STRACK UND RICHTER ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerden Nrn. 28811/12 und 50303/12

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 28811/12 und 50303/12
S. ./. Deutschland
R. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 5. Juli 2016 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Khanlar Hajiyev, Präsident,
Angelika Nußberger,
Erik Møse,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
und Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, die am 9. Mai 2012 bzw. 9. Juli 2012 eingereicht wurden,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die Beschwerdeführer sind deutsche Staatsangehörige. Der erste Beschwerdeführer, S., wurde 19.. geboren und ist in K. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wird er von Herrn F., Rechtsanwalt in M., vertreten. Der zweite Beschwerdeführer, R., wurde 19.. geboren und ist in S. wohnhaft.

A. Die Umstände des Falls

2. Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Der Hintergrund der Rechtssache

3. Am 7. Juni 2009 fand die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments statt. In Übereinstimmung mit dem Recht der Europäischen Union erfolgte dies in allen Mitgliedstaaten nach dem Verhältniswahlsystem, wobei eine Sperrklausel von bis zu 5% der abgegebenen Stimmen zulässig ist (siehe die einschlägigen Vorschriften des Rechts der Europäischen Union, Rdnr. 15). Deutschland machte von dieser Vorschrift Gebrauch und legte eine 5%-Sperrklausel fest (siehe § 2 Abs. 7 des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz), Rdnr. 9), wie es dies bereits seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 getan hatte, d. h. eine Partei, die nicht 5% der abgegebenen Stimmen auf nationaler Ebene erreichte, bekam keinen der 99 deutschen Sitze im Europäischen Parlament. 2009 wurden ähnliche Sperrklauseln auch noch von anderen der größeren EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich, Polen, Rumänien und Italien angewendet. In Deutschland führte die Sperrklausel dazu, dass sieben Parteien bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wurden, obwohl sie ohne die Sperrklausel einen oder zwei Sitze errungen hätten. Nach Auffassung des Beschwerdeführers wurden daher 10,8 % der Stimmen „vergeudet“.

4. Beide Beschwerdeführer waren bei der in Rede stehenden Wahl wahlberechtigt. Nachdem der Bundestag ihre entsprechenden Einsprüche gegen das Wahlergebnis zurückgewiesen hatte, legten beide Beschwerdeführer Wahlprüfungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht ein und beantragten, die Wahl der betreffenden deutschen MdEP für ungültig zu erklären und eine Neuwahl anzuordnen oder hilfsweise die für die deutschen MdEP vorgesehenen Sitze entsprechend dem Wahlergebnis neu zu verteilen und dabei keine Sperrklausel anzuwenden.

2. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Rüge des ersten Beschwerdeführers

5. Am 9. November 2011 urteilte das Bundesverfassungsgericht in den Verfahren des ersten Beschwerdeführers und zwei weiterer Wähler, dass die Sperrklausel mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig sei (2 BvC 4/10). In Anbetracht des eng bemessenen Beurteilungsspielraums sei die Beschränkung der Erfolgswertgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien nicht durch ein legitimes Ziel nach dem deutschen Grundgesetz zu rechtfertigen. Die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments sei grundsätzlich durch die transnationalen Fraktionen gewährleistet und würde durch einen Anstieg der Zahl der über 160 vertretenen Parteien nicht gefährdet.

6. Das Bundesverfassungsgericht wies jedoch den Antrag des ersten Beschwerdeführers, eine Wiederholung der Wahl anzuordnen, zurück. Der Wahlfehler rechtfertige es nicht, das Wahlergebnis für ungültig zu erklären. Dem Interesse am Bestandsschutz der von den Wählern im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des Europawahlgesetzes gewählten Volksvertretung sei Vorrang gegenüber der Berichtigung des Wahlfehlers einzuräumen. Eine Neuwahl in Deutschland würde sich störend und mit nicht abschätzbaren Folgen auf die laufende Arbeit des Europäischen Parlaments auswirken, insbesondere auf die Zusammenarbeit der Abgeordneten in den Fraktionen und Ausschüssen. Dem stehe ein Wahlfehler gegenüber, der nicht als „unerträglich“ anzusehen sei. Er betreffe nur einen geringen Anteil der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments und stelle ihre Legitimation nicht in Frage.

7. Das Bundesverfassungsgericht ordnete auch keine Neuverteilung der Sitze an. Es sei davon auszugehen, dass die Sperrklausel bei einer Reihe von Wählern zu strategischem Wahlverhalten geführt habe, indem sie entweder kleine Parteien nicht gewählt hätten, um ihre Stimme nicht zu „vergeuden“, oder umgekehrt ihre Stimme gerade im Hinblick auf die Folgenlosigkeit dieser Wahlentscheidung einer kleinen Partei gegeben hätten. Folglich lasse sich nicht darüber spekulieren, wie sich die Sperrklausel auf die Wahl insgesamt ausgewirkt habe.

3. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Rüge des zweiten Beschwerdeführers

8. Am 19. Juni 2012 wies das Bundesverfassungsgericht die Wahlprüfungsbeschwerde des zweiten Beschwerdeführers hinsichtlich seines Antrags zurück, eine Wiederholungswahl anzuordnen oder hilfsweise die Sitze unter Außerachtlassung der Vorschriften über die 5%-Sperrklausel neu zu verteilen. In seiner Begründung verwies es in erster Linie auf seine Entscheidung im Verfahren des ersten Beschwerdeführers.

B. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis

9. § 2 Abs. 7 Europawahlgesetz in der zum Zeitpunkt der Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 geltenden Fassung lautet:

„Bei der Verteilung der Sitze auf die Wahlvorschläge werden nur Wahlvorschläge berücksichtigt, die mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben.“

10. § 3 Abs. 1 Europawahlgesetz lautet:

„Wahlgebiet ist das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.“

11. Artikel 41 Grundgesetz lautet, soweit maßgeblich:

„(1) Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. […]

(2) Gegen die Entscheidung des Bundestages ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig.

[…]“

C. Einschlägiges Recht der Europäischen Union

12. Artikel 10 der seit dem 1. Dezember 2009 geltenden konsolidierten Fassung des Vertrags über die Europäische Union lautet, soweit maßgeblich:

„(2) Die Bürgerinnen und Bürger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten.

[…]

(4) Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei.“

13. Artikel 14 dieses Vertrages lautet, soweit maßgeblich:

„(1) Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Es erfüllt Aufgaben der politischen Kontrolle und Beratungsfunktionen nach Maßgabe der Verträge. Es wählt den Präsidenten der Kommission.

[…]“

14. Artikel 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lautet, soweit maßgeblich:

„(2) Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt.“

15. Mit dem Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (2002/772/EG), Euratom, wurde der „Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments“ (Direktwahlakt) geändert. Artikel 1 Abs. 1 sieht vor, dass in jedem Mitgliedstaat die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach dem Verhältniswahlsystem auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt werden.

Artikel 2A lautet:

„Für die Sitzvergabe können die Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle festlegen. Diese Schwelle darf jedoch landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen.“

RÜGEN

16. Die Beschwerdeführer rügten unter Berufung auf Artikel 3 des Zusatzprotokolls zur Konvention und Artikel 13 der Konvention, dass das Bundesverfassungsgericht weder das Ergebnis der Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments 2009 für ungültig erklärt noch eine Wiederholung der Wahl oder eine Berichtigung der Sitzverteilung angeordnet habe, und dass die Wahlprüfungsbeschwerde der Beschwerdeführer somit unwirksam geworden sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Gleichzeitige Prüfung der Beschwerden

17. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerden wegen ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verbunden werden sollten.

B. Behauptete Verletzung von Artikel 3 des Zusatzprotokolls zur Konvention

18. Die Beschwerdeführer behaupteten, dass die Auferlegung einer Sperrklausel von 5% der abgegebenen Stimmen bei der Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in die „freie Äußerung der Meinung des Volkes“ eingreife. Die der Sperrklausel zugrunde liegende Wahlvorschrift, die vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden sei, könne den Eingriff nicht rechtfertigen. Die in Rede stehende Wahl hätte daher für ungültig erklärt und eine Neuwahl angeordnet oder zumindest das Wahlergebnis berichtigt werden müssen.

19. Die Beschwerdeführer beriefen sich auf Artikel 3 des Zusatzprotokolls, der lautet:

„Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.“

20. Der Gerichtshof bekräftigt eingangs, dass Artikel 3 des Zusatzprotokolls das individuelle Wahlrecht garantiert (Scoppola ./. Italien (Nr. 3) [GK], Individualbeschwerde Nr. 126/05, Rdnr. 81, 82, 22. Mai 2012).

21. In der Rechtssache Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien (Individualbeschwerde Nr. 9267/81, Rdnr. 54, 2. März 1987) traf der Gerichtshof folgende Feststellung:

„Artikel 3 sieht nur „in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen“ vor, „welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes […] gewährleisten“. […] er begründet keine Verpflichtung, ein bestimmtes System wie etwa ein Verhältniswahlsystem oder ein Mehrheitswahlsystem mit einer oder zwei Stimmen einzuführen. Auch hier erkennt der Gerichtshof an, dass die Vertragsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum haben, zumal sich ihre Gesetzgebung zu dieser Frage von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit unterscheidet […]. Daraus folgt jedoch nicht, dass alle Stimmen zwangsläufig dasselbe Gewicht haben müssen, was das Wahlergebnis angeht, oder dass alle Kandidaten die gleichen Chancen auf den Sieg haben müssen. Daher kann kein Wahlsystem ausschließen, dass es zu „vergeudeten Stimmen“ kommt.“

22. In der Rechtssache Matthews ./. Vereinigtes Königreich ([GK] Individualbeschwerde Nr. 24833/94, Rdnrn. 40‑44, ECHR 1999‑I) vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass Artikel 3 des Zusatzprotokolls auf die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments in den Vertragsstaaten anwendbar ist und das Europäische Parlament eine gesetzgebende Körperschaft im Sinne von Artikel 3 des Zusatzprotokolls darstellt (ebd., Rdnrn. 52 und 54). In Anbetracht der Art und Weise, wie sich das Europäische Parlament konstituiert – durch allgemeine Direktwahl – und der von diesem Parlament ausgeübten Befugnisse, nachdem der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union mehrmals geändert wurde, gibt es eindeutig keinen Grund, von dieser Schlussfolgerung abzuweichen.

23. Der Gerichtshof hat bereits häufig festgestellt, dass die in Artikel 3 des Zusatzprotokolls verankerten Rechte keine absoluten Rechte sind. Es gibt Raum für „implizite Beschränkungen“ und den Vertragsstaaten muss in diesem Bereich ein weiter Beurteilungsspielraum zugebilligt werden (siehe u. a. Matthews, a. a. O., Rdnr. 63). Im Unterschied zu den Artikeln 8 bis 11 der Konvention sind in Artikel 3 des Zusatzprotokolls jedoch keine konkreten „legitimen Ziele“ genannt. Den Vertragsstaaten steht es daher frei, sich auf ein Ziel zu berufen, vorausgesetzt, es ist nachgewiesen, dass dieses Ziel unter den konkreten Umständen des Falls mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und den allgemeinen Zielsetzungen der Konvention vereinbar ist (siehe die in der Rechtssache Yumak und Sadak ./. Türkei [GK] aufgestellten Grundsätze, Individualbeschwerde Nr. 10226/03, Rdnr. 109, ECHR 2008, und die dort zitierte Rechtsprechung).

24. Ein Eingriff in ein Recht aus Artikel 3 des Zusatzprotokolls stellt daher einen Verstoß dar, es sei denn, der Eingriff erfüllt die Erfordernisse der Rechtmäßigkeit, verfolgt ein legitimes Ziel und ist verhältnismäßig (Tănase ./. Moldau [GK], Individualbeschwerde Nr. 7/08, Rdnr. 161, ECHR 2010).

25. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesverfassungsgericht die 5%-Sperrklausel für grundgesetzwidrig befand, weil sie gegen die Erfolgswertgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien verstoße, und sie für nichtig erklärte. Im Interesse der parlamentarischen Stabilität erklärte es jedoch weder das Wahlergebnis für ungültig, noch ordnete es eine Neuwahl der deutschen MdEP oder eine Berichtigung des Wahlergebnisses an (siehe Rdnrn. 5-7).

26. Der Umfang der vorliegenden Beschwerden beschränkt sich daher auf die Rüge der Beschwerdeführer, dass das Bundesverfassungsgericht nach dem Konventionsrecht entweder eine Neuwahl für die verbleibende Wahlperiode hätte anordnen oder zumindest das Wahlergebnis hätte berichtigen sollen, indem es acht der gewählten MdEP durch acht Kandidaten kleinerer Parteien, die an der 5%-Sperrklausel scheiterten, ersetzt hätte. Der Hintergrund der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung – nämlich die Anwendung von Sperrklauseln in Bezug auf die abgegebenen Stimmen – könnte aber dennoch von gewissem Belang für die anschließenden Prüfung der Frage sein, ob die Entscheidung dieses Gerichts, die Ergebnisse der Wahl 2009 nicht zu berichtigen, aus konventionsrechtlicher Sicht legitim war.

27. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass beide Beschwerdeführer bei der in Rede stehenden Wahl wahlberechtigt waren. Da es durch die Entscheidung, keine der deutschen MdEP, die ihm Rahmen einer durch einen Wahlfehler ungültig gewordenen Wahl gewählt wurden, zu ersetzen, möglicherweise zu einer „Vergeudung“ ihrer Stimmen gekommen ist, ist der Gerichtshof bereit, von einem Eingriff in ihr individuelles Wahlrecht auszugehen.

28. Was die Rechtmäßigkeit dieses Eingriffs angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass zum Zeitpunkt der Wahl 2009 eine gesetzliche Vorschrift in Kraft war, die die Anwendung der 5%-Sperrklausel vorsah (siehe Rdnrn. 9 und 10). Zu dem Zeitpunkt, als diese Vorschrift für verfassungswidrig befunden wurde, billigte das Bundesverfassungsgericht die Fortdauer der Wirkung der Anwendung dieser Vorschrift bis zu den nächsten Wahlen.

29. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass ein nationales Verfassungsgericht dem Gesetzgeber für die Verabschiedung neuer Rechtsvorschriften eine Frist setzen kann, mit der Folge, dass eine verfassungswidrige Bestimmung für eine Übergangszeit anwendbar bleibt (siehe sinngemäß P.B. und J.S. ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 18984/02, Rdnr. 49, 22. Juli 2010; siehe auch R. ./. Deutschland, Kommissionsentscheidung, Individualbeschwerde Nr. 17750/91, 30. Juni 1992 und Walden ./. Liechtenstein (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 33916/96, 16. März 2000). Ferner bleibt in der deutschen Rechtsordnung eine Maßnahme im Allgemeinen rechtmäßig, wenn das Bundesverfassungsgericht – teilweise unter Festlegung von Übergangsregelungen – entscheidet, dass die Nichtigerklärung einer Vorschrift erst später wirksam wird (siehe als jüngstes Beispiel die Entscheidung dieses Gerichts zum Bundeskriminalamtgesetz, 20. April 2016, 1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09, E.I.1.). Dies trifft entsprechend auf Fälle von Wahlprüfungsbeschwerden zu, in denen das Bundesverfassungsgericht befugt ist, über die Folgen eines Wahlfehlers zu entscheiden (siehe Artikel 41 Grundgesetz, Rdnr. 11). Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die Entscheidung, die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments 2009 nicht für die Dauer des gesamten Legislaturperiode für ungültig zu erklären, im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht stand.

30. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer nicht bestritten, dass diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das legitime Ziel verfolgte, die parlamentarische Stabilität aufrecht zu erhalten.

31. Er nimmt jedoch auch das Argument der Beschwerdeführer zur Kenntnis, dass dieses Ziel den Eingriff in ihre Rechte aus Artikel 3 des Zusatzprotokolls nicht rechtfertige. Im Wesentlichen machen sie geltend, dass die Entscheidung, die Wahl der deutschen MdEP 2009 nicht für ungültig zu erklären, unverhältnismäßig sei, denn es sei bereits eine große Anzahl von Parteien im Europäischen Parlament vertreten, so dass die parlamentarische Stabilität nicht auf dem Spiel stehe und die Ersetzung einiger deutscher MdEP die Arbeit dieser Einrichtung nicht wesentlich beeinträchtigt hätte.

32. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass das Bundesverfassungsgericht zutreffend und hinreichend begründet hat, weshalb weder die Wahl noch die Sitzverteilung wiederholt werden müssten. Die Annahme, dass eine auch nur teilweise Ersetzung der deutschen MdEP wahrscheinlich eine negative Auswirkung auf die Arbeit des Europäischen Parlaments gehabt hätte, insbesondere in den Fraktionen und Ausschüssen, ist nicht abwegig. Auch war Deutschland mit 99 von 736 Sitzen im Europäischen Parlament im Jahr 2009 der Mitgliedstaat mit den mit Abstand meisten Sitzen.

33. In diesem Zusammenhang erinnert der Gerichtshof daran, dass die Konventionsorgane allgemein anerkannt haben, dass Sperrklauseln bei Wahlen in erster Linie die Herausbildung hinreichend repräsentativer Denkrichtungen innerhalb eines Landes fördern sollen (siehe Yumak und Sadak, a. a. O., Rdnr. 125). Die Kommission entschied in der Rechtssache Tête ./. Frankreich (Kommissionsentscheidung, Individualbeschwerde Nr. 11123/84, 9. Dezember 1987), dass die bei der Wahl der französischen MdEP 1979 angewendete 5%-Sperrklausel in den Beurteilungsspielraum des Staates fiel. Nach Feststellung des Gerichtshofs warf auch die Festlegung einer 5%-Sperrklausel für die Wahl des lettischen Parlaments (siehe Partija „Jaunie Demokrāti“ und Partija „Mūsu Zeme“ ./. Lettland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 10547/07 und 34049/07, 29. November 2007) und eines deutschen Landesparlaments (siehe F. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 65480/10, Rdnr. 36, 28. Januar 2016) keine relevante Fragestellung auf, ebenso wenig wie die 6%-Sperrklausel betreffend die für die gesetzgebende Körperschaft der Kanarischen Inseln aufgestellten Parteien (siehe Federación nacionalista Canaria ./. Spanien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 56618/00, ECHR 2001‑VI). In der Rechtssache Yumak und Sadak (a. a. O., Rdnrn. 125, 147) akzeptierte er zwar, dass unter den Umständen dieses Falls eine 10%-Sperrklausel durch das legitime Ziel gerechtfertigt war, bei den nationalen Parlamentswahlen in der Türkei 2002 eine übermäßige und schwächende Zersplitterung des Parlaments zu vermeiden, er wies aber darauf hin, dass eine solche Sperrklausel im Allgemeinen übermäßig erscheinen würde.

34. Bemerkenswert ist, dass das EU-Recht den Mitgliedstaaten ausdrücklich gestattete, bei Wahlen Sperrklauseln von bis zu 5% der abgegebenen Stimmen festzulegen (siehe Artikel 2A Direktwahlgesetz, Rdnrn. 15) und dass sich eine erhebliche Anzahl der Mitgliedstaaten auf diese Befugnis berufen.

35. Darüber hinaus belief sich die Zahl der „vergeudeten“ Stimmen im vorliegenden Fall auf lediglich etwa 10%, was der Gerichtshof als eher niedrig ansieht im Vergleich zu der hohen Zahl „vergeudeter“ Stimmen bei Mehrheitswahlsystemen, die das Konventionsrecht ebenfalls akzeptiert (siehe Mathieu-Mohin und Clerfayt, a. a. O., Rdnr. 54), oder etwa bei den türkischen Parlamentswahlen 2002 (45,3%, siehe Yumak und Sadak, a. a. O., Rdnr. 140).

36. Auch wenn die angegriffene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Weigerung betrifft, das Ergebnis der Wahl 2009 für ungültig zu erklären bzw. die errungenen Sitze neu zu verteilen, hält der Gerichtshof einen erneuten Hinweis darauf für erforderlich, dass bestimmte Arten von Sperrklauseln nach der Konvention und nach seiner Rechtsprechung im Wesentlichen legitim sind, dass die Vertragsstaaten in diesem Bereich einen Beurteilungsspielraum haben und dass die Weigerung des Bundesverfassungsgerichts nach deutschem Recht rechtmäßig ist.

37. Da Sperrklauseln bei Wahlen grundsätzlich mit der einschlägigen Bestimmung der Konvention vereinbar sind, ist Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, weder das Ergebnis der Wahl 2009 für ungültig zu erklären, noch es durch eine Neuverteilung der Sitze zu berichtigen oder eine Neuwahl anzuordnen, die fraglichen Rechte erst recht nicht in einem solchen Umfang beschneidet, dass sie in ihrem Kern beeinträchtigt wären, und sie daher nicht als unverhältnismäßig angesehen werden kann.

38. Die vorstehenden Erwägungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass Deutschland in der vorliegenden Rechtssache den weiten Beurteilungsspielraum, den die Konvention den Vertragsstaaten in diesen Angelegenheiten zubilligt, nicht überschritten hat. Dementsprechend können die angegriffenen Entscheidungen nicht als mit Artikel 3 des Zusatzprotokolls unvereinbar angesehen werden.

39. Daraus folgt, dass diese Rüge offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

C. Behauptete Verletzung von Artikel 13 der Konvention

40. Die Beschwerdeführer machten geltend, dass es hinsichtlich ihrer Ansprüche nach Artikel 3 des Zusatzprotokolls keinen innerstaatlichen Rechtsbehelf gebe, wie ihn Artikel 13 verlange:

„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“

41. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass nach den Grundsätzen des Artikels 13 ein Konventionsstaat einen innerstaatlichen Rechtsbehelf garantieren muss, der es der zuständigen innerstaatlichen Behörde erlaubt, sich mit der betreffenden nach der Konvention erhobenen Rüge inhaltlich auseinander zu setzen und geeigneten Rechtsschutz zu gewähren, auch wenn den Vertragsstaaten hinsichtlich der Art und Weise, wie sie ihren Verpflichtungen aus dieser Bestimmung nachkommen, ein gewisses Ermessen zusteht (siehe Lukenda ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 23032/02, Rdnrn. 86‑88, ECHR 2005‑X).

42. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer Wahlprüfungsbeschwerden beim Bundestag und beim Bundesverfassungsgericht einlegten. Beide Einrichtungen hatten die Befugnis, bestimmte Wahlfehler zu berichtigen. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Befugnis, Wahlvorschriften für verfassungswidrig und nichtig zu erklären, Wahlergebnisse für ungültig zu erklären und Neuwahlen anzuordnen, was von den Beschwerdeführern nicht bestritten wurde. Das Verfahren gab den Beschwerdeführern reichlich Gelegenheit, die Gültigkeit der in Rede stehenden Wahl anzufechten. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Art und Weise, in der dieses Verfahren geführt wurde, dem Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Rüge nach Artikel 3 des Zusatzprotokolls einen wirksamen Rechtsbehelf garantierte.

43. Hinsichtlich der Rüge der Beschwerdeführer, dass ihre entsprechenden Wahlprüfungsbeschwerden insoweit erfolglos geblieben seien, als die Wahl nicht für ungültig erklärt wurde, stellt der Gerichtshof unter Bezugnahme auf seine Feststellung zur Vereinbarkeit mit Artikel 3 des Zusatzprotokolls (Rdnrn. 18-39) fest, dass dies lediglich das Ergebnis, nicht aber die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs betrifft.

44. Daraus folgt, dass die Rüge nach Artikel 13 ebenfalls im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention als unzulässig zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Die Individualbeschwerden werden verbunden;

die Individualbeschwerden werden für unzulässig erklärt.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 1. September 2016.

Milan Blaško                                                            Khanlar Hajiyev
Stellvertretender Sektionskanzler                                 Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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