EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE G. GMBH ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 23646/09)
URTEIL
STRASSBURG
2. Juni 2016
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache G. GmbH ./. DEUTSCHLAND
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Yonko Grozev
und Carlo Ranzoni,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 26. April 2016
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 23646/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, welche die G. GmbH („die Beschwerdeführerin“), eine in C. eingetragene Gesellschaft mit beschränkter Haftung, am 29. April 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Die Beschwerdeführerin wurde von Frau B., Rechtsanwältin in Hamburg, vertreten. Am 30. März 2010 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beschwerdeführerin eröffnet. Das Unternehmen ist nicht im Handelsregister gelöscht. Der Insolvenzverwalter hat die Anwältin der Beschwerdeführerin ermächtigt, das Verfahren vor dem Gerichtshof fortzuführen. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG, „ZVK“, die von der Präsidentin zur Teilnahme am schriftlichen Verfahren ermächtigt worden war, gab eine Stellungnahme als Drittpartei ab (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). Den Parteien wurde Gelegenheit zur Erwiderung auf diese Stellungnahme gegeben (Artikel 44 Abs. 6 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
4. Die Beschwerdeführerin brachte hauptsächlich vor, dass ihre Verpflichtung, sich an einer von den Arbeitgebervereinigungen und der Gewerkschaft im Baugewerbe gemeinsam errichteten Sozialkasse zu beteiligen, eine Verletzung ihres Rechts auf Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 der Konvention und ihres Rechts auf Achtung ihres Eigentums nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention darstelle.
5. Am 19. Juni 2013 wurden die nach Artikel 11 der Konvention und nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 erhobenen Rügen der Regierung übermittelt und die Invidualbeschwerde wurde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS
6. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um ein Unternehmen, das auf die durch Bohrungen erfolgende Entnahme von Bodenproben für geologische Untersuchungen spezialisiert ist, die unter anderem dazu dienen, die Eignung als Baustelle oder zum Brunnenbau zu beurteilen.
A. Die umstrittene Verpflichtung zur Entrichtung von Beiträgen an die Sozialkasse im Baugewerbe
7. Im deutschen Baugewerbe galten eine Reihe von Tarifverträgen, die Regelungen zur sozialen Sicherung von Arbeitnehmern in diesem Bereich beinhalteten (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 21-28). Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes sowie die IG Bauen-Agrar-Umwelt schlossen den Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe, „VTV“. Der VTV enthielt Regeln zu den Beiträgen und Leistungen bei der ZVK wie auch bei der Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft, „ULAK“, die gemeinsam die Sozialkasse im Baugewerbe, allgemein „SOKA-BAU“ genannt, bildeten.
8. Da das Bundesministerium für Arbeit und Soziales den VTV nach § 5 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes für allgemeinverbindlich erklärt hatte, war dieser für alle Arbeitgeber im Baugewerbe verbindlich, auch wenn sie nicht der Arbeitgebervereinigung angehörten (§ 5 Abs. 4 des Tarifvertragsgesetzes, siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 20). Folglich waren alle Arbeitgeber im Baugewerbe verpflichtet, einen Zusatzbeitrag in Höhe von 19,8% des Bruttolohns ihrer Arbeitnehmer an die Sozialkasse zu zahlen.
9. Die Beschwerdeführerin war nicht Mitglied eines zu den Tarifvertragsparteien gehörenden Arbeitgeberverbandes. Sie war daher nicht unmittelbar durch Mitgliedschaft an einen Tarifvertrag gebunden.
10. Am 10. August 2004 übersandte die Sozialkasse der Beschwerdeführerin ein Anschreiben mit den wichtigsten Informationen über die Zusatzversorgungsverfahren einschließlich der zu zahlenden Beiträge und der ihr eventuell zustehenden Leistungen. Die Beschwerdeführerin reagierte nicht auf dieses Anschreiben.
11. Nach weiteren Erkundigungen zur Prüfung der Beitragspflicht übersandte die Sozialkasse der Beschwerdeführerin am 12. April 2005 ein Schreiben, in dem sie ihr mitteilte, dass sie zur Beitragszahlung verpflichtet sei und dass ein Konto eröffnet worden sei, auf das Leistungen eingezahlt würden.
12. Mit Schreiben vom 28. April 2005 wandte sich der Anwalt der Beschwerdeführerin gegen die Erfassung in den Sozialkassen.
B. Das gerichtliche Verfahren
13. Am 11. Oktober 2007 verurteilte das Arbeitsgericht Wiesbaden die Beschwerdeführerin für den Zeitraum von September 2002 bis März 2004 zur Zahlung rückständiger Beiträge in Höhe von 63.625,58 Euro an die ZVK. Die Beschwerdeführerin wurde außerdem verurteilt, Kopien der Lohnabrechnungen ihrer Beschäftigten für den Zeitraum von Januar 2006 bis Juni 2007 vorzulegen. Das Arbeitsgericht war der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin an den VTV gebunden sei, der für alle Arbeitgeber im Baugewerbe verbindlich sei, auch wenn sie keinem der Arbeitgeberverbände angehörten. Die Tätigkeiten der Beschwerdeführerin fielen in den Anwendungsbereich des VTV, der in § 1 Abs. 2 Abschnitt V Nr. 6 Bohrarbeiten als eine in seinen Anwendungsbereich fallende Tätigkeit aufliste.
14. Die Beschwerdeführerin legte Berufung ein und trug darin insbesondere vor, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV gegen ihr Recht auf negative Koalitionsfreiheit verstoße. Sie sei verpflichtet, Beiträge an einen vom Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft gemeinsam errichteten Fonds abzuführen, obwohl sie keiner der beiden Vereinigungen angehöre. Ferner rügte die Beschwerdeführerin, dass sie aufgrund fehlender Mittel daran gehindert sei, eine eigene Vereinigung zu gründen.
15. Am 27. Juni 2008 wies das Hessische Landesarbeitsgericht die Berufung der Beschwerdeführerin zurück und ließ die Revision nicht zu. Es schloss sich der Urteilsbegründung des Arbeitsgerichts an und stellte zudem fest, dass die Allgemeinverbindlichkeit des VTV die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Recht auf Vereinigungsfreiheit verletze. Die Allgemeinverbindlicherklärung führe weder zu einer Zwangsmitgliedschaft in einem der Arbeitgeberverbände noch zu einer Zwangsmitgliedschaft in der Sozialkasse. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 15. Juli 1980, 1BvR 24/74, siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 27) räumte das Landesarbeitsgericht ein, dass die Beschwerdeführerin, die keinem der Arbeitgeberverbände angehöre, dahingehend im Nachteil sei, dass sie ihre Interessen nicht durch eine Kontrolle der Tätigkeiten der Sozialkasse über die Berufsverbände wahrnehmen könne. Das Recht auf Teilhabe an den Entscheidungsprozessen dieser Verbände stehe nur den Mitgliedern des jeweiligen Verbandes zu. Soweit sich daraus ein gewisser Druck ergebe, Mitglied eines der Arbeitgeberverbände zu werden, sei dieser nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit verletzt sei.
16. Das Landesarbeitsgericht war darüber hinaus der Auffassung, dass die Verpflichtung, Beiträge an die Sozialkasse zu zahlen, die Beschwerdeführerin nicht an der Bildung ihrer eigenen Koalition hindere. Es stellte fest, dass der überwiegende Anteil der zu zahlenden Beträge bei ordnungsgemäßer Meldung an die Beschwerdeführerin zurückerstattet werde.
17. Schließlich war das Landesarbeitsgericht der Auffassung, dass die Pflicht zur Beitragszahlung an die Sozialkasse der hohen Mitarbeiterfluktuation in der Bauindustrie Rechnung trage und dem öffentlichen Interesse an einer Abwicklung von Ansprüchen der Arbeitnehmer durch die Sozialkassen diene, wodurch Wettbewerbsverzerrungen vermieden würden.
18. Am 10. Dezember 2008 verwarf das Bundesarbeitsgericht die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin.
19. Am 5. Februar 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 243/09).
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Allgemeinverbindliche Tarifverträge im Baugewerbe
20. § 5 des Tarifvertragsgesetzes, der die gesetzliche Grundlage für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen bildete und das Verfahren und die Folgen der Allgemeinverbindlicherklärung darlegte, sah vor:
„(1) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuß auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklären, wenn
1. die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht weniger als 50 vom Hundert der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und
2. die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.
Von den Voraussetzungen der Nummern 1 und 2 kann abgesehen werden, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung zur Behebung eines sozialen Notstands erforderlich erscheint.
(2) Vor der Entscheidung über den Antrag ist Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffen werden würden, den am Ausgang des Verfahrens interessierten Gewerkschaften und Vereinigungen der Arbeitgeber sowie den obersten Arbeitsbehörden der Länder, auf deren Bereich sich der Tarifvertrag erstreckt, Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben.
(3) Erhebt die oberste Arbeitsbehörde eines beteiligten Landes Einspruch gegen die beantragte Allgemeinverbindlicherklärung, so kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dem Antrag nur mit Zustimmung der Bundesregierung stattgeben.
(4) Mit der Allgemeinverbindlicherklärung erfassen die Rechtsnormen des Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
(5) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags im Einvernehmen mit dem in Absatz 1 genannten Ausschuss aufheben, wenn die Aufhebung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Die Absätze 2 und 3 gelten entsprechend.
(6) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann der obersten Arbeitsbehörde eines Landes für einzelne Fälle das Recht zur Allgemeinverbindlicherklärung sowie zur Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit übertragen.
(7) Die Allgemeinverbindlicherklärung und die Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung bedürfen der öffentlichen Bekanntmachung.“
21. Im Baugewerbe galten eine Reihe von Tarifverträgen, die Regelungen zur sozialen Sicherung von Arbeitnehmern in diesem Bereich beinhalteten. Diese Verträge trugen den besonderen Arbeitsbedingungen im Baugewerbe Rechnung, insbesondere folgenden: Die Arbeit am Bau war überwiegend witterungsabhängig; das Baugewerbe war erheblichen Auftragsschwankungen unterworfen, konnte jedoch nicht im Voraus produzieren, so dass eine geringe Nachfrage zwangsläufig zu Auftragslücken führte; die Fluktuation der Arbeitnehmer zwischen verschiedenen Baubetrieben war generell hoch; und die Mehrheit der Arbeitnehmer im Baugewerbe schied vor Erreichen des Rentenalters aus dem Arbeitsleben aus. Dies führte dazu, dass Arbeitnehmer im Baugewerbe nicht in der Lage waren, bei einem einzigen Arbeitgeber die Voraussetzungen für den Erhalt sozialer Leistungen zu erfüllen.
22. Um die Arbeitnehmer im Baugewerbe vor diesen Nachteilen zu schützen und ihnen gewissen soziale Mindestleistungen zu garantieren, wurden über Tarifverträge ergänzende Sozialkassen eingeführt. Bei den einschlägigen Tarifverträgen handelte es sich um den Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV), der u. a. die Ansprüche von Arbeitnehmern im Baugewerbe auf bezahlten Urlaub regelte, den Tarifvertrag über Rentenbeihilfen im Baugewerbe (TVR), den Tarifvertrag über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV) und den VTV.
23. Der Urlaubskasse und der Zusatzversorgungskasse war gemein, dass sie die Anknüpfung an das konkrete Arbeitsverhältnis aufhoben und stattdessen auf die Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zur Branche abstellten. Wenn der Arbeitnehmer von einem Arbeitgeber des Baugewerbes zu einem anderen Arbeitnehmer des Baugewerbes wechselte, blieben seine Ansprüche bestehen. Betriebszugehörigkeiten des Arbeitnehmers in verschiedenen Betrieben des Baugewerbes wurden zusammengerechnet.
24. Alle Arbeitgeber im Geltungsbereich der betreffenden allgemeinverbindlichen Tarifverträge waren verpflichtet, Beiträge an die genannten Sozialkassen zu entrichten. Diese Beiträge wurden benutzt, um den Unternehmen, welche die entsprechenden Leistungen an die Arbeitnehmer erbrachten, die dafür angefallen Kosten zu erstatten. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Arbeitgeber im Baugewerbe die sozialen Leistungen für die in diesem Bereich beschäftigten Arbeitnehmer solidarisch finanzierten.
25. Diese Sozialkassenverfahren werden auf Grund der jeweils geltenden allgemeinverbindlichen Tarifverträge seit vielen Jahrzehnten durchgeführt: Das Urlaubsverfahren wurde 1949 eingeführt, die Zusatzversorgung 1957, die Ausbildungsförderung 1975.
26. 1965 befand das Bundesarbeitsgericht die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge, die dem Sozialkassenverfahren zugrunde liegen, für zulässig (Urteile vom 3. Februar 1965, Az. 4 AZR 483/62 und 4 AZR 385/63).
27. 1980 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge über die Sozialkassen nicht gegen das Grundgesetz verstößt (Beschluss vom 15. Juli 1980, Az. 1 BvR 24/74 und 1 BvR 439/79). Es stellte insbesondere fest, dass der auf ein Unternehmen ausgeübte Druck, Mitglied einer Koalition zu werden, die Vertragspartei der entsprechenden Tarifvereinbarungen ist, um durch eine Kontrolle der Tätigkeiten der Sozialkassen seine Interessen wahrnehmen zu können, keine Verletzung des Rechts auf negative Koalitionsfreiheit darstelle. Das Bundesverfassungsgericht hat die Leitlinien dieser Entscheidung in einer jüngeren Entscheidung (Beschluss vom 11. Juli 2006, 1BvL 4/00) bestätigt und festgestellt, dass ein bloßer Anreiz, einer Koalition beizutreten, noch keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit darstelle.
28. Der Allgemeinverbindlicherklärung dieser Tarifvereinbarungen ging jeweils das nach § 5 TVG vorgeschriebene Verfahren voraus.
B. Die Sozialkasse im Baugewerbe („SOKA-BAU“)
29. Der VTV enthielt Regeln zu den Beiträgen und Leistungen bei der ZVK und der ULAK, die gemeinsam die Sozialkasse im Baugewerbe, allgemein „SOKA-BAU“ genannt, bildeten. Die ZVK und die ULAK waren für die Verwaltung und Durchführung der oben genannten Sozialkassenverfahren, wie sie in den allgemeinverbindlichen Tarifverträgen des Baugewerbes geregelt waren, verantwortlich.
30. Die Sozialkasse im Baugewerbe begründete keine Mitgliedschaft eines in den Anwendungsbereich der Sozialkasse fallenden Arbeitgebers oder Arbeitnehmers in dieser Einrichtung und sah eine solche Mitgliedschaft auch nicht vor. Die einzigen Mitglieder der ZVK waren der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes sowie die Gewerkschaft des Baugewerbes (IG Bauen-Agrar-Umwelt). Der ULAK gehörten außerdem regionale Arbeitgeberverbände an.
31. Die ZVK war im für die vorliegende Rechtssache relevanten Zeitraum für den Einzug der Beiträge zum Urlaubsverfahren, zur Finanzierung der Rentenbeihilfen und zur Finanzierung der überbetrieblichen Berufsbildung im Baugewerbe verantwortlich. Sie war auch für die Durchführung des Rentenbeihilfeverfahrens zuständig. Für das Urlaubsverfahren und die Abwicklung der Ausbildungsfinanzierung war jedoch die ULAK zuständig.
32. Darüber hinaus verwalteten und erbrachten die ZVK und die ULAK weitere, optionale Leistungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Diese Leistungen waren nicht Teil der anwendbaren Tarifverträge und wurden nicht aus den Beiträgen nach dem VTV finanziert.
33. Seit 21. Dezember 2007 wurde die Sozialkasse in Form einer Aktiengesellschaft betrieben. Vor dem 21. Dezember 2007, zu der für die vorliegende Rechtssache maßgeblichen Zeit, war die ZVK als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit organisiert, einer besonderen Rechtsform des Privatrechts, die es nur im Versicherungsbereich gibt. Die ULAK war als wirtschaftlicher Verein nach § 22 des Bürgerlichen Gesetzbuchs organisiert.
34. Die durch die ZVK erbrachten Leistungen stellten nach innerstaatlichem Recht ein Versicherungsprodukt dar. Daher unterstand die ZVK der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Auch die ULAK unterlag der staatlichen Aufsicht, die durch die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden wahrgenommen wurde.
35. Nach ihren Satzungen durften weder die ZVK noch die ULAK Gewinne erzielen oder ausschütten. Die erhaltenen Beiträge durften nur zur Abwicklung und Finanzierung der Sozialkassenverfahren und zur Auszahlung der entsprechenden Leistungen verwandt werden. Gewinne durften nur zur Bildung von Rücklagen verwendet werden.
36. Wenn sich ein Betrieb bei den Sozialkassen anmeldete oder die Sozialkassen auf anderem Wege von der Existenz eines Baubetriebes erfuhr, erhielt das Unternehmen ein Anschreiben, in dem die Sozialkassenverfahren einschließlich der damit verbundenen Erstattungen kurz skizziert wurden. Darüber hinaus war diesem Anschreiben eine Broschüre mit Informationen über die an die Arbeitnehmer gezahlten Leistungen und die Rückerstattung an die Arbeitgeber beigelegt. Die Broschüre bot auch einen Überblick über die Rechtsgrundlagen der Sozialkassenverfahren. Es wurde auf die Internetseite „www.soka-bau.de“ sowie auf weitere telefonische oder elektronische Informationsangebote hingewiesen.
37. Sofern die Prüfungen der Sozialkassen ergaben, dass ein Betrieb von den entsprechenden Tarifverträgen erfasst wurde, erhielt der Betrieb hierüber eine schriftliche Mitteilung. Dieser waren zusätzliche Informationen u. a. über die Leistungen der ZVK und der ULAK, die entsprechenden Sozialkassenverfahren, die Aufgaben der ZVK und der ULAK und die Verwendung der Beiträge beigefügt. Darüber hinaus wurde dem Unternehmen eine kostenlose persönliche Beratung vor Ort angeboten.
38. Bezüglich der Berichterstattung ist festzustellen, dass die ZVK und die ULAK jeweils jährliche Geschäftsberichte zur Verfügung stellten, in denen sie Rechenschaft über ihre Tätigkeiten und die konkrete Verwendung der Beitragsmittel ablegten. Seit 2004 erstellten sie neben den einzelnen Geschäftsberichten auch einen gemeinsamen Jahresgeschäftsbericht.
39. Der Jahresgeschäftsbericht der ZVK wurde im Bundesanzeiger veröffentlicht. Ab 2002 konnten die jährlichen Geschäftsberichte der ZVK und der ULAK auch von der Internetseite der Sozialkassen heruntergeladen werden. Sobald ein neuer Jahresgeschäftsbericht erschien, wurden die bei den Sozialkassen erfassten Betriebe angeschrieben und hierüber informiert. Diese Schreiben wiesen nicht nur auf die Möglichkeit hin, die Jahresgeschäftsberichte herunterzuladen, sondern enthielten auch ein Anforderungsformular, mit dem sich der Betrieb gedruckte Exemplare zuschicken lassen konnte.
40. Die jährlichen Geschäftsberichte erläuterten die Aufgaben der Sozialkassen und enthielten Darstellungen über deren Einnahmen und Ausgaben. Die entsprechenden Informationen waren sehr detailliert (z. B. führte der Bericht der ZVK hinsichtlich der Rentenbeihilfen die Zahl der Rentenempfänger, die Aufwendungen für die Rentenzahlungen, die durchschnittliche Höhe der Rentenbeihilfe und die Entwicklung im Vergleich zum Vorjahr auf). Die Berichte enthielten auch Informationen über die Personalkosten der ZVK und der ULAK. Die Jahresberichte, einschließlich der Bilanzen, wurden entsprechend den einschlägigen innerstaatlichen Vorschriften erstellt und von Wirtschaftsprüfern auditiert. Aus den Jahresberichten ging hervor, dass die Sozialkasse keine Gewinne erwirtschafteten. Erwirtschaftete Überschüsse flossen vor allem in Rückstellungen. Diese Informationen wurden den zur Zahlung der Beiträge verpflichteten Unternehmen übermittelt, unabhängig davon, ob ein bestimmter Betrieb Mitglied einer der Tarifvertragsparteien war.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 11 DER KONVENTION
41. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Pflicht, sich an der Sozialkasse im Baugewerbe zu beteiligen, ihr Recht auf Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 der Konvention verletze. Artikel 11, soweit einschlägig, lautet:
„1. Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.
2. Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind … zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. …“
42. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
43. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Die Beschwerdeführerin
44. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass ein Eingriff in ihr Recht auf negative Vereinigungsfreiheit vorliege, weil sie dieselbe Pflicht zur Zahlung von Beiträgen an die Sozialkasse habe wie ein Mitglied eines der Arbeitgeberverbände, ohne jedoch die Möglichkeit zu haben, die Wahrnehmung ihrer Interessen durch die Organisation zu kontrollieren. Hierdurch werde sie einem erheblichen Druck ausgesetzt, zur Vertretung ihrer Interessen einem der Arbeitgeberverbände beizutreten.
45. Darüber hinaus brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sie über die Verpflichtung, sich an der Sozialkasse zu beteiligen, und über ihre entsprechenden Rechte und Pflichten nicht angemessen informiert worden sei. Die von der Sozialkasse veröffentlichten Bilanzen böten keine Klarheit und enthielten keine hinreichenden Informationen über die Verwendung der Arbeitgeberbeiträge.
46. Die Beschwerdeführerin brachte weiter vor, dass die Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen sie daran hindere, eine eigene Arbeitgeberkoalition zu gründen, und somit einen Eingriff in ihr Recht auf positive Koalitionsfreiheit darstelle.
(b) Die Regierung
47. Die Regierung bestritt, dass ein Eingriff in das in Artikel 11 der Konvention verankerte Recht der Beschwerdeführerin auf negative Koalitionsfreiheit vorgelegen habe. Sie brachte vor, dass die Beschwerdeführerin lediglich verpflichtet sei, Beiträge zur Sozialkasse zu leisten, die für die Erbringung von Leistungen an Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Baugewerbe verwendet würden. Die Beschwerdeführerin werde aufgrund der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV nicht Mitglied der Sozialkasse und auch nicht Mitglied eines der Arbeitgeberverbände, die den VTV abgeschlossen hätten, und werde zu einer solchen Mitgliedschaft auch nicht verpflichtet. Ihr drohten im Falle des Nichtbeitritts auch keine Sanktionen oder sonstige Nachteile. Damit bestehe für die Beschwerdeführerin kein Zwang zum Beitritt zu einer Koalition.
48. Die Regierung brachte weiter vor, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV für die Beschwerdeführerin keinen Anreiz schaffe, einer der Parteien des VTV beizutreten, weil die Regelungen des Vertrags bei ihr ohnehin zur Anwendung kämen. Selbst wenn man annehme, dass für die Beschwerdeführerin ein faktischer Anreiz bestehe, einer Arbeitgebervereinigung beizutreten, sei dieser Anreiz nicht stark genug, um einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin darzustellen, einer Koalition nicht gegen ihren Willen beitreten zu müssen.
49. Die Regierung brachte weiter vor, dass die Beitragspflicht zu den Sozialkassen der Beschwerdeführerin in keiner Weise das Recht nehme, eine Koalition zu gründen, sie zu fördern oder einer bestehenden Koalition beizutreten. Soweit die Beschwerdeführerin geltend mache, wegen der Beitragspflicht zu den Sozialkassen nicht über die dazu notwendigen finanziellen Mittel zu verfügen, sei zu betonen, dass der Beitragspflicht ein Anspruch auf Leistungen gegen die Sozialkasse gegenüberstehe. Dementsprechend habe die Beschwerdeführerin auch eine Erstattung von 100.000 Euro für das an ihre Arbeitnehmer gezahlte Urlaubsgeld beantragt. Die von der Beschwerdeführerin beantragten Erstattungen würden mit den geschuldeten Beiträge verrechnet. Die Regierung brachte auch vor, dass zwischen der Beitragszahlung und der vermeintlichen Einschränkung des Rechts der Beschwerdeführerin auf Koalitionsfreiheit keine unmittelbare Verbindung bestehe.
(c) Drittbeteiligte
50. Die ZVK übermittelte Informationen über die aus der ZVK und der ULAK bestehende Sozialkasse im Baugewerbe, insbesondere im Hinblick auf den Anwendungsbereich des VTV und die sich daraus ergebende Pflicht der davon erfassten Arbeitgeber, sich an der Sozialkasse zu beteiligen, über die Beiträge der Beschwerdeführerin im maßgeblichen Zeitraum und über die Zahlungen der Sozialkassen an Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Zusammenhang mit, unter anderem, dem Urlaubsverfahren, der Ausbildungsfinanzierung und dem Rentenbeihilfeverfahren. Sie brachte vor, dass all diese Leistungen durch die Beiträge der Arbeitgeber finanziert würden, und erläuterte die Anspruchs- und Rückerstattungsvoraussetzungen. Die ZVK übermittelte darüber hinaus Informationen zu ihren übrigen Tätigkeitsbereichen, ihren Personalkosten und ihrer Berichterstattung.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
51. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Vereinigungsfreiheit ein gewisses Maß an Wahlfreiheit hinsichtlich ihrer Wahrnehmung impliziert und sowohl das positive Recht, eine Vereinigung zu gründen und einer Vereinigung beizutreten, als auch das negative Recht, nicht zum Beitritt zu einer Vereinigung gezwungen zu werden, beinhaltet (Sigurður A. Sigurjónsson ./. Island, 30. Juni 1993, Rdnr. 35, Serie A Band 264; Vörður Ólafsson ./. Island, Individualbeschwerde Nr. 20161/06, Rdnr. 45, ECHR 2010). Die Verpflichtung, einer bestimmten Vereinigung beizutreten, muss zwar nicht immer konventionswidrig sein, wird jedoch, wenn sie eine Form annimmt, die unter den Umständen des Falles die Substanz der durch Artikel 11 garantierten Vereinigungsfreiheit angreift, einen Eingriff in diese Freiheit darstellen (siehe Gustafsson ./. Schweden, 25. April 1996, Rdnr. 45, Reports of Judgments and Decisions 1996-II).
52. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass es der Beschwerdeführerin rechtlich nicht möglich war, Mitglied der von dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie und dem Zentralverband des Deutschen Baugewerbes sowie der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt eingerichteten Sozialkasse zu werden. Sie war auch nicht dazu verpflichtet, einem dieser beiden Arbeitgeberverbände beizutreten.
53. Die Beschwerdeführerin machte einen Eingriff in ihr Recht auf negative Vereinigungsfreiheit vielmehr deshalb geltend, weil sie infolge der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV zur Zahlung von Beiträgen an die Soziallkasse verpflichtet war. Diesbezüglich ist zu entscheiden, ob, diese Verpflichtung, wie die Beschwerdeführerin vorbringt, einer Zwangsmitgliedschaft gleichkommt, die das Recht auf negative Koalitionsfreiheit, also ihr Recht, nicht gegen ihren Willen einer der Arbeitgebervereinigungen beitreten zu müssen, beeinträchtigt. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen mit dem Beitritt zu einer Vereinigung ein wichtiges Merkmal gemein haben und einen Eingriff in das Recht auf negative Koalitionsfreiheit darstellen kann (Vörður Ólafsson, a. a. O., Rdnr. 48).
54. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführerin, basierend auf dem Grundgedanken der Solidarität, im Interesse aller Arbeitnehmer im Baugewerbe zur Zahlung von Beiträgen an die Sozialkasse verpflichtet war (siehe im Gegensatz dazu Vörður Ólafsson, a. a. O., Rdnr. 51). Er stellt fest, dass die betreffenden Tarifverträge auf eine Allgemeinverbindlicherklärung ausgelegt waren. Die beabsichtigte soziale Absicherung aller Arbeitnehmer in dieser Branche wäre nicht zu erreichen, wenn nur die auf Grund ihrer Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband tarifgebundenen Arbeitgeber teilnehmen müssten. Um den beabsichtigten sozialen Schutz zu gewährleisten, setzten die Sozialkassen voraus, dass alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Baugewerbe, vor allem die nicht-tarifgebunden, in das Sozialkassenverfahren einbezogen wurden. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Beiträge der Beschwerdeführerin ausschließlich zur Verwaltung und Durchführung dieser Verfahren und zur Auszahlung der entsprechenden Leistungen verwendet werden durften. Außerdem boten die ZVK und die ULAK den Arbeitgebern und Arbeitnehmern unabhängig davon, ob der Arbeitgeber einem Arbeitgeberverband angehörte, optionale Leistungen an (siehe„ Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 32). Die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Beiträge können daher nicht als Mitgliedsbeiträge angesehen werden. Darüber hinaus stand der Beitragspflicht ein Anspruch der Beschwerdeführerin gegen die Sozialkasse gegenüber.
55. Der Gerichtshof berücksichtigt darüber hinaus, dass die Mitglieder der Vereinigungen, die die Sozialkasse gründeten, weder geringere Beiträge zahlten noch an anderer Stelle besser gestellt wurden als die Nichtmitglieder (siehe, im Gegensatz dazu, Vörður Ólafsson, a. a. O., Rdnrn. 48, 52). Die Mitglieder dieser Vereinigungen hatten auch keine direkte Kontrolle über die Verwendung der an die Sozialkassen gezahlten Beiträge, sondern konnten ihren Einfluss nur über diese Vereinigungen geltend machen. Darüber hinaus erhielten alle Unternehmen, die Beiträge an die Sozialkassen zahlten, unabhängig davon, ob sie einer Arbeitgebervereinigung angehörten, umfassende Informationen über ihre Rechte und Pflichten sowie jährliche Geschäftsberichte mit Informationen über die Verwendung der Beiträge (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 36-40). Nichtmitglieder von Arbeitgebervereinigungen waren daher hinsichtlich der Transparenz und der Rechenschaftspflicht nicht schlechter gestellt als Mitglieder (siehe, im Gegensatz dazu, Vörður Ólafsson, a. a. O., Rdnrn. 81-82).
56. Letztendlich beruhte die Verpflichtung der Beschwerdeführerin, Beiträge zur Sozialkasse zu zahlen, auf der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV, eines Tarifvertrags im Baugewerbe, durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Die Einrichtung der Sozialkasse, an welche die Beschwerdeführerin Beiträge zahlen musste, also die ZVK, unterstand der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 34). Daher lag ein hohes Maß an Beteiligung und Aufsicht seitens der öffentlichen Behörden vor (siehe, im Gegensatz dazu, Vörður Ólafsson, a. a. O., Rdnr. 49).
57. Es trifft zu, dass die Verpflichtung, Beiträge an die Sozialkasse zu zahlen, als faktischer Anreiz für die Beschwerdeführerin betrachtet werden könnte, einer der Arbeitgebervereinigungen im Baugewerbe beizutreten, um an den Entscheidungsprozessen dieser Vereinigung beteiligt zu werden und ihre Interessen im Wege der Kontrolle der Tätigkeiten der Sozialkasse wahrzunehmen. Im Lichte der obigen Ausführungen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass dieser faktische Anreiz zu schwach ist, um die Substanz der durch Artikel 11 der Konvention garantierten Koalitionsfreiheit zu treffen, und daher keinen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin darstellt, nicht gegen ihren Willen einer Vereinigung beitreten zu müssen.
58. Soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, es habe einen Eingriff in ihr Recht auf positive Koalitionsfreiheit gegeben, stellt der Gerichtshof fest, dass die Beitragspflicht zu den Sozialkassen der Beschwerdeführerin in keiner Weise das Recht nahm, eine Koalition zu gründen, sie zu fördern oder einer bestehenden Koalition beizutreten. Soweit die Beschwerdeführerin geltend gemacht hat, wegen der Beitragspflicht zu den Sozialkassen nicht über die dazu notwendigen finanziellen Mittel zu verfügen, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beitragspflicht der Beschwerdeführerin ein Anspruch auf Leistungen gegen die Sozialkasse gegenüberstand.
59. Dementsprechend ist der Gerichtshof der Auffassung, dass in der vorliegenden Rechtssache keine Verletzung von Artikel 11 der Konvention vorliegt.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 1 DES PROTOKOLLS Nr. 1 ZUR
KONVENTION
60. Die Beschwerdeführerin rügte auch, dass ihre Pflicht zur Zahlung von Beiträgen an die Sozialkasse ihr Recht auf Achtung ihres Eigentums aus Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention verletze; dieser Artikel lautet:
„Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.
Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“
61. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
62. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge mit der vorstehend bereits geprüften Rüge verknüpft ist und daher ebenfalls für zulässig zu erklären ist.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Die Beschwerdeführerin
63. Die Beschwerdeführerin brachte insbesondere vor, dass ihre Tätigkeiten nicht unter den VTV fielen, und dass die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV nicht im Interesse der Allgemeinheit liege. Außerdem müsse sie höhere Löhne zahlen als Wettbewerber, die keine Beiträge zur Sozialkasse entrichten müssten. Sie behauptete, dass die Pflicht zur Zahlung von 63.625,58 EUR an die Sozialkasse sie in die Insolvenz getrieben habe.
(b) Die Regierung
64. Die Regierung brachte vor, es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Pflicht der Beschwerdeführerin, Beiträge an die Sozialkassen abzuführen, ihr Eigentum an beweglichen Sachen oder Immobilien oder bestimmte ihr zustehende dingliche oder schuldrechtliche Rechte berühre. Sie argumentierte, dass allenfalls das Vermögen der Beschwerdeführerin berührt sei, weil es sich durch die Beitragspflichten zunächst vermindere, und dass das Vermögen als solches nicht in den Schutzbereich von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 falle. Darüber hinaus stehe der Beitragspflicht ein Rückerstattungsanspruch der Beschwerdeführerin gegen die Sozialkasse gegenüber. Außerdem sei die Allgemeinverbindlicherklärung der Sozialkassentarifverträge im Allgemeininteresse geboten und liege innerhalb des Beurteilungsspielraums, der den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik zustehe.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
65. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass ein Eingriff rechtmäßig, im Allgemeininteresse und verhältnismäßig sein muss, um mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 vereinbar zu sein; d. h. es muss ein gerechter Ausgleich zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses und den Anforderungen des Schutzes der Grundrechte des Einzelnen herbeigeführt werden (siehe u. v. a., Beyeler ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 33202/96, Rdnr. 107, ECHR 2000‑I; Zammit und Attard Cassar ./. . Malta, Individualbeschwerde Nr. 1046/12, Rdnr. 47, 30. Juli 2015).
(a) Gab es einen Eingriff?
66. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 auf Pflichtbeiträge zu Sozialversicherungssystemen anwendbar ist (Fratrik ./. Slowakei (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 51224/99, 25. Mai 2004), und stellt fest, dass die Pflicht zur Beitragszahlung an die Sozialkasse einen Eingriff in das durch Artikel 1 Abs. 1 Satz 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention garantierte Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Eigentums darstellte.
(b) Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit
67. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Pflicht der Beschwerdeführerin zur Zahlung von Beiträgen an die Sozialkasse im Baugewerbe auf der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gemäß dem nach § 5 TVG vorgeschriebenen Verfahren beruhte (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 20, 25-28). Der Gerichtshof berücksichtigt weiter, dass Bohrarbeiten nach der gefestigten Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte unter den VTV fielen. Er weist darauf hin, dass zwischen den Parteien zwar streitig ist, ob die Bedingungen für die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV zur maßgeblichen Zeit erfüllt waren und ob die Beschwerdeführerin in den Anwendungsbereich des VTV fiel, sieht jedoch keinen Grund, die Feststellung der innerstaatlichen Gerichte, die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV sei mit innerstaatlichem Recht vereinbar und die Beschwerdeführerin falle in seinen Anwendungsbereich, in Frage zu stellen. Es ist in erster Linie Aufgabe der innerstaatlichen Behörden, namentlich der Gerichte, die innerstaatlichen Gesetze auszulegen und anzuwenden (siehe Vörður Ólafsson, a. a. O., Rdnr. 72, mit weiteren Nachweisen). Der Gerichtshof ist daher davon überzeugt, dass es im innerstaatlichen Recht eine hinreichend klare Rechtsgrundlage gab, aufgrund derer die Beschwerdeführerin vorhersehen konnte, dass sie aufgrund ihres Tätigkeitsfelds die entsprechenden Beiträge zu zahlen hatte.
(c) Das Ziel des Eingriffs
68. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge im Baugewerbe und die sich daraus ergebende Pflicht aller Arbeitgeber in diesem Bereich, Beiträge an die Sozialkasse zu zahlen, das Ziel verfolgte, allen Arbeitnehmern in diesem Bereich, insbesondere den nicht tarifgebundenen, eine gewisses Maß an sozialer Sicherheit zu garantieren. Die genannten Tarifverträge trugen den besonderen Arbeitsbedingungen im Baugewerbe Rechnung und stellten unter anderem sicher, dass die Arbeitnehmer allein aufgrund ihrer Tätigkeit im Baugewerbe, unabhängig davon, ob sie innerhalb eines Jahres den Arbeitgeber wechselten, einen zusammenhängenden Jahresurlaub nehmen konnten, und dass Nachteile hinsichtlich des Erwerbs von Rentenversicherungsansprüchen ausgeglichen wurden. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Eingriff ein rechtmäßiges Ziel „im Einklang mit dem Allgemeininteresse“ verfolgte und insbesondere der sozialen Absicherung aller Beschäftigten im Baugewerbe diente.
(d) Wurde ein gerechter Ausgleich hergestellt?
69. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rechtssache Fragen hinsichtlich der Gestaltung der Sozial- und Wirtschaftspolitik betrifft, und erinnert daran, dass die Vertragsstaaten in diesem Bereich einen großen Beurteilungsspielraum haben (siehe Zolotas ./. Griechenland (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 66610/09, Rdnr. 44, ECHR 2013 (Auszüge); Fratrik, a. a. O.; Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. Niederlande, 23. Februar 1995, Rdnr. 60, Serie A Band 306‑B). Der Gerichtshof wird die Einschätzung der nationalen Behörden in diesem Bereich respektieren, sofern diese nicht offensichtlich einer Grundlage entbehrt.
70. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Sozialkassen zur Gewährleistung des beabsichtigten sozialen Schutzes voraussetzten, dass alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Baugewerbe, vor allem die nicht-tarifgebunden, in das Sozialkassenverfahren einbezogen wurden. Die Sozialkassen beruhten auf dem Grundgedanken der Solidarität aller Arbeitgeber im Baugewerbe im Interesse der Arbeitnehmer in diesem Bereich.
71. Der Gerichtshof stellt auch fest, dass die von der Beschwerdeführerin und anderen Arbeitgebern entrichteten Beiträge nur für die Auszahlung der entsprechenden Sozialleistungen an die Beschäftigten und für Rückerstattungen an die Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten entsprechende Leistungen geboten hatten, verwandt werden durften. Tatsächlich hatte die Beschwerdeführerin für Leistungen, die sie ihren Beschäftigten gewährt hatte, auch Anspruch auf Rückerstattungen aus der Sozialkasse, die mit den geschuldeten Beträgen verrechnet wurden.
72. Außerdem entstanden der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Sozialkasse weder finanzielle noch sonstige Nachteile gegenüber Unternehmen, die Mitglieder der zu den Tarifparteien gehörenden Arbeitgebervereinigungen waren. Der Gerichtshof stellt fest, dass Unternehmen, die Beiträge an die Sozialkassen entrichteten, unabhängig davon, ob sie einer Arbeitgebervereinigung angehörten, umfassende Informationen über ihre Rechte und Pflichten sowie jährliche Geschäftsberichte mit Informationen über die Verwendung der Beiträge erhielten (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 36-40). Die Sozialkasse, zu der die ZVK und die ULAK gehörten, deren Abschlüsse einer Wirtschaftsprüfung unterzogen wurden und die unter staatlicher Aufsicht standen, erfüllte daher die Transparenz- und Rechenschaftsanforderungen (siehe, im Gegensatz dazu, Evaldsson und andere ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 75252/01, Rdnrn. 62-64, 13. Februar 2007).
73. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Eingriff in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig war, da er zwischen dem Interesse an der sozialen Absicherung aller Arbeitnehmer im Baugewerbe einerseits und dem Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Eigentums andererseits einen gerechten Ausgleich erzielt hat. Die innerstaatlichen Behörden handelten innerhalb ihres im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik breiten Gestaltungsspielraums.
74. Dementsprechend ist der Gerichtshof der Auffassung, dass in der vorliegenden Rechtssache keine Verletzung von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention vorliegt.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird im Übrigen für zulässig erklärt;
2. Artikel 11 der Konvention ist nicht verletzt worden;
3. Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 2. Juni 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Ganna Yudkivska
Kanzlerin Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Dezember 10, 2020 von eurogesetze
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