RECHTSSACHE BUCHLEITHER ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 20106/13

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE B. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 20106/13)
URTEIL
STRASSBURG
28. April 2016

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache B. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Yonko Grozev
und Carlo Ranzoni,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 15. März 2016

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 20106/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, B. („der Beschwerdeführer“), am 11. März 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H. J. Behrens, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die unbefristete Aussetzung des Umgangs zwischen ihm und seiner Tochter sein Recht auf Achtung seines Familienlebens nach Artikel 8 der Konvention verletzt habe.

4. Am 27. Mai 2014 wurde die Rüge bezüglich der Umgangsaussetzung der Regierung übermittelt und die Beschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS

A. Der Hintergrund der Rechtssache

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in R.

6. Er hat eine Tochter, H., die 2003 geboren wurde. Er und die Mutter des Kindes, die nicht miteinander verheiratet waren, trennten sich kurz nach der Geburt. Das Kind lebt bei seiner Mutter, die das alleinige Sorgerecht hat.

7. Seit Ende 2003 streiten sich die Eltern über den Umgang. Im April 2004 beantragte der Beschwerdeführer beim Familiengericht Neustadt/Weinstraße erstmals eine Regelung des Umgangs. Bei einer Anhörung im Juni 2004 vereinbarten die Eltern betreute Umgangskontakte des Beschwerdeführers; diese fanden dann bis Oktober 2004 statt. Am 8. Dezember 2004 trafen die Eltern eine weitere, familiengerichtlich genehmigte Vereinbarung über betreute Umgangskontakte.

8. Am 21. Februar 2005 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, den betreuenden Kinderschutzbund[1], der aufgrund des Verhaltens beider Parteien eine weitere Mitwirkung abgelehnt hatte, durch einen anderen Kinderschutzbund zu ersetzen. Am 11. Juli 2005 gab das Familiengericht diesem Antrag statt. Mit Schreiben vom 21. Oktober 2005 lehnte es der beauftragte Kinderschutzbund wegen des Verhaltens der Mutter ab, entsprechend den Anweisungen des Familiengerichts tätig zu werden.

9. Um sein Umgangsrecht durchzusetzen, stellte der Beschwerdeführer am 28. Oktober 2005 beim Familiengericht den Antrag, gegen die Mutter ein Zwangsgeld festzusetzen. Am 17. Mai 2006 schlossen die Eltern eine gerichtlich genehmigte Umgangsvereinbarung. Am 18. September 2006 benannte das Familiengericht auf Antrag des Beschwerdeführers einen Umgangspfleger an. Die Anordnung war bis zum 31. Dezember 2006 befristet. Danach wurde die Umgangsvereinbarung mehr oder weniger regelmäßig umgesetzt.

10. Am 8. Mai 2007 stellte der Beschwerdeführer beim Gericht einen Antrag auf Ausweitung des Umgangs, erneute Bestellung eines Verfahrenspflegers und Festsetzung eines Zwangsgelds gegen die Mutter. Im Gegenzug beantragte die Mutter die Aussetzung des Umgangs für die Dauer von zwei Jahren. Am 22. Dezember 2008 setzte das Familiengericht, das erneut einen Sachverständigen angehört hatte, den Umgang bis zum 31. Dezember 2009 aus. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (Az. 2084/09) war erfolglos.

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Das Verfahren über vorläufige Maßnahmen

11. Nach Ablauf der Aussetzungsfrist beantragte der Beschwerdeführer am 22. Januar 2010 eine Ausweitung des Umgangs. Nachdem es das Kind persönlich angehört hatte, gewährte das Familiengericht dem Beschwerdeführer am 12. April 2010 ein Recht auf Umgang alle zwei Wochen. Gleichzeitig erteilte es hinsichtlich des Umgangs klare Anweisungen und legte fest, welche Sanktionen zur Anwendung kämen, sollten die Eltern dem Beschluss nicht nachkommen. Der Umgang fand nicht statt.

12. Am 2. September 2010 setzte das Familiengericht auf Antrag der Mutter und nach erneuter Anhörung des Kindes den Umgang des Beschwerdeführers bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens aus und wies seine Anträge auf Festsetzung eines Zwangsgelds zurück.

2. Hauptsacheverfahren

13. Am 15. April 2011 hörte das Familiengericht beide Eltern, das Kind und die Verfahrensbeiständin des Kindes an. Unter Berufung auf das sowohl schriftlich vorgelegte als auch mündlich erläuterte Gutachten des Psychiaters Dr. B. räumte es dem Beschwerdeführer alle zwei Wochen zwei Stunden Umgang ein. Es bestellte einen Umgangspfleger und gab diesem dezidierte Anweisungen zur Vorbereitung des Kindes auf den Umgang und die Modalitäten der Treffen.

14. Gegen diesen Beschluss legte die Mutter sofortige Beschwerde ein. Der Beschwerdeführer hielt seinen Antrag auf Umgang aufrecht und stellte darüber hinaus beim Oberlandesgericht Zweibrücken den Antrag, die Mutter anzuweisen, ihm regelmäßige Auskünfte über die Entwicklung des Kindes zu erteilen.

15. Das Oberlandesgericht holte eine weitere schriftliche Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. ein, der im Hinblick auf die Entwicklung nun der Auffassung war, dass die Aussetzung des Umgangsrechts des Beschwerdeführers derzeit der weniger schädliche Weg sei und somit dem Kindeswohl entspreche. Der Umgang mit dem Beschwerdeführer sei als solcher nicht schädlich, jedoch lasse die Konfliktkonstellation eine andere Lösung derzeit nicht zu. Hinsichtlich des Konflikts zwischen den Eltern wies der Sachverständige darauf hin, dass der Beschwerdeführer einer Mediation zugestimmt habe, die Mutter ein solches Verfahren jedoch ablehne. Der Sachverständige führte aus, dass der Beschwerdeführer derzeit keine Möglichkeit habe, positiv und aktiv auf einen Umgang hinzuwirken. In ihrer schriftlichen Stellungnahme an das Oberlandesgericht vertrat die Verfahrensbeiständin des Kindes die Auffassung, dass zur Vermeidung negativer Spätfolgen für das Kind auf jeden Fall ein Mindestkontakt mit dem Beschwerdeführer bestehen bleiben solle; daher solle ihm erlaubt werden, dem Kind Briefe und Geschenke zu schicken.

16. Am 19. Oktober 2012 hörte das Oberlandesgericht die Eltern, den Umgangspfleger des Kindes, das Kind und Dr. B. an, wies den Antrag des Beschwerdeführers ab und setzte sein Recht auf Umgang mit seiner Tochter gemäß §§ 1696 und 1684 Abs. 4 BGB auf unbestimmte Zeit ganz aus (siehe Rdnrn. 23 und 24).

17. Das Oberlandesgericht stellte eingangs fest, dass die gerichtlich genehmigte Umgangsvereinbarung vom 17. Mai 2006 immer noch gültig sei. Es war jedoch der Auffassung, das Umgangsrecht müsse auf Dauer ausgesetzt werden, da die Anordnung von Umgangskontakten das Wohl des Kindes beeinträchtigen würde. Das Gericht stellte fest, dass das Kind seit vier Jahren keinen Umgang mit seinem Vater mehr gehabt habe und dieser ihr fremd geworden sei. Dies sei insbesondere auch von dem vom gerichtlich bestellten Sachverständigen bestätigt worden. Bei seiner gerichtlichen Anhörung habe das Kind klar geäußert, dass es seinen Vater nicht sehen wolle. Es habe nur eingeschränkte, schlechte Erinnerungen an ihn. Das Kind, das sich anscheinend altersgemäß entwickelt habe, habe den Eindruck erweckt, dass es wisse, worum es gehe und was es wolle. Trotz seines jungen Alters habe es klar und deutlich vermittelt, dass es möchte, dass man seinen Willen respektiert und es nicht zu etwas zwingt, was es nicht will. Der Umgangspfleger brachte vor, es sei ihm nicht gelungen, die Abneigung des Kindes gegen seinen Vater zu durchbrechen. Das Kind habe weinend das Zimmer verlassen, als er begonnen habe, von dem Vater zu reden.

18. Das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass die Haltung des Kindes zu seinem Vater durch die Loyalität zur Mutter beeinflusst worden sei, die immer negativ über den Vater gesprochen habe. Das Kind fühle sich verpflichtet, ebenso wie die Mutter zu empfinden. Sie sehne sich danach, dass die Auseinandersetzungen der Eltern endeten, damit sie keinen Loyalitätskonflikten mehr ausgesetzt sei. Die Ablehnung des Vaters sehe sie als einzige Lösung, um wenigstens die Liebe der Mutter zu behalten. Unter Bezugnahme auf die Feststellungen des Sachverständigen stellte das Oberlandesgericht fest, dass das Kind reif genug sei, eine bewusste Entscheidung zu treffen und deren Konsequenzen zu ermessen. Es befinde sich in einem psychischen Dilemma, das durch die gestörte Kommunikation zwischen den Eltern verursacht worden sei, ohne dass sich daraus schon eine traumatische Belastungsstörung entwickelt habe. Einerseits führe der Verlust des Umgangs mit einem Elternteil im Allgemeinen zu Störungen der seelischen Entwicklung, die das Kindeswohl gefährdeten. Andererseits gefährdeten auch erzwungene Umgangskontakte im Kontext ständiger Differenzen der Eltern das Kindeswohl erheblich.

19. Das Oberlandesgericht wies darauf hin, dass der Sachverständige in seinem dem Familiengericht vorgelegten Gutachten dargelegt habe, dass der Umgang mit dem Vater als solcher das Kindeswohl nicht gefährde. Er habe allerdings vor der Anbahnung erneuter Umgangskontakte eine Vorbereitung der Eltern zur Verbesserung ihrer Kommunikation für erforderlich gehalten. Der familiengerichtliche Beschluss habe diese „Bedingung“ nicht berücksichtigt. Die Eltern hätten in dieser Hinsicht nichts unternommen. Bei seiner Anhörung durch das Oberlandesgericht am 6. September 2012 habe der Sachverständige klargestellt, dass ohne eine Änderung des Kommunikationsverhaltens der Eltern – die allerdings eine fachliche Hilfe, wie etwa eine Mediation, erfordere – die Herbeiführung erneuter Umgangskontakte größeren Schaden anrichten würde als der komplette Ausschluss des Umgangs.

20. Das Oberlandesgericht führte weiter aus:

„Vor dem Hintergrund des bisher gezeigten außerprozessualen und prozessualen Verhaltens beider Eltern hält es der Senat [des Oberlandesgerichts] für ausgeschlossen, dass die Eltern in absehbarer Zeit in der Lage sein werden, sich freiwillig einer Mediation zu unterziehen und diese erfolgreich abzuschließen. Dies hat aber zwingend zur Folge, dass ein Umgang [H.s] mit dem Vater derzeit nicht durchgeführt werden kann, sondern das Umgangsrecht des Vaters auszu­schließen ist. Denn das Dilemma des Kindes […] ist weder durch die Ausgestaltung des Um­gangs noch durch die Anordnung einer Umgangspflegschaft zu lösen.

Vielmehr ist die Mutter gefordert, ihre Abneigung gegen den Vater zu überwinden, der Vater wird lernen müssen, dass eine Annäherung […] – wenn überhaupt – nur mit Geduld, Zurückhal­tung und Rücksicht auf das Befinden des Kindes und der Mutter zu erreichen sein wird. Nicht ausgeschlossen ist auch, dass [das Kind] mit zunehmendem Alter und geistiger Reife in der Lage sein wird, sich aus eigener Kraft aus dem Konfliktfeld der Eltern zu lösen und aus eigenem An­trieb auf den Vater zuzugehen und den Kontakt mit ihm zu suchen. Dem allem steht die vorlie­gende Entscheidung nicht entgegen.“

21. Mit Urteil vom 6. Februar 2014 (1BvR 4/13) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die von dem Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen im Hauptsacheverfahren eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen.

22. Nachdem der Beschwerdeführer seine Beschwerde beim Gerichtshof eingereicht hatte und die Beschwerde der Regierung übermittelt worden war, wurde die Akte an das Justizministerium übersandt und ging dann an das Familiengericht zurück. Am 18. Juli 2014, nach Rückerhalt vom Ministerium, wurde die Akte einem Richter vorgelegt. Dieser entschied: „1. Gesehen. Nichts zu veranlassen. 2. Weglegen”.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

A. Bürgerliches Gesetzbuch

23. Nach § 1684 Abs. 1 hat ein Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil; jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Nach § 1684 Abs. 4 kann das Familiengericht das Umgangsrecht einschränken oder ausschließen, soweit dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Eine Entscheidung, die das Umgangsrecht oder seinen Vollzug für längere Zeit oder auf Dauer einschränkt oder ausschließt, kann nur ergehen, wenn andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre.

24. § 1696 Abs. 2 sieht vor, dass eine Maßnahme, die nur ergriffen werden darf, wenn dies zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung oder zum Wohl des Kindes erforderlich ist (kindesschutzrechtliche Maßnahme), aufzuheben ist, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht oder die Erforderlichkeit der Maßnahme entfallen ist.

B. Das Gesetz über die Verfahren in Familiensachen und in den Angelegen­heiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit

25. § 24 Abs. 1 des Gesetzes über die Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (im Folgenden: FamFG) lautet: „Soweit Verfahren von Amts wegen eingeleitet werden können, kann die Einleitung eines Verfahrens angeregt werden.“ § 24 Abs. 2 besagt, dass das Gericht, wenn es dieser Anregung nicht folgt, denjenigen, der die Einleitung angeregt hat, darüber zu unterrichten hat.

26. § 26 sieht vor, dass das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen hat.

27. Nach § 166 Abs. 2 FamFG hat das Gericht länger dauernde Maßnahmen, die zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung ergriffen worden sind (kindesschutzrechtliche Maßnahmen), wie beispielsweise Maßnahmen nach § 1684 Abs. 4 BGB, in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

28. Der Beschwerdeführer rügte, dass die zeitlich unbefristete Aussetzung des Umgangsrechts sein Recht auf Achtung seines Familienlebens und sein Recht auf ein faires Verfahren nach den Artikel 6 und 8 der Konvention verletzt habe.

29. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

30. In Anbetracht der sich aus Artikel 8 ergebenden Verfahrenserfordernisse hält es der Gerichtshof für angemessen, die vorgebrachte Rüge nur nach dieser Bestimmung zu prüfen, die, soweit einschlägig, wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, […].

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetz­lich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zum Schutz der Ge­sundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

A. Zulässigkeit

31. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

32. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass der Ausschluss des Umgangs nicht gerechtfertigt sei, da das Wohl des Kindes nicht gefährdet werde. Er wies darauf hin, dass das Oberlandesgericht seine Auffassung, die Durchführung des Umgangs gefährde das Kindeswohl, auf die Empfehlungen des Sachverständigen in der zweiten Instanz gestützt habe, die sich ohne jede Grundlage gegenüber der ersten Instanz geändert hätten.

33. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die Entscheidung des Gerichts, den Umgang auszusetzen, nicht gerechtfertigt gewesen sei, weil sein Umgangsrecht ohne Vornahme einer Prüfung und ohne die Möglichkeit einer erneuten Prüfung nach einem Jahr ohne zeitliche Befristung dauerhaft ausgeschlossen worden sei. Unter Berufung auf die Rechtssachen H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 9732/10, 17. Mai 2011, und N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46159/99, 19. Juni 2003, brachte er weiter vor, dass der unbefristete Umgangsausschluss unverhältnismäßig sei, da das Oberlandesgericht keine jährliche Überprüfung des Umgangsausschlusses angeordnet und auch nicht festgestellt habe, dass eine solche Überprüfung an sich dem Kindeswohl schaden würde. Nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts sei eine Überprüfungsmöglichkeit dauerhaft nicht mehr vorhanden, was bedeute, dass der Beschwerdeführer nicht nach einem Jahr eine Überprüfung beantragen könne. Er betonte, dass Entscheidungen, mit denen das Umgangsrecht ausgesetzt werde, zeitlich befristet sein müssten, damit der betroffene Elternteil erkennen könne, wann er eine erneute Prüfung des Umgangsrechts begehren könne.

34. Nach Auffassung des Beschwerdeführers weist die Entscheidung des Oberlandesgerichts zahlreiche Verfahrensfehler auf. Es sei nicht geprüft worden, ob der Blockadehaltung der Mutter mit sorgerechtlichen oder anderen Sanktionen begegnet werden und eine Kindeswohlgefährdung bei Durchführung des Umgangs somit verhindert werden könne. Das Oberlandesgericht habe es zudem versäumt, sich mit der Anordnung einer Umgangspflegschaft gebührend auseinanderzusetzen und zu prüfen, ob eine Therapie des Kindes unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten angemessen sei, und sei somit auf die Bewertungen und Empfehlungen des Sachverständigen nicht eingegangen.

b) Die Regierung

35. Die Regierung wies darauf hin, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 19. Oktober 2012 auf einem gründlich ermittelten Sachverhalt beruht habe, da das Gericht den Sachverständigen aufgefordert habe, sein Gutachten schriftlich und mündlich zu ergänzen, und die Parteien, das Kind und den Verfahrensbeistand angehört habe. Die Entscheidung sei auch eingehend begründet worden, insbesondere im Hinblick auf das konfliktbehaftete Verhältnis der Eltern, und habe den Willen des Kindes, wie er in der persönlichen Anhörung zum Ausdruck gekommen sei, in den Vordergrund gestellt.

36. Die Regierung war der Auffassung, dass das Oberlandesgericht nicht verpflichtet gewesen sei, die Aussetzung des Umgangsrechts des Beschwerdeführers zeitlich zu befristen. Sie betonte, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs unter solchen Umständen eine Befristung nicht zwingend verlange. Vielmehr verlange sie eine Überprüfung derartiger Entscheidungen in regelmäßigen Abständen von längstens einem Jahr, soweit nicht die Überprüfung an sich das Kindeswohl ernsthaft gefährden würde.

37. Darüber hinaus widersprach die Regierung der Auffassung, die Entscheidung des Oberlandesgerichts habe dem Beschwerdeführer das Umgangsrecht dauerhaft versagt, und führte zur Begründung sowohl die gesetzlichen Regelungen als auch die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe an. Der Umgangsausschluss stelle eine kindesschutzrechtliche Maßnahme dar. Nach § 1696 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 166 Abs. 2 FamFG müsse das Familiengericht eine Aufhebung immer dann in Betracht ziehen, wenn die Maßnahme nicht mehr erforderlich sei oder keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes bestehe. Darüber hinaus stehe es nach innerstaatlichem Recht dem Beschwerdeführer jederzeit offen, dem Gericht einen Antrag auf Neuregelung des Umgangs zu übermitteln. Neben den rechtlichen Bestimmungen komme auch aus der Begründung des Oberlandesgerichts hinreichend klar zum Ausdruck, dass der Umgang nicht dauerhaft ausgeschlossen sei, da es darin ausdrücklich heiße, dass Umgangskontakte „derzeit“ nicht möglich seien. Die Entscheidung bedeutete daher, dass die Frage, ob irgendwann wieder Umgangskontakte vereinbart würden, nicht endgültig beantwortet sei, zumal das Oberlandesgericht betont habe, dass die aktuelle Entscheidung nicht ausschließe, dass auf Betreiben des Kindes selbst zu einem späteren Zeitpunkt ein Umgang stattfinden könne.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

38. Es ist zwischen den Parteien unstrittig, dass die innerstaatliche Gerichtsentscheidung, mit der dem Beschwerdeführer der Umgang mit seinem Kind verweigert wurde, einen Eingriff in sein nach Artikel 8 Abs. 1 geschütztes Recht auf Achtung seines Familienlebens darstellte. Der Gerichtshof schließt sich dieser Auffassung an.

39. Ein solcher Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden.

40. Es war auch unstrittig, dass die in Rede stehenden Entscheidungen auf einer Bestimmung des innerstaatlichen Rechts basierten, nämlich auf § 1684 Abs. 4 BGB (siehe Rdnr. 23).

41. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 19. Oktober 2012 (siehe Rdnrn. 15-20) betonte, dass die Aussetzung des Umgangs ausschließlich im Hinblick auf das Kindeswohl erfolge. Nach Auffassung des Gerichtshofs war die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das Umgangsrecht des Beschwerdeführers auszusetzen, auf den Schutz „der Gesundheit oder der Mo­ral” und „der Rechte und Freiheiten” der Tochter des Beschwerdeführers gerichtet. Sie verfolgte also ein legitimes Ziel im Sinne von Artikel 8 Abs. 2. Daher ist noch darüber zu entscheiden, ob die unbefristete Aussetzung des Umgangs „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

a) Allgemeine Grundsätze

42. Der Gerichtshof hat zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung dieser Maßnahme angeführten Gründe in Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren. Von entscheidender Bedeutung ist bei jeder Rechtssache dieser Art zweifellos die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Parteien haben. Daraus folgt, dass die Aufgabe des Gerichtshofs nicht darin besteht, anstelle der nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorge- und Umgangsrechts wahrzunehmen, sondern im Lichte der Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben (siehe u.a. S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 86, 10. November 2005; Hokkanen . / . Finnland, 23. September 1994, Serie A Band 299-A, S. 20, Rdnr. 55; und S. . / . Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 62, ECHR 2003-VIII).

43. Weiterhin muss ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen des Elternteils herbeigeführt werden, und dabei ist dem Wohl des Kindes besonderes Gewicht beizumessen. Der Elternteil kann nach Artikel 8 nicht beanspruchen, dass Maßnahmen getroffen werden, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden (vgl. E. ./. Deutschland [GK] Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnr. 50, ECHR 2000-VII, sowie H., a.a.O.).

44. Welcher Beurteilungsspielraum den zuständigen innerstaatlichen Behörden dabei einzuräumen ist, hängt von der Art der streitigen Fragen und der Bedeutung der betroffenen Interessen ab. Es ist zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Aufgabe des Gerichtshofs nicht darin besteht, an Stelle der nationalen Behörden deren Beurteilungsspielraum wahrzunehmen (siehe G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 25706/03, Rdnr. 102, 10. Januar 2008). So hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Behörden insbesondere bei Sorgerechtsentscheidungen einen großen Beurteilungsspielraum haben. Einer genaueren Kontrolle bedarf es jedoch bei weitergehenden Beschränkungen, wie beispielsweise bei Einschränkungen des Umgangsrechts der Eltern durch diese Behörden, sowie bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die einen wirksamen Schutz des Rechts von Eltern und Kindern auf Achtung ihres Familienlebens gewährleisten sollen. Solche weitergehenden Beschränkungen bergen die Gefahr, dass die Familienbeziehungen zwischen einem kleinen Kind und den Eltern endgültig abgeschnitten werden (siehe S., a.a.O., Rdnr. 63; und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 74969/01, Rdnr. 42, 26. Februar 2004).

45. Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass Artikel 8 der Konvention zwar keine ausdrücklichen Verfahrenserfordernisse enthält, der mit Eingriffsmaßnahmen verbundene Entscheidungsprozess aber fair und so gestaltet sein muss, dass die gebührende Achtung der durch diesen Artikel geschützten Interessen sichergestellt ist. Der Gerichtshof kann nicht ausreichend beurteilen, ob die von den innerstaatlichen Gerichten zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen angeführten Gründe im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 „hinreichend“ waren, ohne gleichzeitig festzustellen, ob der Elternteil in den Entscheidungsprozess als Ganzes so weit eingebunden war, dass der erforderliche Schutz seiner Interessen gewährleistet war (siehe u.a. T.P. und K.M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28945/95, Rdnr. 72, ECHR 2001-V; und S., a. a. O., Rdnr. 89).

b) Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

46. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass das Familiengericht dem Beschwerdeführer am 15. April 2011 alle zwei Wochen zwei Stunden Umgang einräumte und dieser Beschluss am 19. Oktober 2012 durch das Oberlandesgericht Zweibrücken aufgehoben wurde. Angesichts des eindeutigen, in seiner Anhörung vor dem Oberlandesgericht bekundeten Willens des neunjährigen Kindes, seinen Vater nicht sehen zu wollen, setzte dieses Gericht das Umgangsrecht des Beschwerdeführers aus. Das Oberlandesgericht stützte sich außerdem auf die Stellungnahme des Sachverständigen, der der Auffassung war, dass eine Aussetzung des Umgangsrechts derzeit der weniger schädliche Weg sei, und dargelegt hatte, dass H.s Haltung durch die Loyalität, die sie ihrer Mutter gegenüber fühle, beeinflusst worden sei. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die Entscheidung, das Umgangsrecht des Beschwerdeführers auszusetzen, sich auf das Kindeswohl betreffende Erwägungen stützte.

47. Hinsichtlich der Rüge des Beschwerdeführers, die Entscheidung sei fehlerhaft, stellt der Gerichtshof fest, dass sich das Oberlandesgericht in seinem Entscheidungsprozess auf detaillierte und umfangreiche Informationen stützte, wie beispielsweise auf Einschätzungen in der Stellungnahme des Sachverständigen und die mündliche Anhörung des Beschwerdeführers, der Mutter des Kindes, der Verfahrensbeiständin und des Kindes. Auf das Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich eines Umgangspflegers ging es mit der Feststellung ein, dass sich das Dilemma des Kindes nicht dadurch lösen lasse, dass eine Umgangsregelung getroffen oder ein Umgangspfleger bestellt werde. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass der Entscheidungsprozess fair war und die betroffenen Interessen berücksichtigte.

48. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht seine Entscheidung als solche klar begründete, indem es das prozessuale und außerprozessuale Verhalten der Eltern, die Notwendigkeit einer Verbesserung der Kommunikation zwischen den Eltern vor der Anbahnung erneuter Umgangskontakte und die Möglichkeit der erfolgreichen Inanspruchnahme einer Mediation beurteilte (siehe Rdnrn. 19 und 20). Darüber hinaus nahm es auf mögliche zukünftige Veränderungen Bezug. Jedoch ist die Entscheidung insofern unklar, als sie betonte, dass der Umgangsausschluss „derzeit“ die beste Lösung sei, ihn aber nicht zeitlich befristete.

49. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof erneut fest, dass die Gründe für eine Aussetzung des Umgangs in der Regel nicht als dauerhaft angesehen werden können und im Allgemeinen in regelmäßigen Abständen überprüft werden sollten, soweit nicht die Überprüfung an sich das Kindeswohl ernsthaft gefährden würde (siehe N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46165/99, 19. Juni 2003, und H., a. a. O.).

50. In der vorliegenden Rechtssache führte das Oberlandesgericht aus, dass wegen des seelischen Dilemmas des Kindes beide Eltern ihr Kommunikationsverhalten verbessern müssten. Das Oberlandesgericht befand, dass der Ausschluss des Umgangsrechts des Beschwerdeführers unter diesen Umständen die einzige Option sei. Zwar geht aus den vom Oberlandesgericht vorgebrachten Gründen klar hervor, dass das Fortschreiten der Zeit alleine nicht reichen werde, sondern sich auch die Haltung der Eltern ändern müsse, um die Umgangsrechte neu beurteilen zu können. Das Gericht hat die Nichtbefristung jedoch nicht explizit begründet und auch nicht explizit festgestellt, dass eine Überprüfung an sich das Kindeswohl gefährden würde (vgl. hingegen H., a.a.O.). Nach Auffassung des Gerichtshofs hat das Oberlandesgericht zwar aufgezeigt, dass es sich seiner Verpflichtung bewusst war, die Bindungen zwischen Vater und Tochter aufrecht zu erhalten (vgl. S., a.a.O., Rdnr. 91, und L. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 28782/04, 25. September 2007), aber die in der vorliegenden Rechtssache von ihm vorgebrachten Gründe reichten nicht aus, um klarzustellen, warum diese Entscheidung angesichts der Gefahr, dass Familienbeziehungen durch eine unbefristete Aussetzung des Umgangs endgültig abgeschnitten werden könnten, im Interesse des Kindeswohls erforderlich war.

51. Nichtsdestotrotz ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts im Zusammenhang mit den umgangsrechtlichen Regelungen insgesamt zu sehen.

52. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte nach § 1696 Abs. 2 BGB i. V. m. § 166 Abs. 2 FamFG (siehe Rdnrn. 24 und 27) verpflichtet sind, die Situation von Amts wegen in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen. Dies ist grundsätzlich als eine der Garantien zu betrachten, die den in dem Beschluss enthaltenen unbefristeten Umgangsausschluss ausgleichen. In der vorliegenden Rechtssache deutet jedoch nichts darauf hin, dass der zuständige Richter von sich aus eine förmliche Überprüfung eingeleitet hätte. Als ihm die Akte nach der Rücksendung vorgelegt wurde, vermerkte er, dass nichts zu veranlassen sei (siehe Rdnr. 22).

53. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass es dem Beschwerdeführer nach § 24 Abs. 1 FamFG freistand, jederzeit ein neues Überprüfungsverfahren anzuregen (siehe Rdnr. 25). Dies bedeutet, dass die Regelung des Umgangsrechts, auch wenn sie Teil einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung ist, weiterhin veränderbar ist. Dem Gerichtshof ist bewusst, dass § 24 Abs. 1 FamFG eine Person nicht förmlich berechtigt, eine Überprüfung zu beantragen, nimmt jedoch an, dass diese Bestimmung von den Gerichten, die einen gerechten Ausgleich zwischen den betroffenen Rechten erzielen müssen, sehr ernst genommen wird. In jedem Fall lässt diese Verfahrensweise es zu, einschlägige Gründe für eine Überprüfung der ursprünglichen Beurteilung des Kindeswohls durch das Familiengericht vorzubringen. Der Gerichtshof kann nicht spekulieren, ob die Anregung eines neuen Verfahrens nach § 24 Abs. 1 FamFG durch den Beschwerdeführer erfolgreich gewesen wäre. Er kommt jedoch nicht umhin festzustellen, dass der Beschwerdeführer nie auch nur versucht hat, von dieser verfahrensrechtlichen Möglichkeit Gebrauch zu machen. Dies ist umso bedeutender, als das Oberlandesgericht in seinem Beschluss die Lösung als „derzeit“ geltende definiert hat und darauf Bezug genommen hat, dass sich der Wille des Kindes mit zunehmendem Alter und geistiger Reife möglicherweise ändern könnte. Daher ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es prozessuale Garantien gab, welche in der vorliegenden Rechtssache die in der Entscheidung des Oberlandesgerichts enthaltenen Mängel aufwogen.

54. Angesichts der vorgenannten Erwägungen und unter Berücksichtigung der Subsidiaritätsregel des Gerichtshofs hat die Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 19. Oktober 2012, das Recht des Beschwerdeführers auf Umgang mit seinem Kind auszusetzen, den Beurteilungsspielraum nicht überschritten, der den innerstaatlichen Gerichten in Angelegenheiten zusteht, die das Recht eines Elternteils auf Umgang mit seinem minderjährigen Kind betreffen, und kann immer noch als in einer demokratischen Gesellschaft „notwendig“ betrachtet werden.

55. Folglich ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF

1. einstimmig, die Rüge nach Artikel 8 für zulässig zu erklären;

2. mit vier zu drei Stimmen, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden ist.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 28. April 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                    Ganna Yudkivska
Kanzlerin                                                       Präsidentin

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Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil das Sondervotum der Richter Ranzoni, Hajiyev und Vehabović beigefügt.

G.Y.
C.W.

ABWEICHENDE MEINUNG DES RICHTERS RANZONI, DER SICH DIE RICHTER HAJIYEV AND VEHABOVIĆ ANGESCHLOSSEN HABEN

1. Ich kann mich der Feststellung der Mehrheit, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden sei, nicht anschließen.

2. Seit November 2003 streiten die Parteien über das Umgangsrecht des Vaters. Bis zum Sommer 2008 hatte er mehr oder weniger regelmäßigen Umgangskontakt mit seiner Tochter. Danach konnten diese Umgangskontakte nicht mehr stattfinden. Daher hatte der Beschwerdeführer, als das Oberlandesgericht im Oktober 2012 beschloss, den Umgang zwischen Vater und Tochter auf unbestimmte Zeit ganz auszusetzen, seine Tochter bereits etwa vier Jahre lang nicht gesehen.

3. Aus der Akte geht hervor, dass die Mutter nicht wollte, dass ihre Tochter Umgang mit dem Vater hat. Der Sachverständige erläuterte, dass sich die Tochter in einem Loyalitätskonflikt mit ihrer Mutter befinde. Er erklärte auch, dass regelmäßige Umgangskontakte zwischen Vater und Tochter dem Kindeswohl dienen würden, unter den konkreten Umständen und angesichts des Dilemmas, in dem sich das Kind aufgrund seines Loyalitätskonfliktes mit der Mutter befinde, „derzeit“ jedoch eine Umgangsaussetzung dem Kindeswohl entspreche. Daher sei die Entscheidung des Oberlandesgerichts, den Umgang aussetzen, gerechtfertigt. Ich bin jedoch der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte dadurch, dass sie den Umgang aussetzten, ohne diese Aussetzung zu befristen und ohne die gravierenden Auswirkun­gen dieser Entscheidung auszugleichen, ihren Beurteilungsspielraum überschritten haben.

4. In Rdnr. 44 des vorliegenden Urteils stellt der Gerichtshof zutreffend fest, dass der Beurteilungsspielraum der innerstaatlichen Behörden bei Entscheidungen, die das Umgangsrecht betreffen, enger gefasst ist als bei Sorgerechtsentscheidungen. In der Rechtssache S. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 31871/96, 8. Juli 2003, Rdnr. 63), stellte der Gerichtshof fest:

„Einer genaueren Kontrolle bedarf es jedoch bei weitergehenden Beschränkungen, wie bei­spielsweise bei Einschränkungen des Umgangsrechts der Eltern durch diese Behörden, sowie bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die einen wirksamen Schutz des Rechts von Eltern und Kin­dern auf Achtung ihres Familienlebens gewährleisten sollen. Solche weitergehenden Beschrän­kungen bergen die Gefahr, dass die Familienbeziehungen zwischen einem kleinen Kind und ei­nem oder beiden Elternteilen endgültig abgeschnitten werden“.

5. Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass der fortschreitende Zeitablauf irreversible Folgen für die Beziehung zwischen dem Kind und dem nicht mit ihm zusammenlebenden Elternteil haben kann (siehe Santilli ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 51930/10, 17. Dezember 2013, Rdnr. 65, und Bondavalli ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 35532/12, 17. November 2015, Rdnrn. 73 und 83).

6. In dem vorliegenden Urteil wird auch festgestellt, dass das Oberlandesgericht keine Erklärung dafür gegeben hat, weshalb es im Hinblick auf das Kindeswohl erforderlich war, den Umgang zwischen Vater und Tochter auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Die Mehrheit ist jedoch der Auffassung, dass diese Mängel durch prozessuale Garantien ausgeglichen würden und die weitreichende Entscheidung, den Umgang ohne jede Befristung auszusetzen, somit gerechtfertigt sei. Ich kann mich dieser Auffassung nicht anschließen.

7. Hinsichtlich der Verpflichtung der innerstaatlichen Gerichte, die Situation „von Amts wegen“ zu überprüfen (siehe Rdnr. 52), sehen die innerstaatlichen Rechtsvorschriften nur eine Überprüfung „in angemessenen Zeitabständen“ vor, ohne dies konkreter zu regeln. Wichtiger ist noch, dass in der vorliegenden Rechtssache der zuständige Familienrichter nach Rückübermittlung der Akte entschied: „1. Gesehen. Nichts zu veranlassen. 2. Weglegen”; (siehe Rdnr. 22). Dies geschah fast zwei Jahre nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts und zeigt ziemlich deutlich auf, dass die Akte auf unbegrenzte Zeit „weggelegt“ werden sollte und eine zukünftige Überprüfung nicht geplant war. Es gibt keinen anderen Anhaltspunkt dafür, dass die innerstaatlichen Gerichte die Frage, ob die Voraussetzungen für eine weitere Aussetzung des Umgangs immer noch erfüllt seien, aus eigenem Antrieb geprüft hätten.

8. Hinsichtlich der Möglichkeit, eine Überprüfung anzuregen (siehe Rdnr. 53), ist zunächst, wie in dem Urteil der Kammer erwähnt, festzustellen, dass § 24 Abs. 1 FamFG dem Beschwerdeführer kein förmliches Recht zur Beantragung einer Überprüfung einräumt. Die Bestimmung sieht nur die Anregung eines neuen Verfahrens vor, was längst nicht denselben prozessualen Wert hat wie ein förmlicher Antrag nach zivilrechtlichen Bestimmungen. Auch führt die Anregung nicht notwendigerweise zu einem neuen Verfahren oder einer neuen gerichtlichen Entscheidung. Die Kammer nimmt an, dass Überprüfungsanregungen „von den Gerichten sehr ernst“ genommen werden. Zumindest in dem in Rede stehenden Verfahren kann ich keinerlei Rechtfertigung für diese Annahme erkennen. Zweitens verweist das Urteil darauf, dass der Beschwerdeführer nicht einmal versucht hat, diesen prozessualen Weg zu beschreiten. Jedoch hat der Sachverständige vor dem Oberlandesgericht ausgesagt, dass weitere Versuche des Vaters, mit seiner Tochter Umgang zu haben, „derzeit“ – im September 2012 – dem Kindeswohl „abträglich sei[e]n“, und es dem Vater „derzeit“ nicht möglich sei, aktiv und positiv auf einen solchen Umgang hinzuwirken. Der Beschwerdeführer erklärte sich sogar mit einer Mediation einverstanden, wohingegen die Mutter solche Schritte zu einer Lösung ablehnte. Das Problem schien nicht in erster Linie beim Vater, sondern bei der Mutter und ihrer – in den Worten des Oberlandesgerichts – „Abneigung gegen den Vater“ zu liegen. In dieser schwierigen Situation konnte der Vater nur wenig tun. Darüber hinaus hat das Oberlandesgericht ausdrücklich verlangt, der Beschwerdeführer solle „geduldig“ und „rücksichtsvoll“ sein. Neben der Tatsache, dass dies für einen Vater, der seine Tochter mehrere Jahre lang nicht gesehen hat, alles andere als einfach ist, stellt die Forderung des Gerichts ein weiteres Argument dafür dar, dass dem Angeklagten nicht vorgeworfen werden kann, kein neues Verfahren angeregt zu haben. Drittens führt das Urteil aus, dass das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung darauf Bezug genommen hat, dass „,sich der Wille des Kindes mit zunehmendem Alter und geistiger Reife möglicherweise ändern könnte“. Stellt dies tatsächlich einen ausgleichenden Faktor dar? In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof befunden, dass das Umgangsrecht ein wichtiges Element der Verpflichtung ist, die Bindungen zwischen Vater und Tochter aufrecht zu erhalten, und dass die nationalen Gerichte positiv und fortlaufend verpflichtet sind, die Sachlage zu prüfen und auf die Überwindung der Hindernisse hinzuwirken, die der Einräumung selbst eines sehr beschränkten Umgangsrechts entgegenstehen können (siehe N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46165/99, 19. Juni 2003). Die positive Verpflichtung wird nicht dadurch erfüllt, dass man einfach auf eine mögliche Veränderung mit zunehmendem Alter und geistiger Reife Bezug nimmt. Außerdem entbindet eine mangelhafte Kommunikation zwischen den Eltern die innerstaatlichen Behörden nicht von dieser Verpflichtung (siehe Bondavalli, a. a. O., Rdnr. 82).

9. Vor diesem Hintergrund hätten die innerstaatlichen Gerichte – wie dies die Familiengerichte normalerweise tun – von sich aus eine angemessene Frist für eine neue Prüfung der Sachlage festlegen müssen. Dies hätte im vorliegen Fall, im Interesse des Kindeswohls, insbesondere die Mutter einem gewissen „Druck“ ausgesetzt, auf regelmäßige Umgangskontakte zwischen Vater und Tochter hinzuwirken. Der Sachverständige betonte, dass regelmäßige Umgangskontakte wiederaufgenommen und aufrechterhalten werden sollten, und der Umgang aufgrund des Loyalitätskonflikts der Tochter mit der Mutter nur „derzeit“ ausgesetzt werden solle.

10. Folglich war es meiner Meinung nach nicht gerechtfertigt, den Umgang unbefristet auszusetzen. Die nationalen Behörden hätten aktiv Maßnahmen ergreifen müssen, um zu ermöglichen, dass der Vater seine Tochter sieht, und, was noch wichtiger ist, dass die Tochter ihren Vater sieht. Weder das einschlägige innerstaatliche Recht noch die einschlägige innerstaatliche Praxis boten dem Beschwerdeführer in der vorliegenden Sache einen angemessen und wirksamen Schutz gegen die Auswirkung der unbefristeten Aussetzung des Umgangs, d. h. gegen die Gefahr, dass die Beziehung zwischen Vater und Tochter in nicht wiedergutzumachender Weise abgeschnitten wird.

11. Bedenkt man den begrenzten Beurteilungsspielraum in Rechtssachen, welche die Einschränkung von Umgangsrechten betreffen, die konkreten Umstände dieses Falls und das Wohl des betroffenen Kindes, das grundsätzlich einen regelmäßigen Umgang mit dem Vater erfordert, war die Aussetzung des Umgangs ohne Fristsetzung, ohne Begründung und ohne jegliche ausgleichenden Maßnahmen, nicht verhältnismäßig und nicht „notwendig“ im Sinne von Artikel 8. Folglich liegt meines Erachtens ein Verstoß gegen diese Bestimmung vor.

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[1] in der engl. Fassung als „Youth Office“ (Jugendamt) bezeichnet

Zuletzt aktualisiert am Dezember 10, 2020 von eurogesetze

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