Gericht: OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat
Entscheidungsdatum: 18.08.2021
Aktenzeichen: OVG 3 S 66/21
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0818.OVG3S66.21.00
Dokumententyp: Beschluss
Normen: Art 15 Abs 2 EGRL 86/2003, § 36 Abs 1 AufenthG, § 32 AufenthG
Tenor
In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat am 18. August 2021 beschlossen:
Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 24. Juni 2021 wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten der Beschwerde mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, das allein Gegenstand der Prüfung durch das Oberverwaltungsgericht ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt es nicht, den angefochtenen Beschluss zu ändern, mit dem das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern zu 2 und 3 vorläufig Visa zum Familiennachzug zu dem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Antragsteller zu 1 und der Antragstellerin zu 4 vorläufig ein Visum zum Familiennachzug mit ihren Eltern, den Antragstellern zu 2 und 3, zu erteilen.
Allerdings hält der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass sich die Annahme der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9.12 – juris Rn. 17 ff.; s.a. Beschluss vom 23. April 2020 – 1 C 10.19 – juris Rn. 13 ff.), der Anspruch der Eltern auf Familienzusammenführung mit einem im Bundesgebiet lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gehe unter, wenn das Kind volljährig werde, im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 12. April 2018 (C-550/16, juris), wonach ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als Minderjähriger im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, nicht mehr aufrecht erhalten lässt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Mai 2019 – OVG 3 B 1.19 – juris Rn. 27 ff.; Beschluss vom 19. Dezember 2018 – OVG 3 S 98.18 – juris Rn. 12). Da der Antragsteller zu 1 bei Stellung seines Asylantrags im Juni 2016 noch minderjährig war, dürfte es hier ausreichen, dass die Antragsteller zu 2 und 3 ihren Visumantrag Ende Dezember 2018 und damit innerhalb von zwei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers zu 1 durch Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. November 2018, gestellt haben (vgl. zu einer Frist von drei Monaten EuGH, Urteil vom 12. April 2018 – C 550/16 – juris Rn. 61).
Die Antragsteller wenden sich jedoch im Ergebnis ohne Erfolg gegen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, es fehle an einem – für den Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung erforderlichen – Anordnungsgrund. Die Beschwerde macht hierzu geltend, das Nachzugsrecht der Antragstellerin zu 4 – und infolgedessen auch dasjenige der Antragsteller zu 2 und 3, denen nicht zuzumuten sei, sie allein im Bürgerkriegsland zurückzulassen – drohe unwiederbringlich verloren zu gehen, wenn die Visumerteilung nicht vor der Vollendung des 18. Lebensjahrs der Antragstellerin zu 4 erfolge, weil die Antragsgegnerin nicht bereit sei, ihr nach diesem Zeitpunkt ein Visum zum Familiennachzug mit ihren Eltern nach § 32 Abs. 1 AufenthG zu erteilen. Dem ist nicht zu folgen.
Nach der Rechtsprechung des Senats reicht der elterliche Besitz eines nationalen Visums als „Aufenthaltserlaubnis“ für den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich aus, wenn die familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet gelebt werden soll und dem Elternteil angesichts des erteilten Visums im Bundesgebiet ein in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannter Aufenthaltstitel erteilt werden wird (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Dezember 2016 – OVG 3 S 98.16 – juris Rn. 3; Beschluss vom 19. Dezember 2018 – OVG 3 S 98.18 – juris Rn. 12; Beschluss vom 6. Juni 2019 – OVG 3 M 96.19 – juris Rn. 4). Für letzteres spricht hier zum einen, dass der Anspruch auf Familienzusammenführung auch nach Eintritt der Volljährigkeit des zunächst noch minderjährigen Flüchtlings seiner praktischen Wirksamkeit (zu diesem Gesichtspunkt vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 – juris Rn. 55) beraubt würde, wenn sich der Erteilung eines Visums nicht ein Aufenthalt zumindest von einer gewissen Dauer anschließen würde (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2018 – OVG 3 S 98.18 – juris Rn. 12), zum anderen die gerichtsbekannte Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, das aus Syrien stammenden Antragstellern regelmäßig (jedenfalls) subsidiäre Schutzberechtigung nach § 4 AsylG zuerkennt, die seit dem 1. August 2018 (Art. 1 Nr. 6, Art. 6 des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes vom 12. Juli 2018, BGBl. I S. 1147) Grundlage eines Familiennachzugsanspruchs aus humanitären Gründen nach § 36a AufenthG sein kann.
Der Auffassung des Verwaltungsgerichts und der Antragsgegnerin, ein Nachzugsanspruch der Antragstellerin zu 4 erlösche, wenn ihren Eltern das erstrebte Visum erst erteilt werde, nachdem sie selbst das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist nicht zu folgen. Beim Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG ist – abweichend von der für die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen regelmäßig zugrunde zu legenden Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz – für die Einhaltung der Höchstaltersgrenze der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich, weil anderenfalls der mit der Regelung verfolgte Zweck, Kindern unter 16 oder 18 Jahren die Herstellung der Familieneinheit im Bundesgebiet zu ermöglichen, vielfach aufgrund des Zeitablaufs während des Verfahrens entfiele (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9.12 – juris Rn. 18; Urteil vom 7. April 2009 – 1 C 17.08 – juris Rn. 10; Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 – juris Rn. 17; Urteil vom 18. November 1997 – 1 C 22.96 – juris Rn. 20). Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragstellung soll verhindern, dass das nachzugswillige Kind ihm an sich zustehende Rechte wegen der Verfahrensdauer allein durch Zeitablauf verliert. Demgegenüber müssen die übrigen Anspruchsvoraussetzungen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze vorliegen und können nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zu Gunsten des Betroffenen grundsätzlich nicht berücksichtigt werden (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 – 1 C 17.08 – juris Rn. 10; Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 – juris Rn. 17). Eine derartige, grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähige Sachverhaltsänderung ist indessen nicht gegeben, wenn der gleichzeitig mit der Antragstellung des (noch) Minderjährigen beantragte Aufenthaltstitel des Elternteils, von dem der Minderjährige seinen Nachzugsanspruch ableitet und mit dem zusammen er seinen Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegen will (§ 32 Abs. 2 AufenthG), allein mit Blick auf eine noch nicht abschließend geklärte Rechtsfrage nicht erteilt worden ist, und diese später zu Gunsten der Visumantragsteller entschieden wird. In diesem Fall ändert sich nicht der (Lebens-)Sachverhalt, sondern nur dessen rechtliche Bewertung. Die Ausstellung des Visums stellt dann lediglich die Erfüllung des schon vor Klärung der Rechtsfrage bestehenden Visumanspruchs dar. Dementsprechend kommt es für die Frage, ob – wie erforderlich – sämtliche Anspruchsvoraussetzungen schon vor Erreichen der Volljährigkeit gegeben waren, nicht auf die tatsächliche Ausstellung des Visums an die Eltern an, sondern darauf, ob letztere zum Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres einen Anspruch auf das von ihnen bereits (rechtzeitig) beantragte Visum hatten. Auch hier geht es darum zu vermeiden, dass ein nachzugswilliger Minderjähriger ihm an sich zustehende Rechte wegen der Dauer nicht nur seines eigenen Visumverfahrens, sondern desjenigen – gleichzeitig eingeleiteten – seiner Eltern allein durch Zeitablauf verliert.
Danach würde, wenn im Klageverfahren ein bei Vollendung des 18. Lebensjahres der Antragstellerin zu 4 bestehender Anspruch der Antragsteller zu 2 und 3 gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG zum Nachzug zum Antragsteller zu 1 bejaht wird, die Erteilung eines Visums nach § 32 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG an die Antragstellerin zu 4 nicht an der zwischenzeitlichen Überschreitung der Altersgrenze scheitern. Eine den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung rechtfertigende besondere Eilbedürftigkeit lässt sich daher nicht aus einem drohenden Rechtsverlust ableiten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Zuletzt aktualisiert am August 27, 2021 von eurogesetze
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