Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 6099/15
K. ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 19. April 2016 als Ausschuss mit den Richtern
Erik Møse, Präsident,
Yonko Grozev,
Mārtiņš Mits,
und Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 29. Januar 2015 erhoben wurde,
im Hinblick auf die am 18. Januar 2016 von der Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde in seinem Register zu streichen, und die Erwiderung des Beschwerdeführers auf diese Erklärung,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
Der 19.. geborene Beschwerdeführer, K., ist deutscher Staatsangehöriger und in T. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn G., Rechtsanwalt in S., vertreten.
Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch eine ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
Die Beschwerde wurde der Regierung übermittelt.
A. Die Umstände der Rechtssache
Der von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Am 21. August 2005 wurde der Beschwerdeführer auf dem Fahrrad von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Am 15. Dezember 2005 reichte er beim Landgericht Lübeck Klage ein, um die Haftung des Pkw-Fahrers und seiner Versicherung feststellen zu lassen. Am 24. April 2013 erließ das Landgericht ein Teilurteil, in dem die Haftung der Rechtsnachfolger des Fahrers und seiner Versicherung in vollem Umfang festgestellt wurde; ferner wurde festgestellt, dass ein Teil der Forderungen zu zahlen sei, einschließlich eines Schmerzensgeldes in Höhe von 40.000 Euro.
Unter Inanspruchnahme des Rechtsbehelfs nach § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“) machte der Beschwerdeführer vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht eine ungerechtfertigte Verzögerung von vier Jahren geltend und forderte eine Entschädigung in Höhe von 9.600 Euro.
Am 8. April 2013 stellte das Oberlandesgericht fest, dass das Verfahren unangemessen lang andauere, und bezog sich dabei auf den Zeitraum vom 16. November 2010 bis zum 21. August 2012; den Entschädigungsanspruch des Beschwerdeführers wie es jedoch als unbegründet zurück.
Am 11. Juli 2014 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Beschwerde des Beschwerdeführers bezüglich des Urteils des Oberlandesgerichts und der Verfahrensdauer vor dem Landgericht zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1346/13).
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Das einschlägige innerstaatliche Recht ist im Urteil in der Rechtssache K. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 62198/11, Rdnr. 86, 15. Januar 2015), und in der Entscheidung in der Rechtssache G. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19488/09, Rdnrn. §§ 26 bis 35, 29. Mai 2012) zusammengefasst.
RÜGE
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 der Konvention, dass das landgerichtliche Verfahren vor Erlass des Teilurteils vom 24. April 2013 unangemessen lang gewesen sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Der Beschwerdeführer rügte die Dauer des in Rede stehenden Zivilverfahrens. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem […] Gericht […] innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“
Nachdem Versuche, eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 18. Januar 2016 von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner beantragte sie beim Gerichtshof, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
Die Erklärung lautete wie folgt:
„1. Die Bundesregierung teilt gegenüber dem Gerichtshof mit, dass ein Vergleich mit dem Beschwerdeführer nicht erzielt werden konnte.
2. Die Bundesregierung erkennt daher nunmehr – durch eine einseitige Erklärung – an, dass die Dauer des Zivilverfahrens vor dem Landgericht Lübeck für die Zeit bis zum Erlass des Teilurteils vom 24. April 2013 das Recht des Beschwerdeführers aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention auf Entscheidung binnen angemessener Frist verletzt hat.
3. Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof eine Entschädigungsforderung in Höhe von 6.500 € anzuerkennen und ihn darüber hinaus von der Kostenforderung in Höhe von 881,79 € aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 25. Mai 2013 (18 SchH 3/13) freizustellen.
4. Mit dieser Zusage im Wert von 7.381,79 € würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und ‑das Land Schleswig-Holstein, ‑insbesondere die Entschädigung des Beschwerdeführers, Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten.“
Mit Schreiben vom 17. Februar 2016 erklärte der Beschwerdeführer, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei, weil die Regierung keine angemessene Entschädigung vorschlage.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“
Er weist auch darauf hin, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.
Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung sorgfältig im Lichte der Kriterien, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben (Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75 bis 77, EGMR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Sulwińska ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 28953/03).
Der Gerichtshof stellt fest, dass der vorliegende Fall die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer vor dem Landgericht Lübeck im Sinne von Artikel 6 der Konvention aufwirft.
Er erinnert daran, dass er, auch in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland, bereits in einer Vielzahl von Urteilen und Entscheidungen die Art und den Umfang der Verpflichtungen bestimmt hat, die sich für den beschwerdegegnerischen Staat hinsichtlich der Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ innerhalb „angemessener Frist“ ergeben (siehe u.v.a. S. ./: Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 75529/01, ECHR 2006-…; N. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 27250/02, 29. Juni 2006). Der Gerichtshof hat sich auch mit Individualbeschwerden befasst, die den neuen Rechtsbehelf betrafen (siehe K. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnrn. 139f., 15. Januar 2015; P. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 68919/10, Rdnrn. 54f., 4. September 2014).
Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses stellt der Gerichtshof fest, dass die Regierung eingeräumt hat, dass der Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 6 der Konvention verletzt wurde, weil die Verfahrensdauer in der vorliegenden Rechtssache dem Erfordernis der angemessenen Frist nicht entsprach. Darüber hinaus hat die Regierung vorgeschlagen, dem Beschwerdeführer durch die Zahlung einer immateriellen Entschädigung sowie der Kosten und Auslagen Wiedergutmachung zu leisten. Die Höhe der Entschädigung entspricht den in ähnlichen Fällen zugesprochenen Beträgen und ist somit angemessen.
Dementsprechend ist der Gerichtshof der Ansicht, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde nicht länger gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c).
Darüber hinaus ist der Gerichtshof im Lichte vorstehender Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen und umfangreichen Rechtsprechung zu diesem Thema gewiss, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).
Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten, die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig,
die Beschwerde in seinem Register zu streichen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 12. Mai 2016
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 10, 2020 von eurogesetze
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