EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE F ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 56778/10)
URTEIL
STRASSBURG
30. Juni 2016
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache F. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Carlo Ranzoni und
Mārtiņš Mits,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 7. Juni 2016
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 56778/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, F. („der Beschwerdeführer“), am 23. September 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. In seiner Funktion als Insolvenzverwalter eines deutschen Unternehmens brachte der Beschwerdeführer vor, das Oberlandesgericht Frankfurt am Main habe ihn in seinem Recht auf Zugang zu einem Gericht aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt, indem es ihm Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt habe, seine Forderungen seien verjährt. Unter Berufung auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 6 der Konvention brachte er weiter vor, dass er als unbemittelter Rechtssuchender gegenüber einem bemittelten Rechtssuchenden diskriminiert worden sei.
4. Am 1. September 2014 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLS
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in K. Er ist Rechtsanwalt und wurde 1999 zum Insolvenzverwalter einer deutschen Kommanditgesellschaft (im Folgenden: „das Unternehmen“), bestellt.
A. Das Verfahren vor dem Landgericht Kassel
6. Am 12. Juli 2002 erhob der Beschwerdeführer, in seiner Funktion als Insolvenzverwalter des Unternehmens, Klage gegen B., eine frühere Kommanditistin der KG, um die Rückzahlung von annähernd 56.000 Euro zu erreichen, die sie von der KG als Vorauszahlungen auf Gewinne erhalten hatte.
7. In seiner Klageschrift gab der Beschwerdeführer an, er werde die Klage möglicherweise um eine Forderung über etwa 1,7 Mio. Euro erweitern, um die Rückzahlung der Zahlungen zu erwirken, die B. als Abfindung für die Kommanditbeteiligung und als Gewinnvorschüsse erhalten habe. Der Beschwerdeführer erklärte, er habe wegen der damit verbundenen Kosten derzeit davon Abstand genommen, in Bezug auf diese Forderungen Klage zu erheben.
8. Am 17. Juli 2002 wurde die Klage B. zugestellt.
9. Am 30. Dezember 2004 beantragte der Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe für seine ursprüngliche Klage sowie für die Erhebung der Klage wegen der weiteren Forderungen über etwa 1,7 Mio. Euro. Bezüglich dieser weiteren Forderungen endete die gesetzliche Verjährungsfrist am 31. Dezember 2004. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wurde zum Vorgang genommen. Er wurde weder von einem Richter geprüft noch B. bekannt gegeben.
10. In einem Schreiben vom 24. März erkundigte sich der Beschwerdeführer beim Landgericht, ob ihm Prozesskostenhilfe bewilligt worden sei. Er erhielt keine Antwort. Am 29. August 2005 übersandte er ein weiteres Schreiben, das ebenfalls unbeantwortet blieb. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass er sich außerdem am 10. Juni 2005 und am 14. November 2005 telefonisch beim Landgericht danach erkundigt habe, ob ihm Prozesskostenhilfe gewährt worden sei, und dass ihm die Geschäftsstelle beide Male mitgeteilt habe, dass sich die Akte im Dienstzimmer des Richters befinde und ihm daher keine Auskunft erteilt werden könne.
11. Am 11. Mai 2007 bewilligte das Landgericht, nach einer weiteren schriftlichen Anfrage vom selben Tag, dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe. Die Entscheidung über die Gewährung der Prozesskostenhilfe wurde B. am 16. Mai 2007 zugestellt. Mit Beschluss vom 5. Juli 2007 stellte das Landgericht klar, dass die Bewilligung der Prozesskostenhilfe sich auch auf die am 30. Dezember 2004 erhobenen weiteren Forderungen beziehe.
12. Am 20. Juli 2007 erweiterte der Beschwerdeführer die Klage um die genannten Forderungen. Am 25. Juli 2007 erfolgte die Zustellung an B. Am 1. Oktober 2008 fand eine mündliche Verhandlung statt.
13. Mit Urteil vom 19. November 2008 verurteilte das Landgericht B. zur Zahlung von 15.338,76 Euro an den Beschwerdeführer und wies die ursprüngliche Klage des Beschwerdeführers im Übrigen ab. Das Landgericht wies auch die Klageerweiterung des Beschwerdeführers auf Rückzahlung von etwa 1,7 Mio. Euro ab und stellte fest, dass die Ansprüche verjährt seien. Das Landgericht führte aus, dass die gesetzliche Verjährungsfrist für diese Ansprüche am 31. Dezember 2004 geendet habe und die Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags am 30. Dezember 2004 nicht ausgereicht habe, um die Verjährung zu hemmen, denn das innerstaatliche Recht verlange auch, dass das Gericht die Bekanntgabe an die Gegenpartei veranlasse (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 25-27).
14. Das Landgericht wies darauf hin, dass die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfeantrags an B. erst Mitte 2007 und somit mehr als zweieinhalb Jahre nach Ablauf der Verjährungsfrist erfolgte. Es war der Auffassung, dass die im innerstaatlichen Recht vorgesehene Ausnahmeregelung, nach der die Veranlassung der Bekanntgabe Rückwirkung entfalten könne, im vorliegenden Fall keine Anwendung finde. Nach dieser Ausnahmeregelung trete die Hemmung der Verjährung am Tag der Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags ein, wenn die Veranlassung der Bekanntgabe demnächst erfolge. Das Landgericht stellte fest, dass der Begriff „demnächst“ nach ständiger Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte besage, dass der Rechtssuchende mit der gebotenen Sorgfalt handeln müsse, um die unverzügliche Bekanntgabe oder Zustellung zu bewirken. Der Beschwerdeführer – der als Rechtsanwalt habe wissen müssen, dass es zur Verhinderung der Verjährung seiner Forderung erforderlich gewesen sei, die Bekanntgabe seines Prozesskostenhilfeantrags an die Beklagte „demnächst“ zu veranlassen – habe vorwerfbar zu der Verzögerung beigetragen und somit nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt. Das Landgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer das Landgericht nicht gebeten habe, die Beklagte über seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe, unabhängig von dessen Erfolgsaussichten, unverzüglich zu unterrichten, was er ohne zusätzliche Kosten und ohne irgendwelche prozessualen Nachteile hätte tun können. Anstatt sich danach zu erkundigen, ob die Bekanntgabe seines Antrags veranlasst worden sei, habe sich der Beschwerdeführer darauf beschränkt, sich danach zu erkundigen, ob sein Antrag auf Prozesskostenhilfe bewilligt worden sei. In Bezug auf die angeblichen Telefonanrufe im Juni 2005 und November 2005 stellte das Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer, nachdem das Landgericht auf seine schriftliche Nachfrage vom 24. März 2005 nicht reagiert habe, sich nicht auf die angebliche Aussage der Geschäftsstelle hätte verlassen dürfen. Es sei unverständlich, dass der Beschwerdeführer bis zum 29. August 2005 bzw. 11. Mai 2007 gewartet habe, bevor er sich erneut schriftlich nach der Entscheidung über seinen Prozesskostenhilfeantrag erkundigt habe.
15. Das Landgericht fügte hinzu, dass der Anspruch auf Rückzahlung von etwa 1,7 Mio. Euro ohnehin unbegründet sei, und begründete dies ausführlich.
B. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main
16. An einem nicht genannten Tag beantragte der Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe, um Berufung einzulegen.
17. Am 22. Juni 2009 lehnte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main seinen Antrag ab. Es stellte fest, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg habe, da das Landgericht zu Recht die Auffassung vertreten habe, dass die Forderungen des Beschwerdeführers verjährt seien. Es merkte an, dass das Landgericht die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfeantrags an B. frühestens im Jahr 2007 veranlasst habe, und brachte vor, dass eine Bekanntgabe zweieinhalb Jahre nach Einreichung des Antrags nicht mehr als „demnächst“ nach Einreichung erfolgt gelten könne. Berücksichtigt werden müssten, die Interessen der Beklagten, die von der Stellung des Antrags auf Prozesskostenhilfe keine Kenntnis gehabt habe, am Bestand ihrer erworbenen Rechtspositionen und an der Klarstellung der Rechtslage.
18. Das Oberlandesgericht wies darauf hin, dass der Begriff „demnächst“ nach ständiger Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte bedeute, dass die mit einer verspäteten Bekanntgabe verbundenen Risiken gerecht zwischen beiden Streitparteien verteilt sein müssten und der betreffende Rechtssuchende daher mit der gebotenen Sorgfalt handeln müsse, um die unverzügliche Bekanntgabe zu bewirken. Darüber hinaus dürften der Rückwirkung keine schutzwürdigen Interessen der Gegenpartei entgegenstehen (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 26). Das Oberlandesgericht bestätigte die Feststellung des Landgerichts, der Beschwerdeführer habe nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt. Es betonte, dass der Beschwerdeführer, um eine Hemmung der Verjährung zu bewirken, das Landgericht auf den unmittelbar bevorstehenden Ablauf der Verjährungsfrist hätte hinweisen und um die unverzügliche Veranlassung der Bekanntgabe an die Beklagte hätte bitten müssen. Der Beschwerdeführer hätte nämlich auch in Rechnung stellen müssen, dass das Landgericht seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe ohne Anhörung und daher auch ohne Bekanntgabe an die Beklagte hätte ablehnend entscheiden können, wenn es die Forderung für unbegründet oder den Beschwerdeführer für bemittelt erachtet hätte (a-limine-Entscheidung). Das Oberlandesgericht hielt auch die nachfolgenden Schritte des Beschwerdeführers nicht für ausreichend, da dieser nicht darum gebeten habe, die Bekanntgabe unverzüglich zu veranlassen. Das Oberlandesgericht stützte seine die Prozesskostenhilfe ablehnende Entscheidung ausschließlich auf die Feststellung, die Forderungen seien verjährt.
c. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
19. An einem nicht genannten Tag legte der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht ein. Darin brachte er vor, dass er durch die Ablehnung seines Antrags auf Prozesskostenhilfe in seinem Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt worden sei, und dass er als unbemittelte Person gegenüber einer bemittelten Person diskriminiert worden sei.
20. Am 19. Juli 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht in einer aus drei Richtern bestehenden Kammer ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1873/09). Es stellte fest, dass die Dauer der Bearbeitung des Prozesskostenhilfeantrags und die verzögerte Veranlassung der Bekanntgabe an die Beklagte durch das Landgericht grob fehlerhaft gewesen seien. Dennoch stehe die Entscheidung des Oberlandesgerichts mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Einklang, wonach eine Bekanntgabe nur dann als demnächst nach Einreichung des Prozesskostenhilfeantrags erfolgt gelten könne, wenn der betreffende Antragsteller sich mit der gebotenen Sorgfalt um die alsbaldige Bekanntgabe bemüht habe, und wenn der Rückwirkung keine schutzwürdigen Interessen der Gegenpartei entgegenstünden (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 26). Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Feststellung des Oberlandesgerichts, der Beschwerdeführer habe nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt, keine Bedenken aufwerfe. Der Beschwerdeführer habe das Landgericht nicht gebeten, die Beklagte unverzüglich über den Prozesskostenhilfeantrag zu unterrichten. Weder in seiner ursprünglichen Klage noch in seinen nachfolgenden Anfragen habe der Beschwerdeführer auf die besondere Dringlichkeit der Angelegenheit, d. h. auf die unmittelbar bevorstehende Verjährung der Forderungen, hingewiesen.
21. Bezüglich der angeblichen Diskriminierung stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass sich unbemittelte und bemittelte Rechtssuchende, was die Möglichkeiten zur Hemmung der Verjährung und die damit verbundenen Pflichten angehe, in einer vergleichbaren Situation befänden. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 28), war es der Auffassung, dass ein bemittelter Kläger sich nicht auf die Einreichung der Klage beschränken dürfe, sondern das Gericht daran erinnern müsse, ihn zur Zahlung der erforderlichen Gerichtskosten aufzufordern, oder, sollte das Gericht diese Aufforderung versäumen, die Kosten unaufgefordert zahlen müsse, um eine Zustellung der Klage herbeizuführen. Das Bundesverfassungsgericht befand, dass diese Verpflichtungen eines bemittelten Klägers mit den Verpflichtungen des Beschwerdeführers, also der Verpflichtung, das betreffende Gericht um unverzügliche Bekanntgabe seines Prozesskostenhilfeantrags an die Beklagte zu bitten, und der Verpflichtung, das Gericht an die Veranlassung der Bekanntgabe zu erinnern, vergleichbar gewesen seien.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Bestimmungen über die anwaltliche Vertretung und die Prozesskostenhilfe
22. Die Voraussetzungen für Prozesskostenhilfe sind in § 114ff. ZPO festgelegt. Nach diesen Bestimmungen erhält eine Partei, die eine juristische Person ist und die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Es obliegt dem Gericht, das für die beabsichtigte Klage selbst zuständig ist, über Anträge auf Prozesskostenhilfe zu entscheiden (§ 127 Abs. 1 ZPO). Gegen die Entscheidung, keine Prozesskostenhilfe zu gewähren, kann Beschwerde eingelegt werden (§ 127 Abs. 2 ZPO).
B. Das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz
23. Am 1. Januar 2002 trat das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. November 2001 in Kraft, das eine regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren vorsieht. Folglich verjährten zahlreiche Forderungen am 31. Dezember 2004. Die Regeln für den Neubeginn der Verjährung und die Hemmung der Verjährung wurden im Zuge dieser Reform ebenfalls in wesentlichen Teilen neu gefasst.
1. Hemmung der Verjährung durch Erhebung der Klage
24. § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB sieht vor, dass die Verjährung durch die Zustellung einer Klage an die beklagte Partei gehemmt wird. Das innerstaatliche Recht sieht vor, dass eine Klage -im Regelfall – nur zugestellt werden kann, wenn die Klagepartei die erforderlichen Gerichtsgebühren gezahlt hat. Ausnahmsweise wird die Verjährung rückwirkend ab dem Tag der Klageeinreichung gehemmt, wenn die Klage „demnächst“ nach ihrer Einreichung zugestellt wird. § 167 ZPO sieht vor:
„§ 167 Rückwirkung der Zustellung
Soll durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden oder die Verjährung neu beginnen oder nach § 204 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gehemmt werden, tritt diese Wirkung bereits mit Eingang des Antrags oder der Erklärung ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt.“
2. Hemmung der Verjährung durch Einreichung des Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
25. Vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes war es ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass bereits die Einreichung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe die Verjährung hemmt. Die Gesetzesänderungen beruhten auf dem Grundsatz, dass die Unterbrechung oder Hemmung der Verjährung voraussetzt, dass die beklagte Partei von der gegen sie beabsichtigten Klageerhebung Kenntnis nehmen kann. Zu Beweiszwecken wurde entschieden, dass die Hemmung der Verjährung mit der Anordnung der Bekanntgabe an die beklagte Partei durch das Gericht, und nicht mit der eigentlichen Bekanntgabe, eintreten solle. Um mögliche Nachteile zu kompensieren, die sich aus Verzögerungen bei dem zuständigen Gericht ergeben könnten, tritt die Hemmung der Verjährung ausnahmsweise mit dem Tag ein, an dem ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe eingereicht wird, wenn die Bekanntgabe eines solchen Antrags demnächst nach seiner Einreichung veranlasst wird. § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB, der in dieser Hinsicht § 167 ZPO ähnelt, lautet wie folgt:
„§ 204 Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung
(1) Die Verjährung wird gehemmt durch (…)
14. die Veranlassung der Bekanntgabe des erstmaligen Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe; wird die Bekanntgabe demnächst nach der Einreichung des Antrags veranlasst, so tritt die Hemmung der Verjährung bereits mit der Einreichung ein. (…)”
2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
1. Die Auslegung des Begriffs „demnächst“ in Bezug auf die Zustellung oder Bekanntgabe
26. Nach ständiger Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte ist der Begriff „demnächst“, der in verschiedenen Bestimmungen des deutschen Zivilrechts und Zivilprozessrechts enthalten ist und die Rückwirkung einer bestimmten Handlung vorsieht, so zu verstehen, dass das Risiko einer verspäteten Bekanntgabe gerecht zwischen beiden Streitparteien verteilt sein muss und folglich der betreffende Rechtssuchende mit der gebotenen Sorgfalt handeln muss, um die sofortige Bekanntgabe zu bewirken, und dieser Rückwirkung keine legitimen Interessen des Beklagten entgegenstehen dürfen (siehe u. v. a. Bundesgerichtshof, VII ZR 24/98, Urteil vom 27. Mai 1999, Rdnr. 10 : – “… sofern die Partei alles ihr Zumutbare für eine alsbaldige Zustellung getan hat und schutzwürdige Belange der Gegenseite [der Rückbeziehung der Zustellungswirkung] nicht entgegenstehen.”).
2. Hemmung der Verjährung durch Einreichung eines Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
27. In seinem Urteil vom 24. Januar 2008 (IX ZR 195/06) stellte der Bundesgerichtshof fest, dass aus dem Wortlaut von § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB klar hervorgehe, dass die bloße Stellung eines Prozesskostenhilfeantrags nicht ausreiche, um die Verjährungshemmung in Gang zu setzen. Er stellte fest, dass hinsichtlich der Möglichkeit, die Verjährung zu hemmen, die Situation derjenigen, die mangels finanzieller Mittel die Gerichtsgebühren nicht zahlen könnten und Prozesskostenhilfe beantragen müssten, nicht schlechter sei als die Situation derjenigen, die über genügend finanzielle Mittel verfügten. Um die Verjährungshemmung zu bewirken, genüge es, dass ein unbemittelter Antragsteller den mit der Sache befassten Richter darum bitte, die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfeantrags an die Gegenseite zu veranlassen. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass eine solche Bitte keinerlei Nachteilen für den Antragsteller mit sich bringe, da sie auch dann nicht mit zusätzlichen Kosten verbunden sei, wenn der Prozesskostenhilfeantrag später abgewiesen werden sollte. Er betonte, dass der betreffende Richter sich dieser Bitte nicht verschließen dürfe.
3. Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung durch Erhebung der Klage
28. In Bezug auf die Sorgfalt, die im Hinblick auf die Verjährungshemmung von Klägern verlangt wird, stellte der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 19. Oktober 1977 (IV ZR 149/76) fest, dass der Kläger, wenn das betreffende Gericht ihn nicht aufgefordert habe, die vor der Zustellung der Klage an die beklagte Partei – der Handlung, mit der die Hemmung der Verjährung bewirkt wird – fälligen Gerichtskosten zu zahlen, das Gericht an die Aufforderung zur Zahlung erinnern müsse, oder die Kosten sogar unaufgefordert zahlen müsse, um die Zustellung der Klage zu bewirken (Der Kläger “[muss] alles Zumutbare tun, um die Voraussetzungen für eine alsbaldige Zustellung der Klage zu schaffen, [hat] mithin nicht nur Verzögerungen zu vermeiden, sondern auch im Sinne einer möglichsten Beschleunigung zu wirken.“, a. a. O., Rdnr. 10).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION
29. In seiner Funktion als Insolvenzverwalter des Unternehmens rügte der Beschwerdeführer, das Oberlandesgericht Frankfurt am Main habe ihn in seinem Recht auf Zugang zu einem Gericht aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt, indem es ihm Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt habe, seine Forderungen seien verjährt. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention lautet:
„1. Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“
30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
31. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Der Beschwerdeführer
32. Der Beschwerdeführer brachte vor, er habe am 30. Dezember 2004, also vor Ablauf der Verjährungsfrist, einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt, der allen Anforderungen genügt habe und der, als im Mai 2007 darüber entschieden worden sei, erfolgreich gewesen sei. Er habe also alles Erforderliche getan, um die Hemmung der Verjährung zu bewirken. Auf die zur Bewirkung der Hemmung der Verjährung vorzunehmende Handlung– also die Veranlassung der Bekanntgabe an die Beklagte – habe er keinen Einfluss gehabt.
33. Der Beschwerdeführer brachte vor, er habe nicht wissen können, dass das Landgericht die Bekanntgabe seines Prozesskostenhilfeantrags an die Beklagte nicht veranlasst habe, und habe zu Recht annehmen dürfen, dass das Gericht seinen im innerstaatlichen Recht niedergelegten Verpflichtungen nachkommen und den von gestellten Prozesskostenhilfeantrag bearbeiten werde. Ihn dazu zu verpflichten, das Landgericht um die sofortige Bekanntgabe des Prozesskostenhilfeantrags an die Beklagte zu bitten, sei zu formalistisch, verfolge kein legitimes, einer geordneten Rechtspflege dienendes Ziel und sei unverhältnismäßig. Dadurch, dass von ihm verlangt werde, sicherzustellen, dass die innerstaatlichen Gerichte rechtmäßig handelten, werde die Verantwortlichkeit für die Versäumnisse der Gerichte unzulässigerweise auf ihn verlagert. Die innerstaatlichen Gerichte hätten bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts die Grundsätze von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht beachtet. Ihre Entscheidungen hätten sein „Recht auf ein Gericht“ in seinem Wesensgehalt verletzt.
(b) Die Regierung
34. Die Regierung brachte vor, dass das deutsche Prozesskostenhilfesystem wie auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht zu versagen, mit der Konvention vereinbar seien. Sie wies darauf hin, dass das vom Gerichtshof diesbezüglich angewendete Kriterium die Frage sei, ob die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte willkürlich erschienen. Die ausführliche Entscheidung des Oberlandesgerichts, das sich eingehend mit den Argumenten des Beschwerdeführers und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs befasst habe, lasse keine Anzeichen für Willkür erkennen.
35. Die Regierung nahm Bezug auf den eindeutigen Wortlaut von § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB, in der mit Wirkung vom 1. Januar 2002 geänderten Fassung, und die dieser Gesetzesänderung zugrunde liegende Überzeugung, dass die Unterbrechung oder Hemmung der Verjährung voraussetze, dass die beklagte Partei von der gegen sie beabsichtigten Klageerhebung habe Kenntnis nehmen und entsprechende beweissichernde Maßnahmen habe ergreifen können. Mit den Änderungen sei bewusst festgelegt worden, dass die die Verjährungshemmung auslösende Handlung, die Veranlassung der Bekanntgabe an die Gegenpartei durch das zuständige Gericht sei.
36. Die Regierung wies darauf hin, dass das innerstaatliche Recht zur Kompensation möglicher Nachteile durch Verzögerungen bei dem zuständigen Gericht vorsehe, dass die Hemmung der Verjährung rückwirkend mit dem Tag eintrete, an dem ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe eingereicht werde, wenn die Bekanntgabe eines solchen Antrags „demnächst“ nach seiner Einreichung veranlasst werde. Die Regierung brachte vor, dass der Begriff „demnächst“ nach ständiger Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte besage, dass das Risiko einer verspäteten Bekanntgabe gerecht zwischen beiden Streitparteien verteilt sein müsse, was bedeute, dass der betreffende Rechtssuchende mit der gebotenen Sorgfalt handeln müsse, um die sofortige Bekanntgabe zu bewirken, und dass der Rückwirkung keine schutzwürdigen Belange der Gegenpartei entgegenstehen dürften. Der Beschwerdeführer habe nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt, da er zu keinem Zeitpunkt auf die besondere Eilbedürftigkeit der Angelegenheit, d. h. den unmittelbar bevorstehenden Verjährungseintritt, hingewiesen habe und das Landgericht auch nicht gebeten habe, die unverzügliche Bekanntgabe des Rechtshilfeersuchens an die Beklagte zu veranlassen, was er hätte tun können, ohne dass ihm zusätzliche Kosten oder prozessuale Nachteile entstanden wären. Die Beklagte, die von der Absicht des Beschwerdeführers, Klage gegen sie zu erheben, erst zweieinhalb Jahre nach Ablauf der Verjährungsfrist erfahren habe, habe ein berechtigtes Interesse daran, dass der Bekanntgabe keine Rückwirkung zukomme.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
37. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention den Prozessparteien zwar ein wirksames Recht auf Zugang zu den Gerichten zur Klärung ihrer „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ zusichert, der Staat die Mittel zur Erreichung dieses Ziels aber frei wählen kann (siehe Airey ./. Irland, 9. Oktober 1979, Rdnr. 26, Serie A Band 32). Nach der Konvention besteht keine Verpflichtung, für alle Streitigkeiten in Zivilverfahren Prozesskostenhilfe bereitzustellen, da sich der Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c, der unter bestimmten Voraussetzungen das Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers in Strafverfahren garantiert, deutlich vom Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 unterscheidet, der keinen Hinweis auf anwaltlichen Beistand enthält (siehe Del Sol ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 46800/99, Rdnr. 20, ECHR 2002-II). Das Recht auf Zugang zu einem Gericht ist also kein absolutes Recht und kann eingeschränkt werden, solange die Einschränkungen ein legitimes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind. Insbesondere kann es akzeptabel sein, Bedingungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe aufzustellen, die u. a. auf die finanzielle Lage der Prozesspartei oder deren Erfolgsaussichten im Verfahren abstellen (siehe Steel und Morris ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 68416/01, Rdnr. 62, ECHR 2005‑II), vorausgesetzt, das Prozesskostenhilfesystem bietet dem Einzelnen ausreichende Garantien, die ihn vor Willkür schützen (siehe Gnahoré ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 40031/98, Rdnr. 41, ECHR 2000‑IX).
38. Der Gerichtshof merkt an, dass das deutsche Prozesskostenhilfesystem den Prozessparteien ausreichende Garantien bietet, um sie vor Willkür zu schützen (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 22, sowie E. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 23947/03, 10. April 2007; H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 54193/07, 8. Dezember 2009).
39. Er hat festgestellt, dass Verjährungsfristen legitimen Zielen dienen: der Herstellung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, dem Schutz potenzieller Beklagter vor weit zurückliegenden Ansprüchen, denen möglicherweise nur schwer entgegengetreten werden kann, und der Vermeidung von Ungerechtigkeiten, die entstehen könnten, wenn Gerichte auf der Grundlage von Beweismitteln, die aufgrund des Zeitablaufs unzuverlässig oder unvollständig sind, über weit zurückliegende Ereignisse entscheiden müssten (Stubbings u. a. ./. Vereinigtes Königreich, 22. Oktober 1996, Rdnr. 51, Reports of Judgments and Decisions 1996-IV; Stagno ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 1062/07, Rdnr. 26, 7. Juli 2009; Howald Moor u. a. ./. Schweiz, Individualbeschwerden Nrn. 52067/10 und 41072/11, Rdnr. 72, 11. März 2014).
40. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Beschwerdeführer, in seiner Funktion als Insolvenzverwalter des Unternehmens, am 30. Dezember 2004 wegen weiterer Forderungen gegen B., eine frühere Kommanditisten des Unternehmens, Prozesskostenhilfe beantragte, um die Rückzahlung von Zahlungen zu erwirken, die das Unternehmen an sie getätigt hatte. Das Landgericht stellte fest, dass diese Forderungen verjährt seien, weil das Gericht die Bekanntgabe des Antrags des Beschwerdeführers an die Beklagte nicht veranlasst habe. Das Oberlandesgericht wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Einlegung der Berufung mit der Begründung zurück, die Berufung habe keine Aussicht auf Erfolg, weil das Landgericht die Forderungen des Beschwerdeführers zu Recht als verjährt angesehen habe.
41. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer, in seiner Funktion als Insolvenzverwalter des Unternehmens, mit der Stellung eines Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zum Zwecke einer Klage wegen Forderungen über etwa 1,7 Mio. Euro bis zum vorletzten Tag der dreijährigen Verjährungsfrist gewartet hatte. Der Antrag bewirkte für sich genommen keine Verjährungshemmung. Vielmehr trat die Hemmung der Verjährung nach Anfang 2002 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen gemäß Artikel 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB erst ein, als das zuständige Gericht die Bekanntgabe an die Beklagte veranlasste.
42. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass der deutsche Gesetzgeber aufgrund seiner Auffassung, die Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung setze voraus, dass die beklagte Partei von der gegen sie beabsichtigten Klageerhebung habe Kenntnis nehmen können, eine mit der Bekanntgabe des Prozesskostenhilfegesuchs im Zusammenhang stehende Handlung gewählt hat (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 25). Dies diente dem Zweck, das berechtigte Interesse der beklagten Partei am Schutz ihrer Rechtspositionen zu wahren und die Rechtslage im Hinblick auf die Verjährung zu klären. Zu Beweiszwecken entschied der Gesetzgeber, dass die Hemmung der Verjährung mit der Veranlassung der Bekanntgabe an die beklagte Partei durch das zuständige Gericht, und nicht mit der eigentlichen Bekanntgabe an diese, eintreten solle (ebd.). Die vorstehenden Ausführungen reichen dem Gerichtshof für die Schlussfolgerung aus, dass die in Rede stehende Bestimmung, § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB, nicht per se mit der Konvention unvereinbar war.
43. In der vorliegenden Rechtssache hatte das Landgericht bis zum Ablauf der Verjährungsfrist am 31. Dezember 2004 die Bekanntgabe nicht veranlasst. Daher konnte die Verjährung nur rückwirkend gehemmt werden. Diese Ausnahme war im innerstaatlichen Recht vorgesehen, um die möglichen Nachteile zu kompensieren, die den Prozessbeteiligten durch Verzögerungen bei dem zuständigen Gericht entstehenden könnten (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 25). Eine solche rückwirkende Hemmung setzte voraus, dass das zuständige Gericht die Bekanntgabe „demnächst“ nach Einreichung des Antrags auf Prozesskostenhilfe veranlasste. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht es nach Feststellung des Bundesverfassungsgerichts grob fehlerhaft unterließ, die Bekanntgabe an B. zu veranlassen. B. erfuhr von dem Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe erst, als ihr die Entscheidung des Landgerichts, dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe zu gewähren, am 16. Mai 2007, und somit mehr als zweieinhalb Jahre nach Ablauf der Verjährungsfrist, zugestellt wurde. Sowohl das Landgericht in seinem Urteil vom 19. November 2008, als auch das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 22. Juni 2009 stellten fest, dass der Beschwerdeführer nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt und somit zu der Verzögerung beigetragen habe. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seien unter diesen Umständen die Voraussetzungen für eine Rückwirkung der Bekanntgabe nicht erfüllt (siehe Rdnrn. 14 und 18).
44. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es zunächst einmal Aufgabe der nationalen Behörden, namentlich der Gerichte, ist, die innerstaatlichen Gesetze auszulegen. Die Rolle des Gerichtshofs beschränkt sich darauf, zu überprüfen, ob die Auswirkungen einer solchen Auslegung mit der Konvention vereinbar sind. Er stellt fest, dass die von dem Beschwerdeführer gerügte Entscheidung des Oberlandesgerichts auf dem Wortlaut von § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung des Begriffs „demnächst“ in Bezug auf die rückwirkende Hemmung der Verjährung beruhte.
45. Es trifft zu, dass es Aufgabe des Landgerichts war, die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfeantrags des Beschwerdeführers an B. zu veranlassen, und dass das Gericht, wie das Bundesverfassungsgericht feststellte, dies grob fehlerhaft unterließ. Der Beschwerdeführer hatte sich jedoch auf die Einreichung eines Antrags auf Prozesskostenhilfe beschränkt. Das Oberlandesgericht hatte, wie vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, zu Recht berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer das Landgericht nicht auf den unmittelbar bevorstehenden Ablauf der Verjährungsfrist hingewiesen und auch nicht um Veranlassung der sofortigen Bekanntgabe an die Beklagte gebeten hatte, was er hätte tun können, ohne dass ihm Kosten oder prozessuale Nachteile entstanden wären, und dass er sich auch nicht nach der Bekanntgabe an die Beklagte erkundigt hatte, als er später wegen seines Prozesskostenhilfeantrags Kontakt mit dem Landgericht aufnahm. Auch bei den beiden schriftlichen Anfragen des Beschwerdeführers vom 24. März 2005 bzw. 29. August 2005 ging es nur die Frage, ob seinem Antrag auf Prozesskostenhilfe stattgegeben worden war, und nicht um die Frage, ob das Gericht die Bekanntgabe an die Beklagte veranlasst hatte.
46. Der Gerichtshof ist darüber hinaus der Auffassung, dass dem Beschwerdeführer, da er selbst Rechtsanwalt ist, die nach den am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen einschlägigen Regeln zur Verjährungshemmung bekannt gewesen sein mussten. Darüber hinaus war er aufgrund seiner Funktion als Insolvenzverwalter des Unternehmens zu besonderer Sorgfalt verpflichtet. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof auch fest, dass der Beschwerdeführer in seiner im Juli 2002 eingereichten Klageschrift angegeben hatte, dass er bezüglich der in Rede stehenden Forderungen möglicherweise eine weitere Klage einreichen würde, und innerhalb der Verjährungsfrist ein Verfahren hätte einleiten können (vgl., im Gegensatz dazu, Howald Moor u. a. ./. Schweiz, a. a. O., Rdnr. 74-79, Stagno ./. Belgien, a. a. O., Rdnrn. 29-34).
47. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die rückwirkende Hemmung der Verjährung eine Ausnahme von der Regel darstellte und voraussetzte, dass dieser Rückwirkung keine legitimen Interessen der beklagten Partei entgegenstanden. In der vorliegenden Rechtssache erfuhr die Beklagte erst Jahre nach Ablauf der Verjährungsfrist von dem Prozesskostenhilfeantrag und hatte ein legitimes Interesse am Schutz ihrer Rechtspositionen.
48. Unter Berücksichtigung aller Umstände stellt der Gerichtshof fest, dass die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Auslegung der anwendbaren Rechtsvorschriften zur Prozesskostenhilfe und Verjährung daher nicht als willkürlich angesehen werden kann. Es kann nicht gesagt werden, dass das Recht des – als Insolvenzverwalter des Unternehmens tätigen – Beschwerdeführers auf Zugang zu einem Gericht durch die Versagung der Prozesskostenhilfe in unverhältnismäßiger Weise unter Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention eingeschränkt wurde.
49. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 14 IN VERBINDUNG MIT ARTIKEL 6 DER KONVENTION
50. Unter Berufung auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 6 der Konvention brachte der Beschwerdeführer vor, dass er in seiner Funktion als Insolvenzverwalter des Unternehmens ein unbemittelter Rechtssuchender sei und gegenüber einem vermögenden Rechtssuchenden diskriminiert werde. Er brachte vor, dass ein unbemittelter Rechtssuchender zur Bewirkung der Verjährungshemmung auf einen Richter angewiesen sei, der die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfegesuchs an die Gegenseite veranlassen müsse. Wäre er ein bemittelter Rechtssuchender, der ohne Einreichung eines Prozesskostenhilfegesuchs hätte Klage erheben können, wäre es nicht zur Verjährung der in Rede stehenden Forderungen gekommen.
51. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
52. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge mit der vorstehend bereits geprüften Rüge verknüpft ist und daher ebenfalls für zulässig zu erklären ist.
53. Der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache fällt in den Anwendungsbereich von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention. Folglich ist Artikel 14 der Konvention anwendbar.
54. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung festgestellt, dass eine Diskriminierung vorliegt, wenn Personen, die sich in Situationen befinden, die in erheblichem Maße vergleichbar sind, ohne sachliche und vernünftige Gründe unterschiedlich behandelt werden (siehe P. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 65480/10, Rdnr. 37, 28. Januar 2016, mit weiteren Nachweisen). Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage, ob und inwieweit Unterschiede bei ansonsten ähnlichen Situationen eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen (siehe Rechtssache O. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 59140/00, Rdnr. 33, 25. Oktober 2005).
55. Was die vorliegende Rechtssache anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass es bei der unterschiedlichen Behandlung darum geht, ob die Rechtssuchenden die Möglichkeit haben, durch eigene Handlungen die Hemmung der Verjährung zu bewirken.
56. Der Gerichtshof stellt fest, dass nach innerstaatlichem Gericht das zuständige Gericht in beiden Fällen tätig werden musste, um eine Verjährungshemmung zu bewirken: Im Falle eines bemittelten Rechtssuchenden war eine förmliche Zustellung der Klage an die beklagte Partei erforderlich, die der Rechtssuchende nicht selbst vornehmen konnte (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 24 und 28). Im Falle eines unbemittelten Rechtssuchenden, wie bei dem Beschwerdeführer in seiner Funktion als Insolvenzverwalter des Unternehmens, musste das zuständige Gericht die Bekanntgabe des Prozesskostenhilfegesuchs an die Beklagte veranlassen (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnrn. 25 und 27).
57. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Rechtssuchenden nach innerstaatlichem Recht in beiden Fällen gewissen Pflichten unterlagen, um die Verjährungshemmung zu bewirken. Ein bemittelter Kläger durfte sich nicht auf die Einreichung der Klage beschränken, sondern musste das Gericht daran erinnern, ihn zur Zahlung der erforderlichen Gerichtskosten aufzufordern, oder, sollte das Gericht diese Aufforderung versäumen, die Kosten unaufgefordert zahlen, um eine Zustellung der Klage herbeizuführen (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 28). Ein unbemittelter Kläger musste um die sofortige Bekanntgabe des Prozesskostenhilfeantrags an die beklagte Partei bitten, und das Gericht an die Veranlassung der Bekanntgabe erinnern (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 27). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die jeweiligen Pflichten beider Klägergruppen beinahe identisch waren, und eine etwaige Ungleichbehandlung den Beurteilungsspielraum nicht überschreiten würde, der den Vertragsstaaten bei der Regelung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht zusteht.
58. Folglich liegt kein Verstoß von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 6 der Konvention vor.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist nicht verletzt worden;
3. Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 6 der Konvention ist nicht verletzt worden;
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 30. Juni 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Ganna Yudkivska
Kanzlerin Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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