RECHTSSACHE PETSCHULIES ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 6281/13

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE P. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 6281/13)
URTEIL
STRASSBURG
2. Juni 2016

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache P. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Erik Møse,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 26. April 2016

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 6281/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, P. („der Beschwerdeführer“), am 22. Januar 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Verfahrenshilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn A., Rechtsanwalt in O., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass seine Sicherungsverwahrung in einer betreuten Einrichtung mit Anbindung an ein psychiatrisches Krankenhaus, die nachträglich über die frühere gesetzliche Höchstdauer von zehn Jahren hinaus verlängert worden sei, gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe.

4. Am 4. Juni 2014 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Einreichung seiner Individualbeschwerde war er in einer betreuten Einrichtung in S. (Deutschland) untergebracht. Später wurde er entlassen.

A. Die früheren Verurteilungen des Beschwerdeführers sowie die Anordnung seiner Sicherungsverwahrung und deren Vollstreckung

1. Frühere Verurteilungen

6. Nach fünf Verurteilungen, u. a. wegen Einbruchsdiebstahls und gefährlicher Körperverletzung, sprach das Landgericht Hildesheim den Beschwerdeführer 1977 des vorsätzlichen Vollrauschs schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB (siehe Rdnr. 35) an. Das Gericht stellte fest, dass die Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers zur Tatzeit aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung in Verbindung mit seiner Trunkenheit vermindert gewesen sei. Von Dezember 1977 bis Oktober 1980 war er in psychiatrischen Krankenhäusern in G. und M. untergebracht.

7. 1981 hob das Landgericht Göttingen das Urteil des Landgerichts Hildesheim von 1977 auf. Es verurteilte den Beschwerdeführer wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten, ohne seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen. Unter Bezugnahme auf die Feststellungen eines psychiatrischen Sachverständigen und die Ergebnisse einer erneuten Untersuchung seines Gehirns mit neuen technischen Mitteln stellte das Gericht fest, dass er nicht an einer krankhaften psychischen Störung leide und auch nie an einer solchen gelitten habe. Er habe daher nicht mit verminderter Schuldfähigkeit gehandelt. Nach Ansicht des Gerichts litt der Beschwerdeführer nicht an einem frühkindlichen Hirnschaden; er sei zwar eine abnorme Persönlichkeit, aber kein Psychopath und auch nicht alkoholkrank.

2. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung

8. Am 11. Dezember 1984 verurteilte das Landgericht Hildesheim den Beschwerdeführer wegen gefährlicher Körperverletzung in sieben Fällen, Körperverletzung in vier Fällen sowie Nötigung und versuchter Nötigung in zwei Fällen. Diese Straftaten seien sämtlich zwischen dem 6. Dezember 1982 und dem 1. Mai 1984 begangen worden. Das Gericht verurteilte ihn zu sechs Jahren Freiheitsstrafe und ordnete seine Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB (siehe Rdnrn. 28-29) an.

9. Das Landgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer seine Opfer gewalttätig angegriffen habe. Die Opfer seien fast ausnahmslos männlich gewesen und es hätten sich auch Schulkinder unter ihnen befunden. Einige von ihnen seien dem Beschwerdeführer bekannt gewesen, andere nicht – Personen, die sich in Lokalen aufgehalten hätten oder die er zufällig auf der Straße ausgesucht habe. Er habe seine Opfer ins Gesicht geschlagen, ihnen ins Gesicht getreten, nachdem sie am Boden gelegen hätten, oder einen Schäferhund auf sie gehetzt, der ihnen nicht unerhebliche Bisswunden, teilweise an Bauch und Hals, zugefügt habe. Er habe zwei ihm unbekannte Obdachlose mit einem Messer angegriffen. Diese hätten in einem leerstehenden Gebäude geschlafen. Er habe einen von ihnen an der Hand, Lippe, Brust und am Oberschenkel und den anderen am Rücken und am Finger verletzt. Seine Opfer hätte keinen objektiven Anlass für eine Auseinandersetzung gegeben.

10. Das Landgericht Hildesheim, das einen psychiatrischen und einen psychologischen Sachverständigen hinzugezogen hatte, stellte fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Begehung der meisten seiner Straftaten trotz seines vorangegangenen Alkoholkonsums uneingeschränkt schuldfähig gewesen sei. Lediglich bei zwei seiner Taten könne als relevante Erwägung nicht ausgeschlossen werden, dass seine Schuldfähigkeit alkoholbedingt vermindert gewesen sein könnte (§ 21 StGB, siehe Rdnr. 34). Der Alkoholkonsum sei jedoch nicht ursächlich für seine Straftaten gewesen. Er leide auch nicht an einer anderen krankhaften psychischen Störung im Sinne des § 21 StGB. Sein Persönlichkeitsbild unterscheide sich von dem einer größeren Mehrheit der Bevölkerung darin, dass es ihm an Empathie fehle und er sich als starken und dominierenden Mann sehe, ohne dass diese Abweichung jedoch pathologischer Natur wäre. Er habe einen Hang zur Begehung erheblicher Gewalttaten gegen Personen, bei denen die Opfer erheblich verletzt würden.

3. Vollstreckung der Sicherungsverwahrungsanordnung

11. Am 7. Mai 1990 wurde der Beschwerdeführer nach vollständiger Verbüßung seiner Freiheitsstrafe erstmals in der Sicherungsverwahrung untergebracht, die zunächst hauptsächlich in der Justizvollzugsanstalt S. vollzogen wurde. Unter Berücksichtigung einer weiteren, verbüßten Freiheitsstrafe hatte er am 7. August 2000 zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung verbracht. Am selben Tag ordnete das Landgericht Lüneburg die Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung an.

12. Am 2. Mai 2001 verurteilte das Amtsgericht Hildesheim den Beschwerdeführer wegen Körperverletzung zu vier Monaten Freiheitsstrafe; es stellte fest, dass er während eines Hafturlaubs unter Alkoholeinfluss seine Tochter ins Gesicht geschlagen habe. Der Beschwerdeführer verbüßte diese Freiheitsstrafe 2002.

13. Am 25. August 2003 wurde der Beschwerdeführer in die Suchtklinik des Landeskrankenhauses M. verlegt. Mit Beschluss vom 18. April 2005 ordnete das Landgericht Göttingen seine weitere Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) statt einer Suchtklinik an, weil dadurch seine Resozialisierung besser gefördert werden könne. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer in die psychiatrische Abteilung des Landeskrankenhauses M. verlegt.

14. Die Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung durch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde im Anschluss verlängert. Im März 2011 wurde ihm Probewohnen im Wohnheim F., einer betreuten Einrichtung, gestattet.

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Der Beschluss des Landgerichts Göttingen

15. Am 19. Juli 2011 ordnete das Landgericht Göttingen erneut die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers durch Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 3 StGB (siehe Rdnr. 31) an.

16. Das Landgericht stellte fest, dass die mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 festgelegten strengeren Maßstäbe für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahresfrist hinaus in dem Übergangszeitraum bis zum 31. Mai 2013 (siehe Rdnr. 39) im Fall des Beschwerdeführers erfüllt seien.

17. Das Landgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Therapieunterbringungsgesetz (siehe Rdnr. 36) leide, die ursächlich für seine bisherigen Straftaten sei. Nach eigener kritischer Überprüfung schloss es sich den Schlussfolgerungen bezüglich des psychischen Zustands des Beschwerdeführers an, zu denen S., ein erfahrener und verlässlicher Sachverständiger auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie, in seinem Gutachten vom 26. Mai 2010 (ergänzt am 24. April 2011) gelangt war. Der Sachverständige habe sein Gutachten nach Aktenlage erstellt, da der Beschwerdeführer eine Exploration verweigert habe. S. habe ausgeführt, dass der Beschwerdeführer noch immer wie zur Tatzeit an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägt psychopathischen Zügen leide, wie sie in dem einschlägigen Instrument zur Klassifikation von Krankheiten, der ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der aktuellen Fassung), definiert sei. Diese Diagnose sei auch von den behandelnden Ärzten im Landeskrankenhaus M. bestätigt worden.

18. Das Landgericht war ferner der Auffassung, es bestehe eine hochgradige Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle der Beendigung der Sicherungsverwahrung schwerste Gewalttaten begehen werde, wobei dies aus den konkreten Umständen seiner Person und seinem Verhalten abzuleiten sei. Wie von dem Sachverständigen S. bestätigt worden sei, bestehe die Gefahr, dass er erneut andere Personen lebensbedrohlich angreifen werde, beispielsweise durch Tritte gegen den Kopf oder indem er einen Hund gegen sie aufhetzen und diesen zu Bissen in den Hals bzw. ins Gesicht auffordern würde. Diese Gefahr sei besonders hoch, wenn der Beschwerdeführer – der nach den Schlussfolgerungen des Sachverständigen Alkoholmissbrauch betreibe, aber nicht alkoholabhängig sei, wie in der ICD-10 definiert – betrunken sei. Aufgrund seiner dissozialen Persönlichkeitsstörung habe der Beschwerdeführer kaum eine Hemmschwelle, andere zu verletzen, da ihm die notwendige Empathie fehle. Da er seine eigene Wahrnehmung einer Situation nicht hinterfrage, könnte bereits eine missverstandene Situation dazu führen, dass er ohne jegliches Korrektiv Gewalt gegen zufällig ausgesuchte Opfer anwenden würde, die durch ihr Verhalten keinen objektiven Anlass für eine Auseinandersetzung gegeben hätten.

19. Das Landgericht war darüber hinaus der Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers immer noch verhältnismäßig sei. Es gebe derzeit kein Wohnheim außerhalb der Sicherungsverwahrung, das eine engmaschige Kontrolle seines Verhaltens gestatten würde. Es sei bereits unklar, ob er angesichts seines Verhaltens in seinem derzeitigen Wohnheim in F. verbleiben dürfe. Im Hinblick auf die hochgradige Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung schwerste Gewalttaten begehen werde, sei die seit mehr als 20 Jahren andauernde Sicherungsverwahrung nicht unangemessen.

20. Das Landgericht bestätigte, dass die Resozialisierung des Beschwerdeführers durch eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besser gefördert werden könne als in einer Sicherungsverwahrungseinrichtung (§ 67a Abs. 1 und 2 StGB, siehe Rdnr. 32). Auch wenn es bisher zu keiner maßgeblichen Veränderung seiner Störung gekommen sei, gebe es eine positive Entwicklung dahin, dass er mittlerweile mit einem Probewohnen in einer betreuten Einrichtung begonnen habe.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig

21. Am 19. September 2011 verwarf das Oberlandesgericht Braunschweig unter Bestätigung der vom Landgericht Göttingen dargelegten Gründe die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet.

3. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

22. Am 24. Oktober 2011 legte der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Er trug vor, dass er durch die Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung in einem psychiatrischen Krankenhaus in seinem Grundrecht auf Freiheit verletzt werde. Die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Leiturteil vom 4. Mai 2011 festgelegten strengeren Maßstäbe für eine Verlängerung der Sicherungsverwahrung seien nicht erfüllt. In Anbetracht dessen, dass seine unter Alkoholeinfluss begangenen Straftaten 27 Jahre zurück lägen, dass er seither abstinent lebe und umfangreiche Lockerungen genieße, hätten die Sachverständigen und die Gerichte nicht überzeugend dargelegt, dass die Gefahr bestehe, dass er im Falle seiner Freilassung eine schwerwiegende Gewalttat begehen werde. Ferner sei von den Sachverständigen oder innerstaatlichen Gerichten nicht festgestellt worden, dass seine angebliche psychische Störung ursächlich für die in Rede stehenden Straftaten gewesen sei und auch nicht, dass er alkoholkrank sei oder jemals gewesen sei.

23. Am 18. Juli 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2270/11). Der Beschluss wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 26. Juli 2012 zugestellt.

C. Die Bedingungen der Unterbringung des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt des in Rede stehenden Verfahrens bis zu seiner Entlassung

24. Von März 2011 bis August 2012 wurde dem Beschwerdeführer Probewohnen im Wohnheim F., einer betreuten Einrichtung, gestattet. Er wurde regelmäßig von Mitarbeitern des Landeskrankenhauses M. besucht. Dreimal wöchentlich wurde ihm gestattet, für zwei Stunden in M. einkaufen zu gehen, und einmal wöchentlich wurde ihm eine halbtägige Ausführung in N. gewährt. Er besuchte weiterhin die Arbeitstherapie im Landeskrankenhaus M. Eine spezielle Behandlung der bei ihm diagnostizierten psychischen Störung oder seines Alkoholmissbrauchs erhielt er nicht mehr. Das Ziel seines Aufenthalts in der betreuten Wohneinrichtung war, ihn in die Lage zu versetzen, aus eigenen Kräften mit den Anforderungen des täglichen Lebens zurecht zu kommen.

25. Im August 2012 musste der Beschwerdeführer nach einem Konflikt mit den Mitarbeitern von F. in das Landeskrankenhaus M. zurückkehren. Ab Oktober 2012 befand er sich im Probewohnen in G., einer betreuten Wohneinrichtung in S., unter vergleichbaren Unterbringungsbedingungen wie in F.

26. In Übereinstimmung mit dem Beschluss des Landgerichts Göttingen vom 10. Juli 2014 über die Beendigung seiner Sicherungsverwahrung wurde der Beschwerdeführer am 15. September 2014 entlassen.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung

27. Ein umfassender Überblick über die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung zur Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung, insbesondere der Sicherungsverwahrung, sowie zum Erlass, zur Überprüfung und zum praktischen Vollzug von Anordnungen der Sicherungsverwahrung ist im Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 45-78, ECHR 2009) enthalten. Die in der vorliegenden Rechtssache in Bezug genommenen Bestimmungen sehen Folgendes vor:

1. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht

28. Unter bestimmten Umständen kann das erkennende Gericht im Zeitpunkt der Verurteilung des Straftäters neben der Freiheitsstrafe (einer Strafe) die Sicherungsverwahrung (eine sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung) anordnen, wenn sich herausgestellt hat, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 66 StGB).

29. Insbesondere kann das erkennende Gericht nach § 66 Abs. 2 StGB neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn die betreffende Person drei vorsätzliche Straftaten, durch die sie jeweils eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, begangen hat und wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Darüber hinaus muss die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist. Im Sinne dieser Vorschrift ist es nicht erforderlich, dass der Täter bereits einmal verurteilt oder in Haft genommen wurde.

2. Dauer der Sicherungsverwahrung

30. Nach § 67d Abs. 1 StGB in der vor dem 31. Januar 1998 geltenden Fassung durfte die Dauer der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zehn Jahre nicht überschreiten. War die Höchstfrist abgelaufen, war der Untergebrachte zu entlassen (§ 67d Abs. 3).

31. § 67d StGB wurde durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998, das am 31. Januar 1998 in Kraft trat, geändert. § 67d Abs. 3 in der geänderten Fassung sieht vor, dass das Gericht, wenn zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden sind, die Maßregel nur dann für erledigt erklärt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die frühere Höchstdauer der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wurde mit sofortiger Wirkung aufgehoben.

3. Die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel der Besserung und Sicherung

32. § 67a StGB enthält Bestimmungen über die Überweisung eines Gefangenen in den Vollzug einer anderen Maßregel der Besserung und Sicherung als derjenigen, die ursprünglich in dem gegen ihn ergangenen Urteil angeordnet worden ist. Nach § 67a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 StGB kann das Gericht eine Person, gegen die die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, nachträglich in ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Entziehungsanstalt verlegen, wenn ihre Resozialisierung dadurch besser gefördert werden kann.

B. Bestimmungen zur Schuldfähigkeit

33. § 20 StGB enthält Vorschriften über die Schuldunfähigkeit aufgrund psychischer Störungen. Danach handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

34. In § 21 StGB ist die verminderte Schuldfähigkeit geregelt. Danach kann die Strafe gemildert werden, wenn die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist.

C. Die Unterbringung psychisch Kranker

35. Das Strafgesetzbuch regelt die Unterbringung psychisch kranker Personen als Maßregel der Besserung und Sicherung, wenn die Unterbringung im Zusammenhang mit einer von dem Betroffenen begangenen rechtswidrigen Tat angeordnet wird. § 63 StGB sieht vor, dass das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne Angabe einer Höchstdauer anordnet, wenn jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat und die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

36. Überdies trat nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a. a. O.) am 1. Januar 2011 das Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz -ThUG) in Kraft. Nach § 1 Abs. 1 und 4 ThUG können die Zivilkammern der Landgerichte die Unterbringung einer Person in einer geeigneten Einrichtung anordnen, wenn diese angesichts des Verbots der rückwirkenden Verlängerung bzw. Verhängung der Sicherungsverwahrung nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann. Eine solche Therapieunterbringung kann angeordnet werden, wenn der Betroffene durch rechtskräftiges Urteil bestimmter schwerer Straftaten, derentwegen nach § 66 Abs. 3 StGB die Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, schuldig befunden worden ist. Zudem muss die Person an einer psychischen Störung leiden, die dazu führt, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen wird. Die Unterbringung muss zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich sein.

D. Neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

1. Das Leiturteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011

37. Am 4. Mai 2011 erließ das Bundesverfassungsgericht ein Leiturteil, das insbesondere die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer über die frühere Zehnjahresfrist hinaus betrifft (2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 1152/10 und 2 BvR 571/10). In Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung befand das Bundesverfassungsgericht, dass die angegriffenen Vorschriften über die nachträgliche Verlängerung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz unvereinbar seien, weil sie das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot in Verbindung mit dem Freiheitsgrundrecht verletzten.

38. Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, dass alle einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung mit dem Freiheitsgrundrecht der sicherungsverwahrten Personen unvereinbar seien. Diese Vorschriften würden nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot gerecht, zwischen der Freiheitsentziehung in der Sicherungsverwahrung und der Freiheitsentziehung im Strafvollzug zu unterscheiden (Abstandsgebot).

39. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass sämtliche mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Vorschriften bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Mai 2013, weiter anwendbar seien. In Bezug auf die Untergebrachten, deren Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert worden sei, hätten die Strafvollstreckungsgerichte unverzüglich zu prüfen, ob aus den konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten der Untergebrachten eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten abzuleiten sei und diese zudem im Sinne des § 1 Abs. 1 des neu verabschiedeten Therapieunterbringungsgesetzes an einer psychischen Störung litten. Was den Begriff „psychische Störung“ angeht, nahm das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf den Begriff „psychisch Kranke“ aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention in der Auslegung durch den Gerichtshof Bezug (siehe Rdnrn. 138 und 143-156 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts). Bei Nichtvorliegen der oben genannten Voraussetzungen seien diese Sicherungsverwahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 freizulassen.

40. In seiner Begründung berief sich das Bundesverfassungsgericht auf die Auslegung der Artikel 5 und 7 der Konvention, die der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a .a. O.; siehe Rdnrn. 137 ff. des Bundesverfassungsgerichtsurteils) vorgenommen hat. Es unterstrich insbesondere, dass es aufgrund des verfassungsrechtlichen Gebots, zwischen der Freiheitsentziehung in der Sicherungsverwahrung und der Freiheitsentziehung im Strafvollzug zu unterscheiden, und aufgrund der in Artikel 7 der Konvention niedergelegten Grundsätze erforderlich sei, den Betroffenen eine individuell zugeschnittene und intensive Therapie und Betreuung anzubieten.

41. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte seine ständige Rechtsprechung, nach der das absolute Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen nach Artikel 103 Abs. 2 GG nicht die Sicherungsverwahrung erfasst. Die Sicherungsverwahrung sei eine Maßnahme der Besserung und Sicherung, die nicht dem Ziel diene, strafrechtliche Schuld zu sühnen, sondern eine reine Präventivmaßnahme sei, die die Allgemeinheit vor einem gefährlichen Täter schützen solle (siehe Rdnrn. 100-101 und 141-142 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts). Das Bundesverfassungsgericht wies darauf hin, dass dieser Gerichtshof die Sicherungsverwahrung als eine „Strafe“ im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 der Konvention angesehen habe (ebd., Rdnrn. 102, 140). Es war der Auffassung, dass es nicht notwendig sei, die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Begriffs „Strafe“ mit der Bedeutung dieses Begriffs nach der Konvention zu parallelisieren. Vielmehr sollten die Wertungen der Konvention zielorientiert aufgenommen werden, um Völkerrechtsverletzungen zu vermeiden (ebd., Rdnrn. 91 und 141 ff.).

42. Im Hinblick auf das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot und die Wertungen der Artikel 5 und 7 der Konvention sei die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahresfrist hinaus in der Praxis insbesondere nur dann verfassungsgemäß, wenn u. a. die Voraussetzungen von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e erfüllt seien (ebd., Rdnrn. 143 und 151-156). Das Bundesverfassungsgericht verwies in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung dieses Gerichtshofs, wonach die Freiheitsentziehung einer Person wegen psychischer Krankheit nur dann im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e der Konvention rechtmäßig ist, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt (ebd., Rdnr. 155).

2. Weitere Entscheidungen

43. In einem Beschluss vom 15. September 2011 (2 BvR 1516/11) wies das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 4. Mai 2011 (siehe Rdnrn. 37-42) erneut darauf hin, dass eine Verlängerung der Unterbringung einer Person in der Sicherungsverwahrung über die zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung anwendbare Zehnjahresfrist hinaus nur möglich sei, wenn die Voraussetzungen nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention erfüllt seien.

44. Das Bundesverfassungsgericht stellte weiter klar, dass in § 1 Abs. 1 Therapieunterbringungsgesetz an den Begriff „psychisch Kranke“ aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention angeknüpft worden sei. In diesem Gesetz habe der Gesetzgeber eine neue Kategorie der „psychischen Störung“ eingeführt, die nicht voraussetze, dass die Schuldfähigkeit nach §§ 20 und 21 StGB vermindert oder ausgeschlossen sei. Spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle seien unter den Begriff der „psychischen Störung“ nach § 1 Abs. 1 Therapieunterbringungsgesetz zu fassen. Der Begriff beschränke sich daher nicht auf psychische Erkrankungen, die klinisch behandelt werden könnten, sondern erstrecke sich auch und insbesondere auf dissoziale Persönlichkeitsstörungen.

45. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte diese Auslegung in einem Beschluss vom 11. Juli 2013 (2 BvR 2302/11 and 2 BvR 1279/12). Es nahm darüber hinaus auf die Rechtsprechung dieses Gerichtshofs zu Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e Bezug (insbesondere K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 21906/09, 19. Januar 2012; und B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61272/09, 19. April 2012) und stellte fest, dass die Freiheitsentziehung bei „psychisch Kranken“ gerechtfertigt sein könne, wenn sie in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung erfolge, was wiederum voraussetze, dass eine entsprechende und hinreichend schwere psychische Störung vorliege.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 1 DER KONVENTION

46. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass er durch seine Sicherungsverwahrung über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren, der Höchstdauer einer solchen Freiheitsentziehung nach den zur Tat- und Urteilszeit geltenden Rechtsvorschriften, in seinem nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention garantierten Recht auf Freiheit verletzt worden sei. Der einschlägige Teil dieser Bestimmung lautet wie folgt:

„1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

[…]

e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; […]“

47. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

48. Nach Auffassung des Gerichtshofs war die Unterbringung des Beschwerdeführers, die im Wesentlichen in einer betreuten Einrichtung vollzogen wurde, mit Beschränkungen seiner Bewegungsfreiheit, insbesondere seiner Bewegungsfreiheit außerhalb der Einrichtung verbunden, die hinreichend schwerwiegend waren, dass sie einer Freiheitsentziehung gleichkamen (vgl. sinngemäß Guzzardi ./. Italien, 6. November 1980, Rdnrn. 92-95, Series A. Nr. 39, und Mancini ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 44955/98, Rdnr. 17, ECHR 2001‑IX). Dies wurde von der Regierung auch nicht bestritten. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist daher anwendbar.

49. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

(a) Der Beschwerdeführer

50. In seiner Individualbeschwerde an den Gerichtshof vertrat der Beschwerdeführer die Auffassung, dass seine Sicherungsverwahrung über die frühere gesetzliche Höchstfrist von zehn Jahren hinaus, die aus den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichten in dem in Rede stehenden Verfahren resultierte, gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe.

51. Der Beschwerdeführer trug vor, dass er zum Zeitpunkt der Begehung seiner Straftaten nicht psychisch krank gewesen sei. Seine angebliche dissoziale Persönlichkeitsstörung könne nicht als psychische Störung eingestuft werden. Durch die Feststellung, dass er an einer psychischen Störung leide und gefährlich sei – was er bestreite – habe das Landgericht Göttingen die Schlussfolgerungen des unzureichend begründeten Gutachtens des Sachverständigen S. ohne weitere Prüfung akzeptiert.

52. Der Beschwerdeführer trug ferner vor, dass er seit seiner Inhaftierung vor 30 Jahren keinen Alkohol mehr getrunken habe; er sei nicht alkoholkrank und es auch nie gewesen. Das erkennende Landgericht Hildesheim habe ihn nicht als Alkoholiker eingestuft, der infolge seiner Erkrankung mit verminderter Schuldfähigkeit handelte. Die Straftaten seien durch seinen Alkoholkonsum zur maßgeblichen Zeit bedingt gewesen.

53. Der Beschwerdeführer machte ferner geltend, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über die frühere gesetzliche Zehnjahresfrist hinaus keine gesetzliche Grundlage mehr habe.

(b) Die Regierung

54. Die Regierung trug vor, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei. Sie sei nach Buchstabe e dieser Vorschrift als Freiheitsentziehung bei einem „psychisch Kranken“ gerechtfertigt.

55. Die Regierung trug vor, es sei wiederholt von medizinischen Sachverständigen bestätigt worden, dass der Beschwerdeführer an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen Zügen leide und Alkoholmissbrauch betreibe. In dem in Rede stehenden Verfahren habe der vom Landgericht Göttingen hinzugezogene Sachverständige bei dem Beschwerdeführer erneut eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägt psychopathischen Zügen sowie Alkoholmissbrauch, jeweils gemäß der Definition in der ICD-10, diagnostiziert. In diesem Zusammenhang hob die Regierung hervor, dass der Beschwerdeführer während eines Hafturlaubs Alkohol konsumiert und unter Alkoholeinfluss seine Tochter geschlagen habe. Im Hinblick auf die ausführlich begründete Diagnose des Sachverständigen S. sowie der behandelnden Ärzte des Beschwerdeführers habe es überzeugende Beweise für die Entscheidung der Gerichte gegeben, dass der Beschwerdeführer an eine psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Therapieunterbringungsgesetz leide.

56. Nach Ansicht der Regierung sei die psychische Störung ferner hinreichend schwerwiegend, dass sie eine „tatsächliche“ psychische Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e darstelle. Die Störung sei in einer Weise ausgeprägt, dass bei dem Beschwerdeführer, dem jegliche Einsicht in seine Krankheit fehle, von dem Vorliegen einer Psychopathie ausgegangen werden müsse. In diesem Zusammenhang sei unerheblich, dass seine Schuldfähigkeit nicht im Sinne des deutschen Rechts vermindert gewesen sei.

57. Darüber hinaus trug die Regierung vor, dass die psychische Störung des Beschwerdeführers zur maßgeblichen Zeit von einer Art und Schwere gewesen sei, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigten. Wie die innerstaatlichen Gerichte festgestellt hätten, bestehe infolge seiner psychischen Störung eine hochgradige Gefahr, dass er im Falle seiner Entlassung schwerste Gewalttaten begehen werde.

58. Ferner sei die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zur maßgeblichen Zeit in einer betreuten Einrichtung mit Anbindung an ein psychiatrisches Krankenhaus erfolgt, einer, so die Regierung, angemessenen Einrichtung für den als psychisch Kranker eingestuften Beschwerdeführer. Das Probewohnen des Beschwerdeführers in F., wo die Freiheitsbeschränkungen auf ein Minimum reduziert gewesen seien, sei der letzte Schritt der Vorbereitung auf seine Entlassung gewesen. Die Behandlung sei daher in diesem Zeitraum auf regelmäßige Kontakte zwischen dem Personal des psychiatrischen Krankenhauses und dem Beschwerdeführer beschränkt gewesen.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

59. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass sich der Begriff „psychisch Kranke“ aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e nicht genau definieren lässt, weil sich seine Bedeutung mit dem Fortschreiten der psychiatrischen Forschung ständig verändert (siehe Rechtssachen Winterwerp ./. Niederlande, 24. Oktober 1979, Rdnr. 37, Serie A Band 33; und Rakevich ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 58973/00, Rdnr. 26, 28. Oktober 2003). Einer Person kann wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit nur entzogen werden, wenn die drei folgenden Mindestvoraussetzungen vorliegen: Erstens muss die psychische Krankheit zuverlässig nachgewiesen sein, d. h. eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund objektiver ärztlicher Fachkompetenz vor einer zuständigen Behörde festgestellt werden; zweitens muss die psychische Störung ihrer Art oder ihrer Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigen; drittens hängt die Fortdauer der Unterbringung vom Fortbestehen einer derartigen Störung ab (siehe Winterwerp, a. a. O., Rdnr. 39, und Stanev ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 36760/06, Rdnr. 145, ECHR 2012 ).

60. Wenn keine andere Möglichkeit besteht, etwa weil die betroffene Person eine Begutachtung verweigert, ist zumindest die Einschätzung eines ärztlichen Sachverständigen zum tatsächlichen psychischen Zustand der Person nach Aktenlage einzuholen; andernfalls kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine psychische Erkrankung der Person zuverlässig nachgewiesen wurde (siehe Varbanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 31365/96, Rdnr. 47, ECHR 2000‑X, und Constancia ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 73560/12, Rdnr. 26, 3. März 2015).

61. Eine psychische Störung kann dann als so schwerwiegend angesehen werden, dass sie eine Zwangsunterbringung rechtfertigt, wenn festgestellt wird, dass die Unterbringung des Betroffenen erforderlich ist, weil er eine Therapie, Medikamente oder eine sonstige klinische Behandlung benötigt, um seinen Zustand zu heilen oder zu verbessern, aber auch wenn der Betroffene der Kontrolle und Aufsicht bedarf, um ihn beispielsweise davon abzuhalten, sich selbst oder anderen zu schaden (vgl. z. B. Hutchison Reid ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 50272/99, Rdnr. 52, ECHR 2003‑IV, mit weiteren Nachweisen).

62. Nur eine enge Auslegung der erschöpfenden Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung entspricht dem Ziel von Artikel 5, nämlich sicherzustellen, dass niemandem willkürlich die Freiheit entzogen wird (siehe u. v. a. Shimovolos ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 30194/09, Rdnr. 51, 21. Juni 2011). Im Hinblick auf die Entscheidung, ob einer Person wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit entzogen werden sollte, ist anzuerkennen, dass die nationalen Behörden insbesondere hinsichtlich der Begründetheit klinischer Diagnosen über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen, weil in erster Linie die nationalen Behörden dafür zuständig sind, die ihnen in einem konkreten Fall vorgelegten Beweise zu würdigen; die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, im Lichte der Konvention die Entscheidungen dieser Behörden zu überprüfen (siehe H. L. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45508/99, Rdnr. 98, ECHR 2004IX, und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3300/10, Rdnr. 81, 28. Juni 2012, mit weiteren Nachweisen).

63. Für die Erfordernisse des Artikels 5 Abs. 1 Buchstabe e ist der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem die psychische Erkrankung einer Person zuverlässig nachgewiesen sein muss, der Tag des Erlasses der Maßnahme, mit der dieser Person aufgrund dieses Zustands die Freiheit entzogen wird (vgl. Luberti ./. Italien, 23. Februar 1984, Rdnr. 28, Serie A Nr. 75).

64. Darüber hinaus muss ein Zusammenhang zwischen den für eine zulässige Freiheitsentziehung angeführten Gründen und dem Ort und den Bedingungen der Freiheitsentziehung bestehen. Grundsätzlich ist die „Freiheitsentziehung“ einer Person wegen psychischer Krankheit nur dann im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e „rechtmäßig“, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt (siehe Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, 28. Mai 1985, Rdnr. 44, Serie A Band 93; und K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17792/07, Rdnr. 46, 13. Januar 2011, mit weiteren Nachweisen). Damit die Freiheitsentziehung „rechtmäßig“ und nicht willkürlich ist, muss ferner nachgewiesen werden, dass sie unter den gegebenen Umständen notwendig war (siehe Varbanov, a. a. O., Rdnr. 46).

65. Was die Bedeutung des Begriffs „Alkoholsüchtige“ im Lichte des Ziels und Zwecks von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention angeht, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass das Ziel und der Zweck dieser Bestimmung nicht so ausgelegt werden können, dass nur die Freiheitsentziehung bei „Alkoholsüchtigen“, die im engeren klinischen Sinn alkoholkrank sind, zulässig ist. Personen, bei denen medizinisch keine Alkoholsucht festgestellt wird, deren Verhalten in alkoholisiertem Zustand aber eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder für sie selbst darstellt, können zum Schutz der Allgemeinheit oder ihrer eigenen Interessen wie ihrer Gesundheit oder ihrer persönlichen Sicherheit in Gewahrsam genommen werden. Gleichwohl ist die Freiheitsentziehung einer Person nach dieser Bestimmung lediglich aufgrund ihres Alkoholkonsums nicht zulässig (siehe Witold Litwa ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 26629/95, Rdnrn. 61-62, ECHR 2000‑III, und Kharin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 37345/03, Rdnr. 34, 3. Februar 2011, mit weiteren Nachweisen).

(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

66. Der Gerichtshof hat darüber zu entscheiden, ob im Lichte der vorstehenden Grundsätze die aus dem in Rede stehenden Verfahren resultierende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers wie von der Regierung behauptet nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e als Freiheitsentziehung eines „psychisch Kranken“ gerechtfertigt war.

(i) Gründe für die Freiheitsentziehung

67. In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnr. 59) setzte die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers wegen psychischer Krankheit erstens voraus, dass seine psychische Erkrankung zum Zeitpunkt der Entscheidung, mit der die Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, zuverlässig nachgewiesen war. Anders ausgedrückt, es muss eine tatsächliche psychische Störung vor einer zuständigen Behörde aufgrund objektiver ärztlicher Fachkompetenz festgestellt worden sein.

68. Der Gerichtshof nimmt die Feststellung der innerstaatlichen Gerichte zur Kenntnis, wonach der Beschwerdeführer an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Therapieunterbringungsgesetz litt, wie es die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 festgelegten Maßstäbe für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahresfrist hinaus voraussetzen. Sie schlossen sich der Feststellung der ärztlichen Sachverständigen an, dass der Beschwerdeführer an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägt psychopathischen Zügen litt.

69. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass sich die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte insbesondere auf das externe psychiatrische Gutachten des Sachverständigen S. zum damaligen psychischen Zustand des Beschwerdeführers gründete, das erst drei Monate vor der Entscheidung des Landgerichts Göttingen vorgelegt wurde. Der Gerichtshof schließt sich der Auffassung des Beschwerdeführers, dass das Gutachten des S. nicht hinreichend begründet gewesen sei, nicht an. Er hat in seiner Rechtsprechung wiederholt bestätigt (siehe Rdnr. 60), dass, wenn eine Person wie im Fall des Beschwerdeführers eine Begutachtung verweigert, die Beurteilung ihres psychischen Zustands durch einen ärztlichen Sachverständigen nach Aktenlage – wie im vorliegenden Fall geschehen – notwendig und darüber hinaus hinreichend ist. Ferner wurden die Feststellungen des S. von den innerstaatlichen Gerichten kritisch überprüft und nicht einfach übernommen. Die Gerichte berücksichtigten, dass die Schlussfolgerungen des S., eines erfahrenen und verlässlichen Sachverständigen, auch von den behandelnden Ärzten des Landeskrankenhauses M. bestätigt wurden und nicht von früheren Diagnosen abwichen.

70. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die innerstaatlichen Gerichte als die zuständigen Behörden auf der Grundlage objektiver ärztlicher Fachkompetenz nachgewiesen haben, dass der Beschwerdeführer zumindest nach der Definition im innerstaatlichen Recht an einer psychischen Störung litt. Zu prüfen ist noch, ob auch davon ausgegangen werden kann, dass die innerstaatlichen Gerichte nachgewiesen haben, dass der Beschwerdeführer „psychisch krank“ war, also an einer tatsächlichen psychischen Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention litt. Der Beschwerdeführer bestritt dies.

71. Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte unter Bestätigung der Feststellungen des von ihnen hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangten, dass der Beschwerdeführer an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägt psychopathischen Zügen leide, wie sie in dem einschlägigen Instrument zur Klassifikation von Krankheiten, der ICD-10, definiert ist.

72. Was die Schwere dieses Zustands angeht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die dissoziale Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers, die vom Zeitpunkt der Begehung der Straftaten an, derentwegen er 1984 verurteilt wurde, im Wesentlichen unverändert blieb, keine krankhafte psychische Störung war. Seine Störung war daher nicht so schwerwiegend, dass bei ihm eine zur Tatzeit verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 i. V. m. § 20 StGB (siehe Rdnrn. 34 und 33) festgestellt wurde, und er würde auch gegenwärtig nicht als vermindert schuldfähig angesehen werden. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer bei zwei der Straftaten, derentwegen seine Sicherungsverwahrung lediglich aufgrund von Alkoholintoxikation zur Tatzeit angeordnet wurde, mit verminderter Schuldfähigkeit handelte (siehe Rdnr. 10).

73. Wie von den innerstaatlichen Gerichten bestätigt wurde, hatte sich die Schwere seiner dissozialen Persönlichkeitsstörung jedoch in der spezifischen Art und Weise manifestiert, in der er die vorangegangenen Straftaten begangen hatte. Aufgrund dieser Störung und dem daraus resultierenden Fehlen von Empathie hatte er kaum eine Hemmschwelle, andere zu verletzen. Die Störung hatte auch zur Folge, dass er seine eigene Wahrnehmung einer Situation nicht hinterfragte. Dies führte wiederholt dazu, dass er massive Gewalt gegen zufällig ausgesuchte Opfer anwendete, die keinen objektiven Anlass für eine Auseinandersetzung gegeben hatten (siehe Rdnr. 18).

74. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er in seiner Rechtsprechung keine genaue Definition des Begriffs „psychisch Kranke“ vorgenommen hat, da sich der Begriff aufgrund des Fortschreitens der psychiatrischen Forschung nicht genau definieren lässt (siehe Rdnr. 59). Außerdem merkt er an, dass Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e, anders als Buchstabe a, nicht nur die Freiheitsentziehung nach strafrechtlicher Verurteilung betrifft. Dem Begriff „psychisch Kranke“ ist darüber hinaus eine eigenständige Bedeutung zu verleihen, ohne den Gerichtshof dabei an die Auslegung dieses oder ähnlicher Begriffe in den innerstaatlichen Rechtsordnungen zu binden (vgl. G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 7345/12, Rdnr. 83, 28. November 2013).

75. Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit zu klären, dass – im Sinne der Konvention – die Einschätzung einer Person als „psychisch krank“ nicht voraussetzt, dass eine psychische Störung vorliegt, die hinreichend schwerwiegend ist, dass sie eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nach deutschem Recht ausschließt oder mindert (siehe G., a. a. O., Rdnr. 84). Er schließt sich insoweit den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts (siehe Rdnrn. 43-45) und dem entsprechenden Vortrag der Regierung an.

76. Der Gerichtshof hat jedoch ebenfalls betont, dass die in Artikel 5 Abs. 1 aufgeführten Gründe, aus denen eine Freiheitsentziehung zulässig ist, eng auszulegen sind (siehe Rdnr. 62). Um eine tatsächliche psychische Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e darzustellen, muss die betreffende Störung so schwerwiegend sein, dass sie einer Behandlung in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung bedarf (siehe G., a. a. O., Rdnr. 85). Der Gerichtshof hat diesbezüglich festgestellt, dass es den Anschein hatte, der Begriff „psychisch Kranke“ („aliené“ in der französischen Fassung) in Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention sei möglicherweise enger gefasst als der Begriff „psychische Störung“ in § 1 Abs. 1 ThUG (siehe G., a. a. O., Rdnr. 87).

77. In Anbetracht dieser Faktoren hat der Gerichtshof wiederholt Zweifel daran geäußert, dass eine dissoziale Persönlichkeit oder dissoziale Persönlichkeitsstörung einer Person allein als hinreichend schwerwiegend angesehen werden kann, dass sie als „tatsächliche“ psychische Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e eingestuft werden kann (siehe insbesondere K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 21906/09, Rdnrn. 78-80, 19. Januar 2012; B ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61272/09, Rdnrn. 78-80, 19. April 2012; und G., a. a. O., Rdnrn. 88-90).

78. Der Gerichtshof räumt zwar ein, dass die Unterscheidung zwischen „lediglich dissozialem“ Verhalten und psychischen Störungen, die in den Anwendungsbereich von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e fallen, schwierig ist, in der vorliegenden Rechtssache befindet er aber dennoch, dass hinreichende Merkmale dafür vorlagen, dass die psychische Störung des Beschwerdeführers so schwerwiegend war, dass sie als tatsächliche psychische Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e angesehen werden konnte. Zunächst nimmt er die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte (siehe Rdnr. 18) zur Kenntnis, wonach sich die Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers mit ausgeprägt psychopathischen Zügen, wie sie in der ICD-10 definiert ist, durch seinen Alkoholmissbrauch verschlimmerte. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e auch die Freiheitsentziehung bei „Alkoholsüchtigen“ gestattet. Ohne darüber befinden zu müssen, ob die Voraussetzungen dieser eigenständigen Gründe für eine Freiheitsentziehung im Fall des Beschwerdeführers erfüllt waren, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass sich dessen Persönlichkeitsstörung und deren Auswirkungen durch den Alkoholmissbrauch verschlimmerten. Man kann in der Tat sagen, dass sich das Ausmaß seiner Persönlichkeitsstörung in der Art und Weise manifestierte, in der er seine Straftaten beging. Seine Straftaten wurden unter Alkoholeinfluss begangen, betrafen zufällig ausgewählte Opfer und waren durch grundlose Brutalität gekennzeichnet. Der Gerichtshof fügt hinzu, dass er im Hinblick auf die Tatsache, dass der Beschwerdeführer während seiner Zeit in der Sicherungsverwahrung erneut wegen Körperverletzung unter Alkoholeinfluss verurteilt wurde (siehe Rdnr. 12), nicht überzeugt ist, dass bei ihm keine Gefahr des Alkoholmissbrauchs mehr bestand.

79. Darüber hinaus misst der Gerichtshof dem Umstand große Bedeutung zu, dass die innerstaatlichen Behörden die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus bereits im Jahre 2005, also mehrere Jahre vor den angegriffenen Entscheidungen in dem vorliegenden Verfahren, anordneten. Dies deutet darauf hin, dass die innerstaatlichen Behörden der Auffassung waren, dass sein Zustand eine therapeutische Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus erforderte oder eine solche Behandlung seinem Zustand zumindest zuträglich war.

80. Der Gerichtshof ist ferner überzeugt, dass in Übereinstimmung mit seiner Rechtsprechung (siehe Rdnr. 59) die psychische Störung des Beschwerdeführers von einer solchen Art oder Schwere war, dass eine Zwangsunterbringung gerechtfertigt war. Nach den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte bestand eine hochgradige Gefahr, dass er im Falle seiner Entlassung schwerste Gewalttaten begehen würde, insbesondere lebensbedrohliche Angriffe. Überdies hing die Frage, ob die Fortdauer seiner Unterbringung berechtigt war, vom Fortbestehen der psychischen Störung ab. Nach § 67d Abs. 3 StGB, ausgelegt in Übereinstimmung mit den vom Bundesverfassungsgericht festgelegten Anforderungen, konnte die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nur angeordnet werden, wenn und solange eine hochgradige Gefahr bestand, dass er aufgrund dieser Störung im Falle seiner Entlassung weitere schwerste Gewalttaten begehen würde.

81. Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer „psychisch krank“ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e war.

(ii) „Rechtmäßige” Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“

82. Der Gerichtshof muss auch prüfen, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers in einem Krankenhaus, einer Klinik oder sonstigen geeigneten Einrichtung erfolgte, wie es erforderlich ist, damit die Freiheitsentziehung bei einer Person wegen psychischer Krankheit „rechtmäßig“ ist (siehe Rdnr. 64).

83. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in dem erheblichen Zeitraum im Wesentlichen in einer betreuten Einrichtung mit Anbindung an ein psychiatrisches Krankenhaus untergebracht war. Während seines Aufenthalts in dieser Einrichtung wurde er regelmäßig von Personal des Landeskrankehauses M. besucht. Das Ziel seiner Unterbringung in der Einrichtung war, ihn auf die Entlassung vorzubereiten und ihn schrittweise zu resozialisieren, indem er in die Lage versetzt wird, trotz seines psychischen Zustands alleine mit den Anforderungen des täglichen Lebens zurecht zu kommen. Daher wurde die Eignung für psychisch Kranke der Einrichtung, in der er untergebracht war, nicht mehr dadurch in Frage gestellt, dass er dort keine spezielle Behandlung seiner psychischen Störung mehr erhielt.

84. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers auf § 67d Abs. 3 StGB beruhte, der entsprechend der Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 während einer Übergangszeit anwendbar blieb. Folglich war die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers mit dem innerstaatlichen Recht vereinbar (vgl. M. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 264/13, Rdnrn. 63-65, 10. Februar 2015).

85. Ferner war die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers trotz der Tatsache, dass sie zur maßgeblichen Zeit bereits über zwanzig Jahre andauerte, unter den gegebenen Umständen notwendig und daher nicht willkürlich. Die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigten die Tatsache, dass trotz der erheblichen Dauer seiner Sicherungsverwahrung immer noch eine hochgradige Gefahr bestand, dass er im Falle seiner Entlassung weitere schwerste Gewalttaten, etwa schwere Körperverletzung, begehen würde (siehe Rdnr. 19). Nach Ansicht des Gerichtshofs lässt diese Einschätzung keine Unangemessenheit erkennen.

86. Daher erfolgte die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 „rechtmäßig“ und auf die „gesetzlich vorgeschriebene Weise“.

(iii) Schlussfolgerung

87. Folglich ist Artikel 5 Abs.1 der Konvention nicht verletzt worden.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 7 ABS. 1 DER KONVENTION

88. Der Beschwerdeführer rügte, dass die nachträgliche Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung – eine Strafe – über die frühere zehnjährige Höchstdauer hinaus gegen das Verbot der rückwirkenden Bestrafung nach Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verstoße, der wie folgt lautet:

„1. Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“

89. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Die Stellungnahmen der Parteien

90. Die Regierung trug vor, der Beschwerdeführer habe hinsichtlich seiner Rüge nach Artikel 7 Abs. 1 der Konvention den innerstaatlichen Rechtsweg nicht dem Erfordernis aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention entsprechend erschöpft. In seiner Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht habe er weder unter Bezugnahme auf Artikel 7 der Konvention oder die entsprechende Bestimmung des Grundgesetzes (Artikel 103 Abs. 2), noch inhaltlich einen Verstoß gegen das Verbot der rückwirkenden Bestrafung gerügt.

91. Nach Auffassung der Regierung wäre eine Verfassungsbeschwerde, die der Beschwerdeführer hätte in Anspruch nehmen müssen, insoweit ein wirksamer Rechtsbehelf gewesen. Sie räumte ein, dass nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das Verbot der rückwirkenden Bestrafung nicht für die Sicherungsverwahrung gelte, weil diese Maßnahme nach deutschem Recht keine Strafe darstelle. In seinem Leiturteil von 2011 jedoch habe dieses Gericht insoweit dennoch Schutz gewährt, indem es das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot gestärkt habe (siehe Rdnrn. 37 und 42). Deshalb sei der Beschwerdeführer verpflichtet gewesen, sich zumindest inhaltlich auf seine Rechte nach Artikel 7 der Konvention zu berufen.

92. Der Beschwerdeführer äußerte sich zu diesem Punkt nicht.

B. Würdigung durch den Gerichtshof

93. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 35 Abs. 1 der Konvention voraussetzt, dass die Rügen, mit denen Straßburg befasst werden soll, zumindest inhaltlich Gegenstand der Anrufung der zuständigen nationalen Gerichte waren und dass die in den innerstaatlichen Bestimmungen vorgesehenen formalen Anforderungen und Fristen beachtet wurden (siehe Cardot ./. Frankreich, 19. März 1991, Rdnr. 34, Serie A Band 200, Akdivar u. a. ./. Türkei, 16. September 1996, Rdnr. 66, Reports of Judgments and Decisions 1996‑IV, und Vučković u. a. ./. Serbien (prozessuale Einrede) [GK], Individualbeschwerden Nr. 17153/11 und 29 weitere, Rdnr. 72, 25. März 2014).

94. Ein Beschwerdeführer muss Zugang zu den nach der innerstaatlichen Rechtsordnung zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen haben, die in Bezug auf die behauptete Konventionsverletzung wirksam sind (siehe Akdivar, a. a. O. Rdnrn. 65-67, und Gherghina ./. Rumänien (Entsch.) [GK], Individualbeschwerde Nr. 42219/07, Rdnr. 85, 9. Juli 2015). Daher kann nicht von einer mangelnden Rechtswegserschöpfung ausgegangen werden, wenn ein Beschwerdeführer anhand maßgeblicher innerstaatlicher Rechtsprechung oder anderer geeigneter Beweise belegen kann, dass ein verfügbarer Rechtsbehelf, von dem er keinen Gebrauch gemacht hat, keine Aussicht auf Erfolg hatte (siehe u. a., Kleyn u. a. ./. Niederlande [GK], Individualbeschwerden Nrn. 39343/98, 39651/98, 43147/98 und 46664/99, Rdnr. 156, ECHR 2003‑VI). Das Vorliegen eines bloßen Zweifels hinsichtlich der Erfolgsaussichten eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs hingegen entbindet einen Beschwerdeführer nicht von der Verpflichtung, diesen Rechtsbehelf zu erschöpfen (siehe NA. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 25904/07, Rdnr. 89, 17. Juli 2008, und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3300/10, Rdnr. 112, 28. Juni 2012, mit weiteren Nachweisen).

95. Der Gerichtshof stellt fest, dass der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer in seiner Verfassungsbeschwerde vom 24. Oktober 2011 nicht ausdrücklich gerügt hat, dass die nachträgliche Anordnung seiner Sicherungsverwahrung gegen das in Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz und in Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verankerte Verbot der rückwirkenden Bestrafung verstoßen habe. Auch sein Vortrag bezüglich eines Verstoßes gegen sein Freiheitsgrundrecht (siehe Rdnr. 22) kann nicht so ausgelegt werden, dass damit die nachträgliche Verhängung einer schwereren Strafe inhaltlich gerügt wurde.

96. Was die Wirksamkeit einer Verfassungsbeschwerde im Fall des Beschwerdeführers angeht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Leiturteil vom 4. Mai 2011, das mehrere Monate vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers erlassen wurde, seine ständige Rechtsprechung bekräftigte, wonach – entgegen den Feststellungen dieses Gerichtshofs in Bezug auf Artikel 7 der Konvention – die Sicherungsverwahrung nach deutschem Recht keine Strafe darstelle. Folglich erfasse das absolute Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen nach Artikel 103 Abs. 2 Grundgesetz die Sicherungsverwahrung nicht (siehe Rdnr. 41). Bei der Prüfung der Vereinbarkeit der nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung mit dem Freiheitsgrundrecht in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot berücksichtigte das Bundesverfassungsgericht jedoch ausdrücklich die Wertungen u. a. von Artikel 7 der Konvention (siehe Rdnr. 42).

97. Unter diesen Umständen hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt, dass eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, mit der die Frage des Verbots der rückwirkenden Bestrafung zumindest inhaltlich vorgebracht wird, zwangsläufig keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte. Er hat nicht ausgeführt, warum es aussichtslos gewesen wäre, seine Verfassungsbeschwerde bezüglich eines Verstoßes gegen sein Freiheitsgrundrecht – diese Rüge wurde erhoben – dahingehend zu erweitern, dass durch die nachträgliche Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot, das einen Aspekt des Freiheitsgrundrechts darstellt, verletzt worden sei. Ferner hat er nicht dargelegt, warum er vor dem Bundesverfassungsgericht nicht hätte geltend machen können, dass dessen Auslegung des Freiheitsgrundrechts in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot oder dem verfassungmäßigen Verbot der rückwirkenden Bestrafung in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 mit Artikel 7 Abs. 1 der Konvention, wie ihn der Gerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung ausgelegt hat, nicht vereinbar sei.

98. Daraus folgt, dass dem Einwand der Regierung stattzugeben und dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention über die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;

2. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 2. Juni 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                   Ganna Yudkivska
Kanzlerin                                                      Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Dezember 10, 2020 von eurogesetze

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