmehr sicherzustellen, dass die Entscheidungen dieser Gerichte nicht willkürlich oder anderweitig offensichtlich unangemessen sind. Das gilt besonders, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Rechtsstreit schwierige Fragen der Auslegung innerstaatlichen Rechts aufwirft (vgl. Anheuser-Busch Inc. ./. Portugal, Rdnr. 83).

35. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 26. Juni 1997 (siehe Rdnr. 23) urteilte, dass der Wortlaut des maßgeblichen § 3 Abs. 1 Satz 4 in der Fassung von 1992 (siehe Rdnr. 21) auslegungsbedürftig sei. Es stellte fest, die Bestimmung sei auf Anteilseigner betroffener Unternehmen anwendbar, denn seiner Auffassung nach lege der Zweck der Regelung diese Interpretation nahe. In seinem Urteil vom 7. März 2007 (siehe Rdnr. 24) befand das Bundesverwaltungsgericht allerdings, dass § 3 Abs. 1 Satz 4 in der Fassung von 1992 Anteilseignern keinerlei Anspruch einräume, was auch der Grund für die 1997 vorgenommene Neufassung der Bestimmung gewesen sei. Diese Neuausrichtung in der Rechtsprechung behielt das Bundesverwaltungsgericht auch in seinem Urteil in der vorliegenden Rechtssache bei, das am 21. Juni 2007 erging (siehe Rdnr. 14).

36. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner in der vorliegenden Rechtssache gefällten Entscheidung vom 16. September 2009 (siehe Rdnr. 15) urteilte, dass die Frage, ob ein Anspruch bestanden habe, von den Fachgerichten zu beurteilen und verfassungsrechtlich lediglich dahingehend zu prüfen sei, ob deren Rechtsprechung Anhaltspunkte für Willkür erkennen lasse. Es befand, die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts könne weder als willkürlich noch als unvertretbar angesehen werden, auch wenn die Begründung eher knapp gehalten worden sei.

37. Der Beschwerdeführer trägt vor, dass die späteren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts keine Berücksichtigung finden dürfen, da sie nicht hinreichend begründet und somit im Gegensatz zu der Entscheidung vom 26. Juni 1997 willkürlich seien.

38. Der Gerichtshof verweist diesbezüglich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der angemerkt wird, dass das Bundesverwaltungsgericht die Änderung in der Rechtsprechung in seinem Urteil nur sehr knapp begründet habe (siehe Rdnr. 15). Der Gerichtshof vertritt jedoch die Auffassung, dass der vom Bundesverwaltungsgericht eingenommene rechtliche Standpunkt weder im Widerspruch zu dem klaren Wortlaut des Gesetzes steht noch als unbegründet bezeichnet werden kann (im Gegensatz dazu Kushoglu ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 48191/99, Rdnr. 55, 10. Mai 2007). Er beruht auf dem Umstand, dass der ursprüngliche Wortlaut des Gesetzes in der Fassung von 1992 unklar war und den Gesetzgeber zur Neufassung von 1997 veranlasste. Folglich kann er nach dem Konventionsrecht nicht als willkürlich angesehen werden.

39. Der Gerichtshof nimmt das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Kenntnis, wonach bei der Prüfung, ob konsistente Rechtsprechung vorliege, nur innerstaatliche Gerichtsentscheidungen berücksichtigt werden sollten, die vor dem 24. Juli 1997, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 3 Abs. 1 Satz 11 VermG, ergangen sind, und insbesondere keine zehn Jahre später ergangenen Urteile.

40. Der Gerichtshof stellt diesbezüglich fest, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1997 der Rechtsvorgängerin des Beschwerdeführers möglicherweise Hoffnung gemacht hat, dass aber nicht davon ausgegangen werden konnte, dass damit die Auslegungsfrage hinsichtlich des § 3 Abs. 3 VermG[1] abschließend beantwortet war. Bloße Hoffnung reicht zur Annahme „berechtigter Erwartungen“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht aus (siehe Rdnr. 30). Der Begriff „berechtigt“ verweist vielmehr darauf, dass der Anspruch eine gefestigte Grundlage im innerstaatlichen Recht haben muss. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers muss der Gerichtshof seine diesbezügliche Prüfung auf der Grundlage der Auslegung der maßgeblichen innerstaatlichen Bestimmungen durch die innerstaatlichen Gerichte in ihrer Gesamtheit vornehmen, auch wenn die Gerichte erst nach der Neufassung eines Gesetzes mit der Auslegung des ursprünglichen Wortlauts befasst wurden.

41. Der Gerichtshof ist folglich nicht davon überzeugt, dass der Wortlaut der maßgeblichen gesetzlichen Vorschrift hinreichend klar war, um davon auszugehen, dass der behauptete Anspruch der C. nach innerstaatlichem Recht bestand. Das höchste mit der Sache befasste innerstaatliche Gericht, das Bundesverwaltungsgericht, hat in der entscheidenden Rechtsfrage widersprüchliche Urteile gefällt und abschließend erkannt, dass das Vermögensgesetz in der Fassung von 1992 dem Beschwerdeführer als Anteilseigner eines Unternehmens keinen Entschädigungsanspruch zugestanden habe. Der Anspruch des Beschwerdeführers war folglich möglicherweise vertretbar, jedoch nicht in konsistenter Rechtsprechung bestätigt.

42. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer nicht dargetan hat, dass sein Anspruch hinreichend gefestigt war, um durchsetzbar zu sein. Er kann somit kein „Eigentum” im Sinne von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 geltend machen. Folglich wurde weder durch die Einführung von § 3 Abs. 1 Satz 11 noch durch die angegriffenen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in sein Recht auf Achtung seines Eigentums eingegriffen und der Sachverhalt fällt nicht unter Artikel 1 des Protokolls Nr. 1.

43. Daraus folgt, dass die Beschwerde nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen ist.

B. Artikel 14 der Konvention in Verbindung mit Artikel 1 Protokoll Nr. 1

44. Der Beschwerdeführer behauptete darüber hinaus, unter Verletzung von Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 diskriminiert zu werden, weil er im Gegensatz zu anderen Kategorien von Personen kein Recht auf Restitution unrechtmäßig enteigneter Vermögenswerte geltend machen könne.

Artikel 14 der Konvention lautet:

„Der Genuss der in [der] Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“

45. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt Artikel 14 der Konvention eine Ergänzung zu den übrigen materiellen Bestimmungen der Konvention und der Protokolle dar. Er existiert nicht für sich allein, da er nur in Bezug auf den „Genuss der Rechte und Freiheiten“, die durch diese Bestimmungen geschützt sind, Wirkung entfaltet. Obgleich die Anwendung von Artikel 14 eine Verletzung dieser Bestimmungen nicht voraussetzt und er insoweit autonom ist, kann es Raum für seine Anwendung nur geben, wenn der in Frage stehende Sachverhalt unter eine oder mehrere dieser Bestimmungen fällt (siehe L., a. a. O., Rdnr. 91; und von M. u. a., a. a. O., Rdnr. 116).

46. Angesichts der Feststellung, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht anwendbar ist, kann nach Auffassung des Gerichtshofs Artikel 14 der Konvention bei der vorliegenden Rechtssache nicht berücksichtigt werden.

47. Daraus folgt, dass die Rügen nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 i.V.m. Artikel 14 ebenfalls im Sinne des Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen sind.

C. Artikel 6 der Konvention

48. Der Beschwerdeführer rügte überdies, dass die Regierung in unfairer Weise Einfluss auf das laufende verwaltungsgerichtliche Verfahren genommen habe, indem sie die maßgeblichen Rechtsvorschriften geändert und somit den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt habe, welcher lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche […] von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. […]“

49. Der Beschwerdeführer verwies auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs u. a. in den Rechtssachen Griechische Raffinerien Stran und Stratis Andreadis ./. Griechenland (9. Dezember 1994, Rdnr. 47, Serie A Band 301‑B) und Papageorgiou ./. Griechenland (22. Oktober 1997, Rdnr. 37, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997‑VI) und machte geltend, er[2] habe diese Rüge der Sache nach vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben.

50. Die Regierung beanstandete, der Beschwerdeführer habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft, und bestritt, dass seine Verfassungsbeschwerde diese konkrete Rüge umfasst habe.

51. Der Gerichtshof stellt fest, dass weder in der Sachverhaltsdarstellung noch in der rechtlichen Argumentation der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers Erwähnung findet, dass der Beschwerdeführer einen unfairen Eingriff in sein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Potsdam durch die deutsche Regierung oder den Gesetzgeber geltend gemacht hat. Der Verfassungsbeschwerde lag ausschließlich die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung seiner Rechte aus den Artikeln 3 und 14 GG zugrunde. Folglich hatte das Bundesverfassungsgericht nicht die Möglichkeit, in dieser Angelegenheit zu entscheiden.

52. Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich der Rüge nach Artikel 6 den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft hat, wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich. Dieser Teil der Individualbeschwerde ist daher gleichfalls nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 21. April 2016.

Claudia Westerdiek                           Ganna Yudkivska
Kanzlerin                                              Präsidentin

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[1] So im englischsprachigen Original. Gemeint ist wohl § 3 Abs. 1 VermG.

[2] im Original „it“

Zuletzt aktualisiert am Dezember 10, 2020 von eurogesetze

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