RECHTSSACHE MADAUS ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 44164/14

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE M. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 44164/14)
URTEIL
STRASSBURG
9. Juni 2016

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache M. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Yonko Grozev
und Carlo Ranzoni,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 10. Mai 2016

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 44164/14) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, M. („der Beschwerdeführer“), am 26. Mai 2014 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass ihm die Möglichkeit einer mündlichen Verhandlung vor den innerstaatlichen Gerichten nicht gewährt worden sei und dass ein bereits anberaumter Sitzungstermin vor dem erstinstanzlichen Gericht abgesetzt worden sei, nachdem seine Anwälte eine Presseerklärung veröffentlicht hätten.

4. Am 1. September 2014 wurde die nach den Artikeln 6 und 10 der Konvention erhobene Rüge hinsichtlich der Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung der Regierung übermittelt und gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS

5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist in K. wohnhaft. Sein Vater war ein pharmazeutischer Unternehmer, der Vermögenswerte in der sowjetischen Besatzungszone hatte, die 1946 und 1947 Enteignungsmaßnahmen unterworfen wurden, nachdem eine Verwaltungsbehörde ihn als „Naziverbrecher“, „aktivistischen Nazi“ und „Kriegsinteressenten“ eingestuft hatte. Nach der deutschen Wiedervereinigung stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Restitution der Vermögenswerte nach dem Vermögensgesetz, der jedoch erfolglos blieb.

6. 2006 strengte der Beschwerdeführer im Namen seines verstorbenen Vaters ein Verfahren nach dem Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz – StrRehaG) an. Er behauptete, dass die Enteignung sowie weitere Maßnahmen Strafcharakter hätten, auch wenn die Schuld seines Vaters nicht von einem Gericht, sondern von einer Verwaltungsbehörde festgestellt worden sei. Er legte eine Vielzahl von Unterlagen vor und machte geltend, dass der historische Hintergrund der unter der sowjetischen Besatzungsmacht ergriffenen Maßnahmen neu bewertet werden müsste. Insbesondere die Vorschriften aus den Jahren 1946 und 1947, auf denen sich die Maßnahmen gegen seinen Vater gegründet hätten, könnten heute als strafrechtliche Verfolgung eingestuft werden. Neuere Forschungen hätten gezeigt, dass ihr Ziel die Bestrafung einzelner Deutscher für angeblich begangenes Unrecht gewesen sei. Der Beschwerdeführer beantrage u. a., die Entscheidungen aus dem Jahre 1946, mit denen sein Vater schuldig gesprochen worden sei, ein Nazi zu sein, und die anschließenden Entscheidungen, mit denen er enteignet und ihm sein Privatvermögen und das Vermögen seines Unternehmens entzogen worden waren, für rechtsstaatswidrig und damit nichtig zu erklären. Der Beschwerdeführer bezifferte den Wert seiner Restitutionsansprüche auf ca. 90 Millionen Euro.

7. Am 26. Juni 2008 beraumte das Landgericht Dresden die von dem Beschwerdeführer beantragte öffentliche Verhandlung auf den 19. August 2008 an.

8. Am 21. Juli 2008 veröffentlichten die Anwälte des Beschwerdeführers eine Presseerklärung mit dem Titel:

„Wende bei der Aufarbeitung der kommunistischen Industriereform? LG Dresden erörtert erstmals strafrechtlichen Rehabilitierungsantrag in mündlicher Verhandlung“.

Die Anwälte des Beschwerdeführers führten darin insbesondere aus, die innerstaatlichen Gerichte seien bislang davon ausgegangen, dass das Ziel der in Rede stehenden Maßnahmen wirtschaftspolitisch motiviert gewesen sei, d. h. eine Umverteilung der Eigentumsverhältnisse zum Zweck gehabt habe. Sie stellten den Umstand, dass das Landgericht eine mündliche Verhandlung anberaumt hatte, als möglichen Wendepunkt in der innerstaatlichen Rechtsprechung dar und kündigten an, dass sie in der Verhandlung eingehend mündlich darlegen würden, worum es bei der „Wirtschaftsreform“ tatsächlich gegangen sei. Gleichzeitig teilten sie das Datum, die Zeit und den Ort der Verhandlung mit.

9. Am 8. August 2008 hob das Landgericht Dresden den für den 19. August anberaumten Sitzungstermin auf und gab dem Antragsteller Gelegenheit, zu seinem Antrag bis zum 15. September 2008 schriftlich vorzutragen. Es stellte fest, dass gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG in der Regel ohne mündliche Erörterung zu entscheiden sei. Der Termin zur mündlichen Erörterung sei nach § 11 Abs. 3 Satz 2 StrRehaG (siehe Rdnr. 13) bestimmt worden, um dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, seine auf besonders umfangreichem schriftlichen Sachvortrag beruhende und von der ständigen Rechtsprechung der des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Dresden abweichende Rechtsauffassung zu erläutern. Im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens sehe die Kammer nunmehr von einer mündlichen Verhandlung ab, weil entgegen ihrer ursprünglichen Annahme nicht mehr zu erwarten sei, dass dadurch ein zusätzlicher Nutzen für die Bearbeitung der Rechtssache erzielt werden könne. Die Terminsbestimmung sei vielmehr genutzt worden, um in einer – auch im Internet veröffentlichten –Presseerklärung den Eindruck zu erwecken, das Landgericht habe durch die Bestimmung eines Verhandlungstermins zu erkennen gegeben, dass es geneigt sei, seine bisherige ständige Rechtsprechung aufzugeben. Darüber hinaus sei in der Presseerklärung angekündigt worden, dass der Beschwerdeführer die Verhandlung dazu nutzen werde, „ein wichtiges Stück Zeitgeschichte aufzudecken“. Dies deute darauf hin, dass die Verhandlung als öffentliches Forum genutzt werden sollte. Vor diesem Hintergrund sehe das Gericht nunmehr von einer mündlichen Eröterung ab.

10. Am 24. August 2009 verwarf das Landgericht Dresden den Antrag des Beschwerdeführers, nachdem er ohne Erfolg geltend gemacht hatte, die Richter seien befangen. Es stellte fest, dass die gegen den Vater des Beschwerdeführers verhängten Maßnahmen keinen Strafcharakter hätten. Die Enteignungsmaßnahmen hätten keine weiteren nachteiligen Folgen für ihn gehabt. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers deute nichts darauf hin, dass 1947 ein Haftbefehl erlassen worden sei. Dass der Vater des Beschwerdeführers sein Wahlrecht, seine Gewerbelizenz und sein Privatvermögen verloren habe, sei eine notwendige Konsequenz der Enteignung gewesen.

11. Am 26. November 2010 verwarf das Oberlandesgericht Dresden die Beschwerde des Beschwerdeführers ohne mündliche Verhandlung und schloss sich der Begründung des Landgerichts vollumfänglich an. Ergänzend fügte es hinzu, die vorgelegten Unterlagen bewiesen weder den Strafcharakter der in Rede stehenden Maßnahmen, noch dass es einen Haftbefehl gegeben habe. Eine mündliche Verhandlung sei nicht erforderlich, weil die vorgelegten Unterlagen für die Beurteilung der Rechtssache ausreichten.

12. Mit Beschluss vom 19. November 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, mit der er Verstöße gegen sein Recht auf wirksame Beschwerde geltend machte (2 BvR 1511/11), zur Entscheidung anzunehmen.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

13. Die maßgeblichen Bestimmungen des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes lauten wie folgt:

§ 1

„(1) Die strafrechtliche Entscheidung eines staatlichen deutschen Gerichts in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990 ist auf Antrag für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben (Rehabilitierung), soweit sie mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist,

[…]“

§ 3

„(1) Die Aufhebung einer Entscheidung nach § 1 begründet Ansprüche nach Maßgabe dieses Gesetzes.

(2) Wird eine Einziehung von Gegenständen oder eine Vermögenseinziehung aufgehoben, richtet sich die Rückübertragung oder Rückgabe von Vermögenswerten nach dem Vermögensgesetz und dem Investitionsvorranggesetz.“

§ 11

„[…]

(3) Das Gericht entscheidet in der Regel ohne mündliche Erörterung. Es kann eine mündliche Erörterung anordnen, wenn es dies zur Aufklärung des Sachverhalts oder aus anderen Gründen für erforderlich hält.

[…]“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION

14. Der Beschwerdeführer rügte, die innerstaatlichen Gerichte hätten dadurch, dass sie ohne Durchführung einer Verhandlung Entscheidungen getroffen hätten, sein Recht auf mündliche Verhandlung nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich […] verhandelt wird.“

15. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die vorliegende Rechtssache keine strafrechtliche Anklage gegen den Beschwerdeführer betrifft. Der von dem Beschwerdeführer an das Landgericht Dresden gerichtete Antrag hatte im Wesentlichen zum Ziel, den Ruf seines Vaters wiederherzustellen und die Entscheidungen über die Einziehung von Gegenständen und Vermögen seines Vaters nach § 1 und § 3 Abs. 1 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (siehe Rdnr. 13) aufheben zu lassen. Der Gerichtshof hat vielfach festgestellt, dass das Recht auf einen guten Ruf ein „zivilrechtlicher Anspruch“ im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 ist (siehe u. a. Werner ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 26760/95, Rdnr. 33, 15. November 2001). Ebenso werden Verfahren, die die Rückgängigmachung einer Enteignung durch den Staat zum Ziel haben, als „Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche“ betrachtet (siehe Aldo und Jean-Baptiste Zanatta ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 38042/97, Rdnrn. 24‑25, 28. März 2000 mit Verweis auf Guillemin ./. Frankreich, 21. Februar 1997, Reports of Judgments and Decisions 1997‑I). Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die in Rede stehenden Ansprüche „zivilrechtlichen Charakter“ im autonomen Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention hatten. Diese Vorschrift ist daher auf das vorliegende Verfahren anwendbar, was vor dem Gerichtshof auch nicht bestritten wurde. Die Behauptung des Beschwerdeführers, dass die Vorschrift verletzt worden sei, wurde von der Regierung allerdings bestritten.

A. Zulässigkeit

16. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Das Vorbringen des Beschwerdeführers

17. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass er in seinem Recht auf eine öffentliche Verhandlung nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden sei. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache Fredin ./. Schweden (Nr. 2) (23. Februar 1994, Serie A Nr. 283‑A), und Allan Jacobsson ./. Schweden (Nr. 2) (19. Februar 1998, Reports of Judgments and Decisions 1998‑I) vertrat er die Auffassung, dass die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung nur durch außergewöhnliche Umstände gerechtfertigt werden könne. Er hob hervor, dass es in seinem Fall vor den innerstaatlichen Gerichten um zahlreiche Tatsachenfragen und um schwierige Rechtsfragen von grundlegender Bedeutung gegangen sei. Deshalb könne er keine Veranlassung erkennen, von einer Verhandlung abzusehen.

18. Der Beschwerdeführer trug ferner vor, gemäß § 11 Abs. 3, Satz 2, des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes könne eine mündliche Erörterung nur durchgeführt werden, wenn das Gericht dies für erforderlich halte. Die Tatsache, dass das Landgericht entschieden habe, eine Verhandlung durchzuführen, zeige, dass dies erforderlich gewesen sei, und sei nicht als reines Entgegenkommen zu verstehen.

2. Die Stellungnahme der Regierung

19. Die Regierung trug vor, dass kein Verstoß gegen Artikel 6 vorliege, weil unter den konkreten Umständen der Rechtssache eine mündliche Verhandlung vor den innerstaatlichen Gerichten nicht erforderlich gewesen sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache Pákozdi ./. Ungarn (Individualbeschwerde Nr. 51269/07, Rdnr. 27, 25. November 2014) vertrat sie die Auffassung, dass eine mündliche Verhandlung entbehrlich sei, soweit das Gericht die Sache in fairer und angemessener Weise anhand der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten und sonstiger schriftlicher Materialien klären könne. Die Möglichkeit, von einer mündlichen Anhörung des Betroffenen Abstand zu nehmen, sei nicht auf seltene Ausnahmefälle beschränkt (mit Verweis auf Fexler ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 36801/06, Rdnr. 57, 13. Oktober 2011). Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache Suhadolc ./. Slowenien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 57655/08, 17. November 2011) trug die Regierung vor, dass es mit der Konvention vereinbar sei, wenn das innerstaatliche Recht die Frage der Durchführung einer mündlichen Verhandlung in das Ermessen der zuständigen Gerichte stelle. In seinem Antrag an das Landgericht habe der Beschwerdeführer keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufgeworfen, die nicht in angemessener Weise auf Grundlage der Akte hätten geklärt werden können. Die vorgelegten Unterlagen hätten keine hinreichende Beweiskraft, um eine Änderung der Rechtsprechung des Landgerichts im Hinblick auf die generelle Beurteilung der Rechtssache erforderlich zu machen, insbesondere was die Art des Enteignungsverfahrens und die Frage angehe, ob gegen den Vater ein Haftbefehl vorgelegen habe.

20. Darüber hinaus war die Regierung der Auffassung, dass die Sorge des Landgerichts, die Anwälte des Beschwerdeführers würden die anstehende mündliche Verhandlung als „öffentliches Forum“ missbrauchen und weitläufige Ausführungen zu den Umständen der damaligen Enteignungsmaßnahmen machen, begründet gewesen sei. Es sei deutlich absehbar gewesen, dass die Anwälte des Beschwerdeführers sich nicht darauf einlassen würden, ihre Ausführungen auf die dem Gericht wichtigen Punkte zu beschränken. Ferner sei absehbar gewesen, dass die Anwälte des Beschwerdeführers sich auch durch eine Beschränkung ihres Rederechts durch das Gericht nicht abhalten lassen würden. Ebenso habe nahe gelegen, dass ein Publikum, bestehend aus von Enteignungsmaßnahmen betroffenen Personen, mit Verärgerung reagieren würde, falls es in der Verhandlung erfahren würde, dass das Gericht die von den Anwälten des Beschwerdeführers schon angekündigten Ausführungen als unerheblich für seine Entscheidung ansah. Das Gericht habe deshalb befürchten müssen, dass es gleichsam „dem Druck der Straße“ ausgesetzt werden und die Verhandlung überdies für Reklamezwecke missbraucht werden sollte.

21. Schließlich trug die Regierung vor, aus der Tatsache, dass eine Verhandlung bereits anberaumt worden sei, ergebe sich kein Anspruch des Beschwerdeführers, eine Verhandlung zu verlangen. Ihrer Ansicht nach stand es vollständig im Ermessen des Landgerichts, darüber zu entscheiden, ob es eine Verhandlung durchführt, und dementsprechend auch, ob es sie absetzt.

3. Würdigung durch den Gerichtshof

22. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung festgelegt, dass in Verfahren vor einem Gericht des ersten und einzigen Rechtszugs das Recht auf eine öffentliche Verhandlung im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 einen Anspruch auf eine „mündliche Verhandlung“ beinhaltet, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor, die es rechtfertigen, von einer solchen Verhandlung abzusehen (siehe Göç ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 36590/97, Rdnr. 47, ECHR 2002‑V und die darin enthaltene Rechtsprechung). Indem sie die Rechtsprechung transparent macht, trägt eine mündliche Verhandlung vor der Öffentlichkeit zur Verwirklichung des Ziels von Artikel 6 Abs. 1 – ein faires Verfahren – bei, dessen Gewährleistung eines der Grundprinzipien jeglicher demokratischer Gesellschaft im Sinne der Konvention ist (siehe Mehmet Emin Şimşek ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 5488/05, Rdnr. 28, 28. Februar 2012; Szücs ./. Österreich, 24. November 1997, Rdnr. 42, Reports of Judgments and Decisions 1997‑VII). In Verfahren, die sich über zwei Instanzen erstrecken, muss im Allgemeinen mindestens eine Instanz eine solche Verhandlung vorsehen, sofern keine entsprechenden außergewöhnlichen Umstände vorliegen (siehe Salomonsson ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 38978/97, Rdnr. 36, 12. November 2002; Alatulkkila u. a. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 33538/96, Rdnr. 53, 28. Juli 2005).

23. In Bezug auf Zivilverfahren hat der Gerichtshof klargestellt, dass es im Hinblick auf die Natur der Umstände, die einen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung rechtfertigen können, auf die Art der von dem zuständigen innerstaatlichen Gericht zu entscheidenden Fragen und nicht auf die Häufigkeit solcher Sachlagen ankommt. Dies bedeutet nicht, dass die Ablehnung, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, nur in seltenen Fällen gerechtfertigt sein kann (siehe Miller ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 55853/00, Rdnr. 29, 8. Februar 2005).

24. Der Gerichtshof hat außergewöhnliche Umstände in Fällen anerkannt, in denen das Verfahren ausschließlich rechtliche oder sehr technische Fragen betraf (siehe Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, 24. Juni 1993, Rdnr. 58, Serie A Nr. 263; Varela Assalino ./. Portugal (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 64336/01, 25. April 2002; und Speil ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 42057/98, 5. September 2002). Die Durchführung einer Verhandlung kann sich auch dann erübrigen, wenn der Fall keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die auf der Grundlage der Verfahrensakten und der Parteienschriftsätze nicht in angemessener Weise entschieden werden können (siehe Döry ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 28394/95, Rdnr. 37, 12. November 2002).

25. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägung prüft der Gerichtshof nunmehr, ob außergewöhnliche Umstände vorlagen, die den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung über den Rehabilitierungsanspruch des Beschwerdeführers rechtfertigten.

26. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte keinen Grund festgestellt haben, den Fall weiter zu untersuchen oder Zeugen zu laden, weil sie den Sachverhalt als hinreichend aufgeklärt betrachteten. Der Gerichtshof nimmt jedoch auch zur Kenntnis, dass es strittige Tatsachen gab, und zwar, ob gegen den Vater des Beschwerdeführers ein Haftbefehl vorlag und ob die gegen ihn verhängten Sanktionen dazu dienen sollten, ihn wegen seiner Taten während der nationalsozialistischen Herrschaft zu verfolgen, und sie damit Strafcharakter hatten, oder ob es sich um politische Maßnahmen zur Errichtung einer neuen Wirtschaftsordnung handelte.

27. Der Gerichtshof nimmt auch zur Kenntnis, dass das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis bei Verfahren nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz eine mündliche Verhandlung als Ausnahme von der allgemeinen Regel, keine solche Verhandlung durchzuführen, ansehen. Es steht im Ermessen der innerstaatlichen Gerichte zu beurteilen, ob es Gründe für die Durchführung einer Verhandlung gibt. Unstrittig ist, dass das Landgericht Dresden in derartigen Verfahren noch nie zuvor eine Verhandlung durchgeführt hatte. Dennoch beraumte das Landgericht in der vorliegende Rechtssache einen Termin für eine solche Verhandlung an. Grund dafür war, wie in der Entscheidung des Landgerichts vom 8. August 2008 (siehe Rdnr. 9) dargestellt, zum einen der besonders umfangreiche Sachvortrag des Beschwerdeführers und zum anderen, ihm Gelegenheit zu geben, seine Rechtsauffassung zu erläutern. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht damals die Auffassung vertrat, dass eine solche Verhandlung erforderlich war, und er sieht keinen Grund, dies anders zu beurteilen.

28. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass nicht dargelegt wurde, dass zum Zeitpunkt der Anberaumung der Verhandlung außergewöhnliche Umstände im Sinne seiner Rechtsprechung vorlagen, die den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung rechtfertigten.

29. Es bleibt noch zu prüfen, ob sich nach dem 26. Juni 2008, dem Tag der Anberaumung der Verhandlung, außergewöhnliche Umstände ergaben.

30. Die Entscheidung des Landgerichts vom 8. August 2008 deutet darauf hin, dass der einzige neue Aspekt, der sich in der Zwischenzeit ergeben hatte, darin bestand, dass sich der Beschwerdeführer über die Presseerklärung an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht mit dem Inhalt der Presseerklärung nicht einverstanden war, was die Interpretation seiner Begründung für die Anberaumung einer Verhandlung anging, und es daher davon ausging, dass die Angelegenheit nicht mehr mit dem Beschwerdeführer und seinen Anwälten erörtert werden konnte. Jedoch sieht der Gerichtshof die Tatsache, dass das Landgericht nicht mit der Art und Weise einverstanden war, in der die Anwälte des Beschwerdeführers ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit gehandhabt hatten, nicht als „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs an. Auch das Argument der Regierung, die Absetzung der Verhandlung sei durch die Befürchtung des Landgerichts gerechtfertigt gewesen, dass seine Rechtsauffassung das Publikum der öffentlichen Verhandlung verärgern könnte, überzeugt den Gerichtshof nicht. Es wurde nicht dargelegt, dass Störungen wahrscheinlich gewesen wären, die eine öffentliche Verhandlung unmöglich gemacht hätten und denen man nicht mit den einem deutschen Gericht generell zur Verfügung stehenden Maßnahmen hätte begegnen können.

31. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass der Grund, weshalb systematisch keine Verhandlungen in Fällen stattgefunden haben, in denen über Ansprüche nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz zu entscheiden war, darin bestand, das Verfahren zugunsten der Opfer des DDR-Regimes zu vereinfachen und zu beschleunigen (siehe Begründung des Gesetzesentwurfs, Bundestags-Drucksache, 12/1608, S. 2). In der vorliegenden Rechtssache wurde jedoch die Verhandlung erst elf Tage vor dem Termin abgesetzt. Es wurde nicht dargelegt, dass diese Absetzung es ermöglichte, die Sache des Beschwerdeführers schneller zu entscheiden, oder dass sie notwendig war, um die allgemeine Arbeitsbelastung der Gerichte zu verringern.

32. Die vorstehenden Erwägungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass keine außergewöhnlichen Umstände vorlagen, die den Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung und die Absetzung eines zunächst anberaumten Sitzungstermins rechtfertigten.

33. Dementsprechend ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION

34. Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung. Er berief sich auf Artikel 10 der Konvention.

35. Die Regierung beanstandete, der Beschwerdeführer habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft, und bestritt, dass seine Verfassungsbeschwerde diese konkrete Rüge umfasst habe.

36. Der Beschwerdeführer trug vor, er habe die Rüge zumindest der Sache nach in seiner Verfassungsbeschwerde erhoben, in der er ausgeführt habe, dass das Landgericht die mündliche Verhandlung mit dem Ziel abgesetzt habe, eine öffentliche Diskussion über die Angelegenheit zu unterbinden.

37. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer weder in der Sachverhaltsdarstellung noch in der rechtlichen Argumentation seiner Verfassungsbeschwerde einen Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäußerung geltend machte. Die Verfassungsbeschwerde gründete sich auf der Behauptung, dass das Recht des Beschwerdeführers auf wirksame Beschwerde, sein Recht auf rechtliches Gehör und seine Persönlichkeitsrechte verletzt worden seien. Die bloße Behauptung, dass das Landgericht gegen eine öffentliche Debatte gewesen sei, impliziert keinen Vorwurf bezüglich seines Rechts auf freie Meinungsäußerung. Folglich war das Bundesverfassungsgericht nicht in der Lage, über diese Angelegenheit zu entscheiden.

38. Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer hinsichtlich der Rüge nach Artikel 10 die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft hat, wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich. Dieser Teil der Individualbeschwerde ist daher nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

39. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

40. Der Beschwerdeführer verlangte 90 Millionen Euro (EUR) für materiellen und 10.000 Euro (EUR) für immateriellen Schaden.

41. Die Regierung äußerte sich dahingehend, dass zwischen dem behaupteten Verstoß und der von dem Beschwerdeführer geltend gemachten Entschädigung für materiellen Schaden kein Kausalzusammenhang bestehe. Ferner trug sie vor, dass die Feststellung eines Verstoßes eine hinreichende Wiedergutmachung für einen etwaigen immateriellen Schaden darstelle.

42. Der Gerichtshof kann keinen Kausalzusammenhang zwischen dem festgestellten Verstoß und dem behaupteten materiellen Schaden erkennen und weist diese Forderung daher zurück. Auf der anderen Seite ist er der Ansicht, dass dem Beschwerdeführer 3.000 EUR für immateriellen Schaden zugesprochen werden sollten, wobei er nach Billigkeit entscheidet.

B. Kosten und Auslagen

43. Der Beschwerdeführer machte ferner 244.593 EUR für die vor den innerstaatlichen Gerichten und vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten und Auslagen geltend.

44. Die Regierung wandte sich gegen diese Forderung. Sie brachte vor, die Kosten und Auslagen für die Vertretung des Beschwerdeführers im innerstaatlichen Verfahren seien nicht durch die behaupteten Verstöße verursacht worden, denn sie wären in jedem Fall entstanden. Außerdem seien die geltend gemachten Beträge überzogen.

45. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. In der vorliegenden Rechtssache hat der Beschwerdeführer, was die für das innerstaatliche Verfahren geltend gemachten Kosten und Auslagen angeht, nicht nachgewiesen, dass konkrete Kosten und Auslagen im Zusammenhang mit dem Antrag auf eine öffentliche mündliche Verhandlung und der Rüge, dass eine solche Verhandlung nicht durchgeführt wurde, entstanden sind (vgl. Ohneberg ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 10781/08, Rdnr. 41, 18. September 2012). Folglich weist der Gerichtshof die Ansprüche des Beschwerdeführers insoweit zurück.

46. Was die Kosten des Verfahrens vor dem Gerichtshof angeht, stellt er fest, dass der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer nicht in den Genuss von Prozesskostenhilfe kam und er nur teilweise Erfolg hatte. Im Hinblick auf ähnlich gelagerte Fälle (vgl. Koottummel ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 49616/06, Rdnr. 32, 10. Dezember 2009) hält er es für angemessen, ihm unter dieser Rubrik 2.500 EUR zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen. In dem Betrag ist die Mehrwertsteuer enthalten.

C. Verzugszinsen

47. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Rüge nach Artikel 6 wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;

2. Artikel 6 der Konvention ist verletzt worden;

3.

a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:

i) 3.000 EUR (dreitausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;

ii) 2.500 EUR (zweitausendfünfhundert Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;

b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

4. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 9. Juni 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                               Ganna Yudkivska
Kanzlerin                                                  Präsidentin

___________

Gemäß Artikel 45 Absatz 2 der Konvention und Artikel 74 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil das Sondervotum der Richterin Yudkivska beigefügt.

G.Y.
C.W.

ÜBEREINSTIMMENDE MEINUNG VON RICHTERIN YUDKIVSKA

Ich unterstütze sowohl die Schlussfolgerungen als auch die Begründung des vorliegenden Urteils. Der einzige Punkt, mit dem ich nicht einverstanden bin, bezieht sich auf Rndr. 15, in der die Mehrheit feststellt, dass Artikel 6 auf das in Rede stehende Verfahren anwendbar ist, weil es sich bei dem „Recht auf einen guten Ruf“ um einen „zivilrechtlichen Anspruch“ handelt. An dieser Aussage ist an sich nichts Falsches, meiner Ansicht nach trifft sie aber auf die vorliegende Rechtssache nicht zu.

Der Anspruch des Beschwerdeführers betraf nicht seinen eigenen Ruf, sondern den seines Vaters, der als „Naziverbrecher“ und „Kriegsinteressent“ eingestuft worden war. Die Auffassung des Gerichts geht auf die Entscheidung der Kommission in der Rechtssache Isop ./. Österreich[1] zurück, in der festgestellt wurde, dass „das Recht, einen einen guten Ruf zu genießen, und das Recht darauf, dass von einem Gericht darüber entschieden wird, ob Angriffe auf diesen Ruf gerechtfertigt sind, als zivilrechtliche Ansprüche im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 angesehen werden müssen“. Ob eine Person den Ruf eines Familienmitglieds genießen kann und ob der Genuss dieses Rufes als zivilrechtlicher Anspruch dieser Person angesehen werden kann, ist bislang nicht eindeutig geklärt worden.

Der Gerichtshof hat mehrere Fälle nach Artikel 8 geprüft, bei denen es um den Ruf eines verstorbenen Familienmitglieds ging. In der Rechtssache Putistin ./. Ukraine hat der Gerichtshof Folgendes festgestellt: „Die Frage, ob die Beschädigung des Rufes der Familie eines Beschwerdeführers als Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Privatleben angesehen werden kann, wurde zwar aufgeworfen, aber nicht abschließend geklärt […] Der Gerichtshof kann akzeptieren […] dass der Ruf eines verstorbenen Familienmitglieds einer Person unter bestimmten Umständen das Privatleben und die Identität dieser Person beeinträchtigen und damit in den Anwendungsbereich von Artikel 8 fallen kann.“[2] Auch in der Rechtssache Dzhugashvili ./. Russland hat er bestätigt, dass der Ruf [verstorbener Privatpersonen] als Teil des Rufes der Familie insgesamt noch in den Anwendungsbereich von Artikel 8 fällt“[3]. Mein erfahrener Kollege Sir Nicolas Bratza ist jedoch der Ansicht, dass „im Fall von Beleidigung […] die beleidigende Äußerung zwar ohne Zweifel den Ruf des verstorbenen Vorfahren beeinträchtigt, jedoch keine direkte Auswirkung auf das Privat- oder Familienleben der Nachkommen hat“[4].

Es bleibt die Frage, ob das Recht eines Familienmitglieds auf einen guten Ruf einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne von Artikel 6 darstellt.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen an diese Frage in Systemen, die vom kontinentalen Recht bzw. vom Common Law geprägt sind, sind bekannt. Das Common Law verkörpert den Grundsatz „actio personalis moritur cum persona”; wie von Richter Bratza erläutert, überdauert im Rechtssystem seines Herkunftslands „der Klagegrund der Beleidigung den Tod des angeblichen Täters und den der beleidigten Person selbst nicht“[5]. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Dementsprechend endet die […] aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode“[6].

Die Venedig-Kommission hat kürzlich die Frage untersucht, ob Verstorbene ein Recht auf Würde haben, und wenn ja, welche Rechtssubjekte das Recht haben sollten, im Namen einer verstorbenen Person wegen Beleidigung zu klagen[7]. Sie war sich darin einig, dass es „es möglich ist, dass beleidigendes Material bei Verwandten und Vertrauten der verstorbenen Person Leid und ein Ungerechtigkeitsgefühl verursacht“, was als „Sekundärschaden“ bezeichnet werden kann. Gleichzeitig befürchtete sie, dass „die Einführung des Konzepts des Sekundärschadens als Klagegrund […] dazu führen könnte, dass entweder der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird – wenn nämlich der Klagegrund einer vordefinierten, beschränkten Gruppe von Personen, die mit dem Verstorbenen förmlich verbunden sind, zugestanden wird –, oder aber eine erhebliche Abschreckungswirkung auf Personen droht, die sich potentiell zu der Sache äußern (Journalisten, Verleger etc.), und zwar aufgrund der Ausweitung der Klageberechtigung auf jede Person, die vorbringt, dass durch die Beleidigung ihre Interessen beeinträchtigt würden“.

Sie prüfte auch die bislang sehr begrenzte Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage und kam zu dem Schluss, dass „der Gerichtshof jüngst die Möglichkeit für die Verwandten einer verstorbenen Person eröffnet hat, geltend zu machen, dass durch eine diese Person betreffende beleidigende Veröffentlichung ihre Rechte beeinträchtigt worden seien“. Jedoch „hat der Gerichtshof diesem Interesse eine sehr beschränkte Geltung beigemessen“. Die Venedig-Kommission kam zu dem Schluss, dass „die Entscheidung des Gesetzgebers, den Verwandten keinen Klagegrund zuzugestehen, im Lichte der Grundsätze, die der EGMR auf Rechtssachen nach Artikel 10 der Konvention anwendet, gerechtfertigt erscheinen mag“.

Daher hat sich der Gerichtshof, auch wenn er akzeptiert hat, dass das Privatleben einer Person unter bestimmten Umständen durch Angriffe auf den Ruf eines Familienmitglieds beeinträchtigt werden kann, nie dahingehend geäußert, dass das Recht darauf, den Ruf eines Familienmitglieds zu schützen, ein zivilrechtlicher Anspruch ist. Es gibt keinen europäischen Konsens, was die Möglichkeit angeht, sich in Bezug auf den Ruf eines verstorbenen Familienmitglieds gerichtlich zur Wehr zu setzen, und es kann meiner Ansicht nach auch nicht davon gesprochen werden, dass es sich bei dem Recht auf einen guten Ruf eines Familienmitglieds um einen zivilrechtlichen Anspruch handelt.

Da aber der von dem Beschwerdeführer geltend gemachte Anspruch eine finanzielle Entschädigung zum Ziel hatte – also ein pekuniäres Interesse, womit der Anspruch in den Anwendungsbereich von Artikel 6 unter dem zivilrechtlichen Aspekt fällt –, habe ich dennoch zugestimmt, dass Artikel 6 anwendbar ist und unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache verletzt wurde.

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[1] Isop ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 808/60, Kommissionsentscheidung vom 8. März 1962, Jahrbuch 5, S. 108.
[2] Putistin ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 16882/03, Rdnr. 33, 21. November 2013.
[3] Dzhugashvili ./. Russland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 41123/10, Rdnr. 30, 9. Dezember 2014.
[4] John Anthony Mizzi ./. Malta, Individualbeschwerde Nr. 17320/10, 22. November 2011, übereinstimmende Meinung von Richter Bratza.
[5] Ebd.
[6] Mephisto, BVerfGE 30, 173, Bundesverfassungsgericht (Erster Senat), 24. Februar 1971.
[7] Venedig-Kommission, CDL-AD(2014)040, Amicus Curie-Stellungnahme an das georgische Verfassungsgericht zu der Frage der Beleidigung des Verstorbenen, Stellungnahme Nr. 784/2014, 15. Dezember 2014.

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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