FINDIKOGLU ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 20672/15

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 20672/15
F. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 7. Juni 2016 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Erik Møse,
Faris Vehabović,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni und
Mārtiņš Mits

sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 27. April 2015 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, F., ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde vor dem Gerichtshof von Herrn W., Rechtsanwalt in F., vertreten.

2. Der von dem Beschwerdeführer vorgetragene Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Mit einer diplomatischen Note vom 17. Dezember 2013 ersuchten die Behörden der Vereinigten Staaten die deutschen Behörden darum, den Beschwerdeführer entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des Auslieferungsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten in vorläufige Auslieferungshaft zu nehmen.

4. In dem Auslieferungsersuchen wurde der Sachverhalt wie folgt zusammengefasst:

„[…] Etwa im Zeitraum Januar 2010 und Juli 2013 sowie in der Zwischenzeit leitete der auch als „S.“ und „P.“ bekannte F. gemeinsam mit anderen eine internationale Verschwörung, bei der mit der Absicht des Erzielens finanzieller Vorteile die Computernetzwerke von Finanzdienstleistern in den Vereinigten Staaten und andernorts angegriffen wurden, indem auf Computer zugegriffen wurde und vertrauliche Kontoinformationen entwendet und manipuliert wurden. […] Die Opfer erlitten, wie nachfolgend dargestellt, gravierende finanzielle Verluste: A. […] ca. 14 Mio. Dollar; B. […] ca. 5 Mio. Dollar; C. […] ca. 40 Mio. Dollar. […]“

5. Dann wurde der Inhalt einer Anklageschrift des District Court for the Eastern District of New York (Bezirksgericht für den Östlichen Bezirk von New York) vom 25. Juli 2013 wiedergegeben, in der folgende Tatvorwürfe aufgelistet waren:

„Anklagepunkt 1: Verschwörung zum Zugriff auf Computer, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 371, belegt mit einer Höchststrafe von 5 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkte 2-4: Zugriff auf Computer, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1030(a)(4), belegt mit einer Höchststrafe von 5 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkt 5: Verschwörung zum Betrug unter Einsatz von Telekommunikationsmitteln, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1349, belegt mit einer Höchststrafe von 20 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkt 6: Verschwörung zum Bankbetrug, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1349, belegt mit einer Höchststrafe von 30 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkt 7: Bankbetrug, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1344, belegt mit einer Höchststrafe von 30 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkt 8: Verschwörung zum Begehen von Betrug mittels Zugriffsvorrichtungen, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1029(b)(2), belegt mit einer Höchststrafe von 7,5 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkte 9, 11, 13: Handel mit nicht genehmigten Zugriffsvorrichtungen, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1029(a)(2), belegt mit einer Höchststrafe von 10 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkte 10, 12, 14: Herbeiführen von Transaktionen mit nicht genehmigten Zugriffsvorrichtungen, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1029(a)(5), belegt mit einer Höchststrafe von 15 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkt 15: Verschwörung zur Geldwäsche, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1956(h), belegt mit einer Höchststrafe von 20 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkt 16: Geldwäsche, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1956(a)(2)(A), belegt mit einer Höchststrafe von 20 Jahren Freiheitsentzug;

Anklagepunkt 17: Verschwörung zur Behinderung der Justiz, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1512(k), belegt mit einer Höchststrafe von 20 Jahren Freiheitsentzug; und

Anklagepunkt 18: Behinderung der Justiz, Verstoß gegen Title 18, United States Code, Section 1512(b)(2)(B), belegt mit einer Höchststrafe von 20 Jahren Freiheitsentzug.

6. Am 19. Dezember 2013 wurde der Beschwerdeführer auf der Grundlage des vom Justizministerium der Vereinigten Staaten gestellten Ersuchens um Unterstützung bei der Strafverfolgung des Beschwerdeführers in U. in einem Hotel in der Nähe des Flughafens festgenommen.

7. Am 27. Dezember 2013 ordnete das Oberlandesgericht die Auslieferungshaft des Beschwerdeführers an.

8. Nachdem das Justizministerium der Vereinigten Staaten die erforderlichen Unterlagen übermittelt hatte, ordnete das Gericht am 13. Februar 2014 sowie am 9. April 2014 die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers an.

9. Am 5. August 2014 entschied das Gericht, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Vereinigten Staaten zulässig sei. Es führte unter anderem aus, dass keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die zu erwartende Strafe gegen das Grundgesetz verstoßen werde.

10. Am 9. August 2014 legte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Er machte insbesondere geltend, dass sich aus der Addition der möglichen Einzelstrafen eine Haftstrafe von insgesamt 247,5 Jahren ergeben könne, was einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichkomme.

11. Am 20. November 2014 hob das Bundesverfassungsgericht den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 5. August 2014 auf. Die Entscheidung enthalte keine hinreichende Auseinandersetzung mit der Dauer der in den Vereinigten Staaten zu erwartenden Haftstrafe, mit der Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung sowie mit der Frage, inwieweit im US-amerikanischen Strafrechtssystem dem Gebot des sinn- und maßvollen Strafens entsprochen werde.

12. Mit Beschluss vom 2. Dezember 2014 ersuchte das Oberlandesgericht das Justizministerium der Vereinigten Staaten um nähere Darlegung, mit welcher Haftdauer in dieser Rechtssache insgesamt zu rechnen sei und ob der Beschwerdeführer im Fall seiner Verurteilung die Strafe voll zu verbüßen hätte.

13. Am 14. Dezember 2014 übermittelte das Justizministerium der Vereinigten Staaten eine rechtliche Beurteilung. Darin wurden Recht und Praxis des Staates New York, soweit auf den Beschwerdeführer anwendbar, dargelegt. Es wurde darauf hingewiesen, dass ein Richter bei der Verhängung einer Strafe die U.S. Federal Sentencing Guidelines (bundesweit geltende Strafbemessungsleitlinien) zu berücksichtigen habe.

14. Im Hinblick auf die im Fall des Beschwerdeführers zu erwartende Strafe führte das Justizministerium der Vereinigten Staaten Folgendes aus:

„Noch vor Verhandlungsbeginn könnte F.u unter anwaltlicher Beratung entscheiden, von seinem Recht auf ein Verfahren abzusehen und sich im Sinne der Anklage für schuldig zu bekennen, und zwar unabhängig davon, ob die Staatsanwaltschaft dem zustimmt oder nicht. […] Ein frühzeitiges Schuldeingeständnis ist ein Faktor, der sich bei einer Verurteilung mildernd auf die Strafzumessung durch den Richter auswirken könnte. Title 18, United States Code, Section 3553 (b)(1), United States Sentencing Guidelines, Section 3E1.1. […] F. kann sich um eine Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft bemühen, der zufolge er sich schuldig bekennt und im Gegenzug dafür bestimmte Vergünstigungen erhält, sich also beispielsweise nicht zu allen Anklagepunkten schuldig bekennen muss… oder gar eine Reduzierung der Tatvorwürfe, oder im Gegenzug dafür eine Zusage der Regierungsbehörden erhält, dem Gericht ein besonderes verringertes Strafmaß nahezulegen. […]

Sollte sich F. allerdings gegen ein Schuldeingeständnis entscheiden und stattdessen von seinem Recht auf ein Verfahren Gebrauch machen, und wird er im Sinne eines oder mehrerer Anklagepunkte für schuldig befunden, hängt das Ausmaß seiner Strafe davon ab, welcher Art von Tatvorwurf er schuldig gesprochen wird. Überdies steht dem Richter, wie nachfolgend dargelegt, bei der Festlegung einer angemessenen Strafe ein weiter Ermessensspielraum zu. […]

Laut einer Einschätzung der mit der Angelegenheit betrauten Staatsanwälte unter Berücksichtigung der Faktoren der U.S. Sentencing Guidelines, die gemäß den der Staatsanwaltschaft zu diesem Zeitpunkt bekannten Informationen auf den Fall anwendbar wären, läge der empfohlene Strafrahmen für den Fall, dass F. aller Anklagepunkte für schuldig befunden würde, bei 324-420 Monaten, was weit hinter den 247,5 Jahren zurückbleibt, die ihm seiner Behauptung nach drohen.

[…]

Gleichzeitig weisen wir darauf hin, dass der Richter laut Title 18, United States Code, Section 3553(a) darauf zu achten hat, dass es bei der Strafzumessung nicht zu ungerechtfertigten Diskrepanzen kommt. Mehrere von F.s Mitverschwörern wurden in einer mit seinem Fall im Zusammenhang stehenden Rechtssache, die von demselben Richter verhandelt wird, der auch F.s Fall zugeteilt ist, bereits verurteilt. Eine dieser Personen hatte den Guidelines zufolge einen Strafrahmen von 70-87 Monaten zu erwarten und wurde zu 22 Monaten Haft verurteilt. Eine weitere hatte den Guidelines zufolge einen Strafrahmen von 78-90 Monaten zu erwarten und wurde zu 34 Monaten Haft verurteilt. Ein Dritter hatte den Guidelines zufolge einen Strafrahmen von 37-46 Monaten zu erwarten und wurde zu 15 Monaten Haft verurteilt. Dabei ist anzumerken, dass keiner dieser Angeklagten eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit mit den Regierungsbehörden eingegangen ist. […]

F. hat nach dem Recht der Vereinigten Staaten die Möglichkeit, wie nachfolgend dargelegt, im Anschluss an seine Verurteilung eine Verringerung oder Umwandlung seiner Strafe zu begehren. Gemäß Federal Rule of Criminal Procedure 35(b) kann ein Richter von der Möglichkeit Gebrauch machen, eine bereits verhängte Strafe auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu reduzieren, um so eine von der verurteilten Person nach ihrer Verurteilung geleistete erhebliche Unterstützung zu berücksichtigen […].

Überdies hätte F. nach der Verhängung einer Strafe das Recht, seine Verurteilung und das Strafmaß anzufechten, was zu einer veränderten Schuldfeststellung oder einer Verringerung des Strafmaßes führen könnte […]“

15. Abschließend umriss das Justizministerium der Vereinigten Staaten die Möglichkeit einer Strafreduktion im Gnadenwege oder durch vorzeitige Entlassung.

16. Am 12. März 2015 wurde vom Gericht die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers angeordnet.

17. Am 25. März 2015 entschied das Gericht, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Vereinigten Staaten zulässig sei. Es berief sich in weiten Teilen auf die vom Justizministerium der Vereinigten Staaten vorgenommene Berechnung der im Fall des Beschwerdeführers zu erwartenden Freiheitsstrafe und führte unter anderem aus, dass eine mögliche Haftdauer von bis zu 35 Jahren zwar lang sei, aber nicht in einem groben Missverhältnis zu der von dem Beschwerdeführer verursachten Schadenshöhe von rund 59 Mio. US-Dollar stehe. Da dem Gericht keine andere Informationsquelle als die vom Justizministerium der Vereinigten Staaten herangezogene Einschätzung der Staatsanwaltschaft vorliege, deute nichts darauf hin, dass das erkennende US-amerikanische Gericht diesen Berechnungsrahmen verlassen werde. Es sei nicht erforderlich, Zugang zu dem die Berechnung enthaltenden Dokument selbst zu erlangen, da im vorliegenden Fall der Grundsatz des guten Glaubens in Auslieferungsverfahren gelte. Folglich müsse auf die Richtigkeit der juristischen Ausführungen vertraut werden und es sei nicht notwendig, die Übermittlung des Originaldokuments zu verlangen.

18. Am 30. März 2015 legte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Er rügte, dass sich das Oberlandesgericht auf eine Berechnung gestützt habe, die weder dem Oberlandesgericht noch dem Beschwerdeführer vorgelegt, sondern lediglich vom US-Justizministerium in dessen Ausführungen wiedergegeben worden sei. Die Ausführungen des US-Justizministeriums seien folglich nicht nachprüfbar gewesen. Da die Strafbemessungsleitlinien nur Empfehlungscharakter hätten und keine Zusicherungen gegeben worden seien, bestehe außerdem nach wie vor die Gefahr, dass er zu einer Haftstrafe von 247,5 Jahren verurteilt werde. Angesichts des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Trabelsi ./. Belgien (Individualbeschwerde Nr. 140/10 ECHR 2014 [Auszüge]) stelle diese Gefahr eine Verletzung von Artikel 3 der Konvention dar.

19. Am 16. April 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 585/15).

20. Am 25. April 2015 erhob der Beschwerdeführer Individualbeschwerde beim Gerichtshof und ersuchte im Hinblick auf seine bevorstehende Auslieferung um vorläufige Maßnahmen.

21. Am 4. Mai 2015 lehnte der Gerichtshof die Anwendung von vorläufigen Maßnahmen ab.

22. Am 12. Mai 2015 teilte das Auswärtige Amt den Vereinigten Staaten von Amerika in einer Verbalnote mit, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Vereinigten Staaten genehmigt worden sei.

23. Im Juni 2015 wurde der Beschwerdeführer an die Vereinigten Staaten ausgeliefert.

RÜGEN

24. Der Beschwerdeführer rügte, dass er mit der Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika einer mit Artikel 3 der Konvention unvereinbaren Behandlung ausgesetzt werde, da ihm in den Vereinigten Staaten eine unverhältnismäßig lange Haftstrafe drohe.

25. Ferner rügte der Beschwerdeführer nach Artikel 6 der Konvention, dass das Auslieferungsverfahren in Deutschland unfair gewesen sei und insbesondere, dass das Oberlandesgericht es unterlassen habe, beim US-Justizministerium die Berechnung der mit seinem Fall betrauten US-amerikanischen Staatsanwälte anzufordern, wodurch der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt worden sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Rüge nach Artikel 3 der Konvention

26. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 3 der Konvention, dass die Bandbreite der Straftaten, aufgrund derer seine Auslieferung bewilligt worden sei, mit einer Höchststrafe von 247,5 Jahren Haft einhergehe. Im Fall einer Verurteilung hätte er keine Aussicht auf Freilassung, da diese nur im Gnadenwege vom Präsidenten gewährt werden könne, womit kaum zu rechnen sei.

27. Artikel 3 lautet wie folgt:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

28. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung der Schutz vor einer nach Artikel 3 verbotenen Behandlung absolut ist. Folglich kann die Auslieferung einer Person durch einen Vertragsstaat Probleme nach dieser Bestimmung aufwerfen und so eine konventionsrechtliche Verantwortlichkeit des betreffenden Staates begründen. Dies kann der Fall sein, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Person im Fall ihrer Auslieferung an den ersuchenden Staat die tatsächliche Gefahr droht, einer Artikel 3 widersprechenden Behandlung unterzogen zu werden (siehe Trabelsi ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 140/10, Rdnr. 116, ECHR 2014 [Auszüge]). In solchen Fällen ergibt sich aus Artikel 3 eine Verpflichtung, die betreffende Person nicht in dieses Land zu verbringen, selbst wenn es sich dabei um einen nicht dem Übereinkommen angehörenden Staat handelt.

29. Um das Bestehen einer solchen Verantwortlichkeit zu prüfen, muss der Gerichtshof stets die Situation in dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Anforderungen von Artikel 3 beurteilen. Wenn damit zu rechnen ist, dass die Auslieferung an den ersuchenden Staat mit Artikel 3 der Konvention unvereinbare Folgen haben würde, darf der Vertragsstaat nicht ausliefern (siehe Othman (Abu Qatada) ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8139/09, Rdnr. 185, ECHR 2012 [Auszüge]). Es geht darum, die Wirksamkeit des durch Artikel 3 gewährten Schutzes sicherzustellen, da das mutmaßlich drohende Leid schwerwiegend und irreparabel ist (siehe Soering ./. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 7. Juli 1989, Serie A Bd. 161, S. 35 bis 36, Rdnr. 90).

30. Um zu entscheiden, ob dargelegt wurde, dass dem Beschwerdeführer im Fall einer Auslieferung die tatsächliche Gefahr droht, eine Artikel 3 widersprechende Behandlung zu erleiden, wird der Gerichtshof die Angelegenheit im Lichte des gesamten ihm vorgelegten Materials prüfen (siehe Čalovskis ./. Lettland, Individualbeschwerde Nr. 22205/13, Rdnr. 132, 24. Juli 2014).

31. Grundsätzlich muss der Beschwerdeführer Beweise beibringen, die belegen können, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass er im Fall der Durchführung der angegriffenen Maßnahme tatsächlich der Gefahr einer Artikel 3 verletzenden Behandlung ausgesetzt wäre (siehe N. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 38885/02, Rdnr. 167, 26. Juli 2005).

32. Der Gerichtshof fügt hinzu, dass er – außer in Fällen im Zusammenhang mit der Todesstrafe – höchst selten eine Verletzung von Artikel 3 festgestellt hat, wenn es um die Abschiebung eines Beschwerdeführers in einen Staat mit einer langen Tradition der Achtung der Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ging (siehe Babar Ahmad u. a. ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerden Nrn. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09 und 67354/09, Rdnr. 179, 10. April 2012).

33. Im Hinblick auf die hier in Rede stehende Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Beschwerdeführer keiner terrorismusbezogenen Straftat verdächtigt wird (im Gegensatz zu Trabelsi, a. a. O., Rdnr. 121; und Babar Ahmad u. a., a. a. O., Rdnr. 8). Dem Gerichtshof wurden keine Informationen vorgelegt, wonach die US-Behörden im Umgang mit Personen, die der Computerkriminalität verdächtigt werden, das gleiche Vorgehen an den Tag legen wie im Umgang mit Personen, die terrorismusbezogener Straftaten verdächtigt werden.

34. Ferner richtet sich die strafrechtliche Verfolgung des Beschwerdeführers auf achtzehn Anklagepunkte u. a. im Zusammenhang mit Bankbetrug und Computerzugriff, die jeweils mit maximal fünf bis dreißig Jahren Freiheitsstrafe belegt sind. Das Strafmaß liegt im Ermessen des Richters, der eine mildere Strafe auferlegen kann (siehe Rdnr. 3). Somit geht keiner der gegen den Beschwerdeführer geltend gemachten Vorwürfe für sich genommen mit lebenslangem Freiheitsentzug als Höchststrafe einher (im Gegensatz zu Trabelsi, a. a. O., Rdnr. 121).

35. Soweit der Beschwerdeführer rügt, dass er in den Vereinigten Staaten zu einer unverhältnismäßig langen Freiheitsstrafe verurteilt werden könnte, merkt der Gerichtshof an, dass dieses Argument auf der Behauptung beruhte, dass der Richter, sofern der Beschwerdeführer in allen in der Anklageschrift aufgeführten Punkten (siehe Rdnr. 3) für schuldig befunden wird, eine Höchststrafe von 247,5 Jahren Haft verhängen könnte, was einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommen würde.

36. Der Gerichtshof stellt fest, dass in der vorliegenden Rechtssache die Möglichkeit der kumulativen Strafverhängung offenbar nicht ausgeschlossen ist (vgl. Schuchter ./. Italien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 68476/10, 11. Oktober 2011). Er wiederholt, dass die unbegrenzte Addition von Einzelstrafen für sich genommen oder in Verbindung mit dem Alter oder dem Gesundheitszustand einer Person eine über ein Menschenleben hinausreichende Zeitspanne darstellen kann. Insofern können solche Strafen im Ergebnis einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommen (siehe Čalovskis, a. a. O., Rdnr. 145). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Verurteilung eines erwachsenen Straftäters zu lebenslanger Freiheitsstrafe an sich nicht gegen Artikel 3 verstößt und nicht mit dieser Vorschrift oder irgendeiner anderen Konventionsvorschrift unvereinbar ist (siehe Kafkaris ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Rdnr. 97, ECHR 2008, und dort zitierte Rechtsprechung), solange sie nicht grob unverhältnismäßig ist (siehe Murray ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 10511/10, Rdnr. 99, 26. April 2016).

37. Im vorliegenden Fall allerdings hat der Beschwerdeführer nicht dargetan, dass ein Gericht in den Vereinigten Staaten die Höchststrafe verhängen würde, ohne ordnungsgemäß alle relevanten strafschärfenden oder mildernden Umstände zu berücksichtigten, oder dass ein solches Urteil keiner Überprüfung zugänglich wäre (vgl. Čalovskis, a. a. O., Rdnr. 146). Er hat auch nicht vorgetragen, dass der zuständige Richter zwingend die Höchststrafe von 247,5 Jahren zu verhängen hätte, sollte der Beschwerdeführer aller in der Anklageschrift aufgeführter Punkte schuldig gesprochen werden.

38. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass der Beschwerdeführer nicht bestreitet, dass in einer mit seiner im Zusammenhang stehenden Rechtssache, die von demselben US-amerikanischen Richter verhandelt wurde, der auch dem Fall des Beschwerdeführers zugeteilt ist, mehrere seiner Mitverschwörer bereits verurteilt wurden. Obwohl der empfohlene Strafrahmen bei jeweils 70 bis 87, 78 bis 90 bzw. 37 bis 46 Monaten lag, wurden diese Mitverschwörer zu jeweils 22, 34 bzw. 15 Monaten Haft verurteilt. Im Fall des Beschwerdeführers lag die Strafrahmenempfehlung bei 324 bis 420 Monaten Haft (siehe Rdnr. 14). Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich keine Gründe angegeben, warum die Strafrahmenempfehlung in seinem Fall nicht zur Anwendung kommen sollte oder die Anwendung des Strafrahmens von seiner Zusammenarbeit mit den US-Regierungsbehörden abhängig wäre.

39. Die Länge der Haftstrafe des Beschwerdeführers könnte von außergerichtlichen Faktoren wie der Einwilligung in eine Zusammenarbeit mit den US-Regierungsbehörden beeinflusst werden. Überdies stünde dem Beschwerdeführer, sofern er verurteilt würde, die Möglichkeit offen, eine Herabsetzung oder Umwandlung seiner Strafe zu begehren, wenn er nach seiner Verurteilung erhebliche Unterstützung leisten würde (siehe Rdnr. 14).

40. Im Lichte des gesamten ihm vorgelegten Materials ist der Gerichtshof der Auffassung, dass in der vorliegenden Rechtssache nicht von der Gefahr einer Haftstrafe, die lebenslangem Freiheitsentzug gleichkommt, ausgegangen werden konnte. Folglich ist die Problematik, inwiefern der Beschwerdeführer im Fall seiner Verurteilung Aussicht auf Entlassung hätte, in der vorliegenden Sache nicht von Bedeutung (im Gegensatz zu Trabelsi, a. a. O., Rdnrn. 133 bis 139).

41. Der Gerichtshof ist dementsprechend nicht der Überzeugung, dass der Beschwerdeführer belegt hat, dass er durch seine Auslieferung an die Vereinigten Staaten infolge des ihm in dem US-amerikanischen Strafverfahren drohenden Urteils tatsächlich der Gefahr einer die Schwelle des Artikels 3 erreichenden Behandlung ausgesetzt wäre.

42. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

B. Rüge nach Artikel 6 der Konvention

43. Unter Berufung auf Artikel 6 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass das Auslieferungsverfahren in Deutschland nicht fair gewesen sei, und insbesondere, dass das Oberlandesgericht es unterlassen habe, beim US-Justizministerium das Dokument mit der Strafmaßberechnung anzufordern, wodurch der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt worden sei.

44. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es bei Entscheidungen über die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern nicht um eine Verhandlung über Streitigkeiten in Bezug auf die zivilrechtlichen Ansprüche oder Verpflichtungen eines Beschwerdeführers oder über eine gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention geht (siehe Trabelsi, a. a. O., Rdnr. 160; und RAF ./. Spanien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53652/00, 21. November 2000). Deshalb ist Artikel 6 Abs. 1 auf das Auslieferungsverfahren in Deutschland nicht anwendbar.

45. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde ratione materiae unzulässig im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 30. Juni 2016.

Claudia Westerdiek                                         Ganna Yudkivska
Kanzlerin                                                            Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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