RECHTSSACHE MARC BRAUER ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 24062/13

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE B. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 24062/13)
URTEIL
STRASSBURG
1. September 2016

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache B. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

. Ganna Yudkivska, Präsidentin,
. Angelika Nußberger,
. Khanlar Hajiyev,
. Erik Møse,
. André Potocki,
. Yonko Grozev,
. und Carlo Ranzoni
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 5. Juli 2016

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 24062/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, B. („der Beschwerdeführer“), am 23. März 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer behauptete insbesondere, dass ihm die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwehrt worden sei, nachdem er die Frist für die Revisionseinlegung bezüglich seiner strafgerichtlich angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus versäumt habe.

4. Am 26. Mai 2015 wurde die Rüge bezüglich der Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Regierung übermittelt und die Beschwerde im Übrigen nach Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in R.

6. Am 26. Juni 2012 wurde der Beschwerdeführer vor Ort festgenommen, weil er mit einem Hammer eine Reihe von Fahrzeugen, die auf dem Parkplatz des Gerichts Bocholt abgestellt waren, beschädigt und einem Gerichtsbediensteten Widerstand geleistet hatte. Als vorläufige Maßnahme wurde er in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Das Gericht bestellte für den Beschwerdeführer, der eine bis in das Jahr 1999 zurückreichende Vorgeschichte psychiatrischer Behandlungen hatte, einen Pflichtverteidiger.

7. Am Dienstag, den 18. Dezember 2012, erließ das Landgericht Münster sein Urteil und ordnete die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden könne und psychisch krank sei. Dem vom Gericht zugezogenen psychiatrischen Sachverständigen zufolge sei er psychotisch und aggressiv, zeige bezüglich seiner Krankheit keine Einsicht und es sei davon auszugehen, dass er weitere, sogar noch schwerwiegendere Straftaten begehen werde.

8. Als das Urteil in Gegenwart des Beschwerdeführers, seines Pflichtverteidigers und seines gesetzlichen Betreuers verkündet wurde, reagierte der Beschwerdeführer aufgebracht. Er teilte dem Pflichtverteidiger mit, dass er einen neuen Verteidiger wünsche, und erklärte, dass er selbst Rechtsmittel gegen die Entscheidung einlegen wolle. Er wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass dies vor Ort nicht möglich sei. Der Vorsitzende Richter belehrte ihn über die Form und Frist der Revisionseinlegung. Anschließend wurde er in das forensische Krankenhaus zurückgebracht, wo er im Umgang mit anderen nicht mehr aufgebracht erschien.

9. Am Freitag, den 21. Dezember 2012, erhielt der Beschwerdeführer ein vom 19. Dezember 2012 datierendes Schreiben des Pflichtverteidigers, der ihm Folgendes mitteilte:

„[…] Sie hatten bereits unmittelbar nach der Verhandlung angekündigt, gegen diese Entscheidung des Gerichtes Rechtsmittel einlegen zu wollen und auch einen neuen Verteidiger zu beauftragen. Dem Wunsch nach einem neuen Verteidiger kommen wir selbstverständlich nach und beenden hiermit das Mandat.

Bezüglich des von Ihnen gewünschten Rechtsmittels weisen wir noch vorsorglich auf [F]olgendes hin: Gegen die Entscheidung des Landgerichtes Münster bei dem Amtsgericht Bocholt kann binnen einer Woche nach Urteilsverkündung, somit bis spätestens zum

27.12.2012

Revision eingelegt werden.

Revision kann entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden. Da Sie derzeit sich nicht auf freiem Fuß befinden, gilt für Sie die besondere Vorschrift des § 299 StPO. Danach können Sie Erklärungen, die sich auf Rechtsmittel beziehen, zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichtes geben, in dessen Bezirk die Anstalt liegt.

Zuständig wäre mithin das Amtsgericht Rheine.

Gemäß § 299 Abs. 2 StPO genügt zur Wahrung der Frist, wenn innerhalb der oben genannte Frist das Protokoll aufgenommen wird.

In Ihrem eigenen Interesse sollten Sie rechtzeitig für die fristgerechte Einlegung des Rechtsmittels Sorge tragen.

Lediglich der Vollständigkeit halber weisen wir auf die Vorschrift des § 345 StPO hin. Danach sind die Revisionsanträge und ihre Begründung spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. War zu diesem Zeitpunkt das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung des Urteils.

Seitens Ihrer Person kann dies nur in einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schriftsatz oder zu Protokoll der Geschäftsstelle geschehen.“

10. Dennoch verfasste und unterzeichnete der Beschwerdeführer am 21. Dezember 2012 ein Revisionsschreiben an das Amtsgericht Rheine und bat das Krankenhauspersonal, es zu versenden. Dies geschah am folgenden Tag (Samstag, den 22. Dezember).

11. Am Freitag, den 28. Dezember 2012, ging das Revisionsschreiben beim Amtsgericht Rheine ein und wurde an das Landgericht Münster weitergeleitet, wo es am 3. Januar 2013 einging.

12. Am 8. Januar 2013 teilte das Landgericht dem Beschwerdeführer mit, dass seine Revision verspätet sei. Es unterstrich, dass der Beschwerdeführer nach der Urteilsverkündung darüber belehrt worden sei, dass eine Revision nur zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts eingelegt werden könne, nicht aber schriftlich.

13. Am 14. Januar 2013 beantragte der Pflichtverteidiger, der seine Tätigkeit für den Beschwerdeführer wieder aufgenommen hatte, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 44 StPO (siehe Rdnr. 19) und legte Revision ein. Er erklärte, dass der Beschwerdeführer die Rechtsmittelbelehrung seines Verteidigers missverstanden habe. Der Beschwerdeführer habe geglaubt, dass er wählen könne, ob er die Revision entweder beim Amtsgericht Rheine oder beim Landgericht Münster schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle einlegen wolle. Auch habe er davon ausgehen können, dass das Revisionsschreiben, das am 22. Dezember versandt worden sei, bis zum 27. Dezember 2012 beim Amtsgericht Rheine eingehen würde.

14. Am 11. März 2013 führte der Generalbundesanwalt u. a. Folgendes aus:

„Sein [gemeint: des Pflichtverteidigers] Hinweis auf die einschlägigen Bestimmungen aus § 299 StPO erfolgte unter Wahl einer nicht per se fehlerhaften, indessen missverständlichen Formulierung, die – auch – so verstanden werden konnte, dass Revision entweder (vom Antragsteller persönlich) zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Rheine oder schriftlich bei diesem Gericht eingelegt werden könne.“

Dem Generalbundesanwalt zufolge sei die mündliche Belehrung am Tag der Hauptverhandlung jedoch ausreichend gewesen.

15. Am 9. April 2013 teilte der Pflichtverteidiger mit, dass:

„[…] der Beschuldigte – auch schon zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung – aufgrund seiner Erkrankung in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war. Zwar mag die dem Beschuldigten im Anschluss an die Urteilsverkündung erteilte Rechtsmittelbelehrung richtig und vollständig gewesen sein. Der Beschuldigte war jedoch nach der Urteilsverkündung, mit de[r] die weitere Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wurde, völlig außer sich. Eine Verständigung oder ein Gespräch zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger war nicht mehr möglich. Der Beschuldigte befand sich ersichtlich in einer psychischen Ausnahmesituation. In einer solchen Situation und unter Berücksichtigung der psychiatrischen Erkrankung des Beschuldigten muss […] angenommen werden, dass er bereits die mündlich erteilte Rechtsmittelbelehrung im unmittelbaren Anschluss an die Urteilsverkündung nicht verstanden hat.“

16. Am 24. April 2013 wies der Bundesgerichtshof den Wiedereinsetzungsantrag des Beschwerdeführers zurück und verwarf seine Revision wegen verspäteter Einlegung folglich als unzulässig. Es könne dahinstehen, ob der Beschwerdeführer angesichts der Weihnachtsfeiertage damit habe rechnen müssen, dass sein Schreiben erst am 28. Dezember 2012 eingehen würde. Entscheidend sei hingegen, dass der Beschwerdeführer am Tag der Urteilsverkündung ausdrücklich darüber belehrt worden sei, dass eine Revision nur beim Amtsgericht Rheine zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden könne, nicht aber schriftlich. Einen Beschuldigten, der die mündliche Belehrung falsch verstehe und der deshalb ein Rechtsmittel verspätet einlege, treffe daran selbst ein Verschulden. Der Bundesgerichtshof nahm eine Abgrenzung des Falles des Beschwerdeführers von solchen Fallentscheidungen vor, bei denen für nicht von einem Rechtsanwalt vertretene Ausländer hiervon Ausnahmen gemacht worden waren. Überdies sei der Beschwerdeführer von seinem Verteidiger hinsichtlich der Form und Frist einer Revision belehrt worden. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs war der Inhalt dieses Schreibens nicht missverständlich, sondern stellte die Gesetzeslage korrekt dar. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Beschwerdeführer die mündliche Rechtsmittelbelehrung des Vorsitzenden Richters aufgrund seines psychischen Gesundheitszustands nicht verstanden habe. Er habe die spätere schriftliche Belehrung seines Verteidigers in gleicher Weise missverstanden.

17. Der Beschwerdeführer erhob Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er brachte u. a. vor, ein anderer Rechtsanwalt habe ihm mitgeteilt, dass sein Pflichtverteidiger verpflichtet gewesen sei, die Revision einzulegen.

18. Am 29. Juni 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1243/13).

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

19. Die Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO) lauten, soweit in der vorliegenden Rechtssache maßgeblich, folgendermaßen:

§ 44

„War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.“

§ 140

„(1) Die Mitwirkung eines Verteidiger ist notwendig, wenn

1. die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht oder dem Landgericht stattfindet;

[…]

4. gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Absatz 6 vollstreckt wird;

5. der Beschuldigte sich mindestens drei Monate auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird;

[…]“

§ 341

„(1) Die Revision muss bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden.

[…]“

§ 297

„Für den Beschuldigten kann der Verteidiger, jedoch nicht gegen dessen ausdrücklichen Willen, Rechtsmittel einlegen.“

§ 299

„(1) Der nicht auf freiem Fuß befindliche Beschuldigte kann die Erklärungen, die sich auf Rechtsmittel beziehen, zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts geben, in dessen Bezirk die Anstalt liegt, wo er auf behördliche Anordnung verwahrt wird.

(2) Zur Wahrung einer Frist genügt es, wenn innerhalb der Frist das Protokoll aufgenommen wird.“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION

20. Der Beschwerdeführer rügte im Wesentlichen, dass er durch die Zurückweisung seines Wiedereinsetzungsgesuchs durch den Bundesgerichtshof in seinem Recht auf Gerichtszugang nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden sei, welcher wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“

21. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

22. Die Regierung machte Einwände hinsichtlich der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs geltend.

23. Sie verwies darauf, dass der Beschwerdeführer in dem Wiedereinsetzungsverfahren nie gerügt habe, dass sein Pflichtverteidiger sich geweigert habe, Revision einzulegen, und auch nicht dargetan habe, dass er am Tag der Urteilsverkündung an einer speziellen Krankheit gelitten habe. Daher habe der Bundesgerichtshof in der Gerichtsakte keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass sich der Beschwerdeführer bei der Hauptverhandlung in einem krankheitsbedingten Erregungszustand befunden habe.

24. Ferner hätte der Beschwerdeführer, sofern er rüge, der Bundesgerichtshof habe seinen Vortrag bezüglich seines Gesundheitszustands außer Acht gelassen, Anhörungsrüge beim Bundesgerichtshof einlegen müssen.

25. Schließlich betonte die Regierung, dass der Beschwerdeführer nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Monatsfrist seine vollständige Verfassungsbeschwerde mit Anhängen beim Bundesverfassungsgericht eingereicht habe. Sein erstes an das Bundesverfassungsgericht gerichtetes Schreiben vom 20. Mai 2013 habe lediglich angezeigt, dass er Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bundesgerichtshofs einlegen wolle. Am 1. Juni 2013 habe er eine Kopie dieser Entscheidung eingereicht. Keine dieser Eingaben habe die erforderliche Angabe von Gründen für seine Auffassung enthalten, dass das Grundgesetz verletzt worden sei. Sein Vortrag sei durch ein Schreiben vom 17. Juni 2013 ergänzt worden, das beim Bundesverfassungsgericht am 21. Juni 2013 und damit nach Ablauf der Monatsfrist eingegangen sei. Das Bundesverfassungsgericht habe folglich keine Möglichkeit zur sachlichen Prüfung seiner Verfassungsbeschwerde gehabt.

26. Der Beschwerdeführer äußerte sich zu diesen Einwänden nicht.

27. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der erste Einwand der Regierung sich darauf beschränkt, der Beschwerdeführer habe einige seiner Argumente im Wiedereinsetzungsverfahren nicht bzw. nicht hinreichend geltend gemacht. Der Gerichtshof befindet, dass die Natur dieses Einwands die Sache selbst angeht und nicht im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der Individualbeschwerde behandelt werden sollte.

28. Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass der Beschwerdeführer nicht gerügt hat, der Bundesgerichtshof habe seinen Vortrag bezüglich seines Gesundheitszustands außer Acht gelassen. Daher kann sich der Gerichtshof der Auffassung der Regierung, der zufolge der Beschwerdeführer zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs Anhörungsrüge hätte einlegen müssen, nicht anschließen.

29. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung vom 29. Juni 2013, die Beschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung anzunehmen, nicht begründet hat. Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesverfassungsgericht der Auffassung war, der Beschwerdeführer habe die Formvorschriften nicht eingehalten, fehlen. Unter diesen Umständen kann der Gerichtshof nicht an die Stelle des Bundesverfassungsgerichts treten und darüber spekulieren, weshalb es die Beschwerde nicht zugelassen hat (siehe K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 32231/02, Rdnr. 44, 27. Oktober 2005; sinngemäß E. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 77909/01, Rdnr. 26, 24. März 2005). Diese Konstellation muss von derjenigen in der Rechtssache C. und T. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 77144/01 und 35493/05, 11. Dezember 2007) unterschieden werden, in der das zuständige innerstaatliche Gericht, ein Oberlandesgericht, detailliert begründet hatte, warum die Beschwerdeführerin die Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht erfüllte.

30. Im Ergebnis weist der Gerichtshof die sonstigen Einwände der Regierung in Bezug auf die Zulässigkeit zurück. Er stellt weiterhin fest, dass die Rüge weder nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

31. Der Beschwerdeführer rügte unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass seine Revision gegen das Urteil des Landgerichts Münster vom 18. Dezember 2012 für unzulässig erklärt und sein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verworfen worden sei. Er machte geltend, dass er aufgrund seines psychischen Zustands am Tag der Urteilsverkündung nicht in der Lage gewesen sei, die mündliche Belehrung des Vorsitzenden Richters zu verstehen. Ferner behauptete er, dass die spätere schriftliche Belehrung durch seinen gerichtlich bestellten Verteidiger, der zu diesem Zeitpunkt keine Verteidigungstätigkeiten für ihn wahrgenommen habe, unklar gewesen sei und ihn dazu veranlasst habe, seine schriftliche Revision bei einem falschen Gericht einzulegen.

32. Die Regierung trug vor, dass der Beschwerdeführer nicht aufgezeigt habe, dass er durch seine Krankheit daran gehindert gewesen sei, seine schriftliche Revision bei dem zuständigen Gericht einzulegen. Der Beschwerdeführer sei verhandlungsfähig gewesen und habe sich in Gegenwart seines Pflichtverteidigers, seines gesetzlichen Betreuers und des psychiatrischen Sachverständigen des Gerichts befunden, wobei keiner von ihnen bemerkt habe, dass bei dem Beschwerdeführer infolge seines psychischen Zustands Verhandlungsunfähigkeit eingetreten sei. Die Rechtsmittelbelehrung seines Pflichtverteidigers sei nicht missverständlich gewesen. Wenn ihm bei der Einlegung der Revision dennoch Fehler unterlaufen seien, so trage er selbst die Schuld daran.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

33. Der Gerichtshof weist eingangs erneut darauf hin, dass Artikel 6 der Konvention die Vertragsstaaten nicht verpflichtet, Rechtsmittel- oder Kassationsgerichte vorzusehen. Bestehen solche Gerichte jedoch, so müssen die Garantien des Artikels 6 erfüllt sein (Delcourt ./. Belgien, 17. Januar 1970, Rdnr. 25, Serie A Band 11).

34. Der Gerichtshof verweist ferner darauf, dass das „Recht auf ein Gericht“, welches das Recht auf Zugang zu einem Gericht als einen Teilaspekt mit einschließt (siehe Golder ./. das Vereinigte Königreich, 21. Februar 1975, Serie A Band 18, S. 18, Rdnr. 36) kein absolutes Recht ist; es unterliegt implizit zulässigen Einschränkungen, insbesondere, wenn es um die Voraussetzungen der Zulässigkeit eines Rechtsmittels geht. Es ist in erster Linie die Aufgabe der nationalen Behörden, insbesondere der Gerichte, Probleme der Auslegung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften zu lösen. Gleichwohl müssen Einschränkungen des Gerichtszugangs einer Person ein rechtmäßiges Ziel verfolgen, sie müssen verhältnismäßig sein und sie dürfen den Zugang nicht dergestalt oder soweit einschränken, dass das Recht in seinem Kerngehalt beeinträchtigt wird (siehe sinngemäß Levages Prestations Services ./. Frankreich, 23. Oktober 1996, Rdnr. 40, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996‑V; Tricard ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 40472/98, Rdnrn. 29, 33, 10. Juli 2001). Dies gilt insbesondere für die gerichtliche Auslegung von Verfahrensvorschriften wie beispielsweise Fristen zur Einreichung von Unterlagen oder zur Einlegung von Rechtsmitteln (siehe F. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 71440/01, Rdnr. 36, 19. Juli 2007 und die dort zitierte Rechtsprechung).

35. Im Hinblick auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass es der Bundesgerichtshof ablehnte, die Begründetheit der Revision des Beschwerdeführers zu prüfen, da dieser seine Beschwerde nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einer Woche eingelegt habe, und gleichzeitig den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückwies. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Festlegung einer gesetzlichen Frist für die Revisionseinlegung zur Sicherstellung einer geordneten Rechtspflege und insbesondere zur Wahrung der Rechtssicherheit unerlässlich ist.

36. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Wochenfrist nach § 341 Abs. 1 StPO (siehe das einschlägige innerstaatliche Recht, Rdnr. 19) angesichts der Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer in einer freiheitsentziehenden Maßnahme befand, recht kurz ist. Der Gerichtshof stellt allerdings auch fest, dass diese Frist sich nicht auf die Revisionsbegründung bezieht, für die eine andere Frist gilt, welche im Allgemeinen mit der Zustellung des begründeten Urteils beginnt. Zur Einlegung einer Revision genügt es, eine einzige Zeile zu schreiben. Der Beschwerdeführer hatte zudem das Recht, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen, wovon er auch Gebrauch machte. Die kurze Frist selbst wirft daher keine Frage nach Artikel 6 Abs. 1 auf (vgl. H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 12788/04, 9. Mai 2007; siehe auch Tricard, Rdnr. 31, a. a. O und Mamikonyan ./. Armenien, Individualbeschwerde Nr. 25083/05, Rdnr. 29, 16. März 2010, die Fristen von fünf bzw. zehn Tagen betrafen).

37. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Bundesgerichtshof der Ansicht war, der Beschwerdeführer habe nach dem innerstaatlichen Recht eine wirksame Revision nicht schriftlich beim Amtsgericht Rheine einlegen können. Nach § 341 Abs. 1 StPO (siehe Rdnr. 19) muss eine Revision im Allgemeinen schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle bei dem Gericht eingelegt werden, dessen Urteil angefochten wird. Im vorliegenden Fall war das das Landgericht Münster. In § 299 Abs. 1 StPO (siehe Rdnr. 19) ist eine Ausnahme nur für den Fall vorgesehen, dass die verurteilte Person sich nicht auf freiem Fuß befindet und die Abgabe einer mündliche Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle vorzieht. In diesem Fall ist auch das Amtsgericht am Ort der Freiheitsentziehung zuständig. Im Falle des Beschwerdeführers war dies das Amtsgericht Rheine. Allerdings legte der Beschwerdeführer bei diesem Gericht, welches nur für die Entgegennahme und Protokollierung einer mündlichen Erklärung zuständig war, schriftlich Revision ein. Folglich beruhte die Feststellung des Bundesgerichtshofs, die Revision sei nicht fristgerecht eingelegt worden, in erster Linie auf dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer mit seiner schriftlichen Revision an das falsche Gericht gewandt hatte.

38. Es gilt also festzustellen, ob unter den besonderen Umständen der Rechtssache die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch den Bundesgerichtshof den Gerichtszugang des Beschwerdeführers dergestalt oder soweit eingeschränkt hat, dass das Recht in seinem Kerngehalt beeinträchtigt wurde. Hierfür kommt es nach Ansicht des Gerichtshofs darauf an, ob der von dem Beschwerdeführer durch die Einlegung der Revision beim falschen Gericht begangene Fehler und das ihm diesbezüglich zuzurechnende Maß an Verschulden es rechtfertigen, ihm den Zugang zu einem zweitinstanzlichen Gericht zu verwehren (siehe sinngemäß Miragall Escolano u. a. ./. Spanien, Individualbeschwerde Nrn. 38366/97 u. a., Rdnr. 38, ECHR 2000-I).

39. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer zur fraglichen Zeit besonders schutzbedürftig war, da ihm in einem psychiatrischen Krankenhaus die Freiheit entzogen war und er als psychisch Kranker angesehen wurde, der psychiatrischer Behandlung bedurfte, und der aus diesem Grund für die ihm zur Last gelegten Handlungen nicht verantwortlich war. Auch wenn der Verteidiger des Beschwerdeführers in seinem Schriftsatz vom 9. April 2013 (siehe Rdnr. 15) nur sehr knapp auf die psychischen Probleme des Beschwerdeführers hingewiesen hatte, waren die Umstände seiner Erkrankung, die zu seiner Krankenhauseinweisung geführt hatten, doch in der dem Bundesgerichtshof vorliegenden Verfahrensakte ausführlich dokumentiert.

40. Der Gerichtshof nimmt zudem zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer von einem Rechtsanwalt verteidigt wurde. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der Verteidiger das „Mandat“ des Beschwerdeführers zu dem Zeitpunkt „beendete“ (siehe Rdnr. 9), als dieser Revision einlegen wollte. Nach deutschem Recht darf die in § 140 StPO (siehe Rdnr. 19) vorgeschriebene Bestellung eines Pflichtverteidigers weder von dem Beschuldigten noch von dem gerichtlich bestellten Verteidiger beendet werden. Daher hatte der Verteidiger des Beschwerdeführers zu dem Zeitpunkt, als die Revision eingelegt werden musste, das Mandat noch inne. Das heißt nicht, dass der Verteidiger proprio motu Revision einzulegen hatte. Der Verteidiger kann nur dann ein Rechtsmittel einlegen, wenn dies dem Willen des Beschuldigten nicht zuwiderläuft (siehe § 297 StPO – Rdnr. 19). In der vorliegenden Rechtssache hatte der Beschwerdeführer deutlich gemacht, dass er ein Tätigwerden des Verteidigers nicht wünschte, sondern es vorzog, die Revision selbst einzulegen. Allerdings stellte der Verteidiger, dem die Verwirrung des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung, seine psychische Krankheit und seine Unterbringung im Krankenhaus bekannt war, dennoch nicht sicher, dass der Beschwerdeführer auch wirklich in der Lage war, allein Revision einzulegen. Der Verteidiger beschränkte sich auf eine schriftliche Belehrung über die Möglichkeiten der Revisionseinlegung. Der Gerichtshof stimmt zwar mit dem Bundesgerichtshof darin überein, dass die von dem Verteidiger erteilte Belehrung nicht falsch erscheint, ist jedoch der Ansicht, dass sie möglicherweise irreführend war. Der dritte Absatz des Schreibens (siehe Rdnr. 9) beginnt mit dem Satz:

„Revision kann entweder zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden.“

Ferner werden Hinweise zu der besonderen Vorschrift des § 299 StPO gegeben, gefolgt von Absatz vier, in dem es heißt:

„Zuständig wäre mithin das Amtsgericht Rheine.“

Ein juristischer Laie könnte daraus folglich schließen, dass das Rechtsmittel auch schriftlich beim Amtsgericht Rheine eingelegt werden könne.

41. Der Gerichtshof ist darüber hinaus der Auffassung, dass die Krankenhausunterbringung des Beschwerdeführers, der die Revision noch am selben Tag verfasste, an dem er das Belehrungsschreiben des Verteidigers erhalten hatte, eine Verzögerung um einen Tag bewirkte, bevor das Krankenhauspersonal den Brief am 22. Dezember, mithin fünf Tage vor Ablauf der Frist, in die Post gab. Außerdem wurde der Brief aufgrund der Feiertagsregelung der in der Weihnachtszeit ohnehin stark beanspruchten Postdienstleister aufgehalten. Schließlich wurde die Revision am Amtsgericht Rheine in Empfang genommen und an das Landgericht Münster weitergeleitet, wo sie fünf Tage später eintraf, wobei sie das Landgericht am selben Tag hätte erreichen können, wenn sie der nach deutschem Recht nicht nur zulässigen sondern offenbar auch weit verbreiteten Praxis folgend per Fax nach Münster gesandt worden wäre.

42. Der Gerichtshof betont zwar, dass im Interesse der Rechtssicherheit und der geordneten Rechtspflege die nach dem innerstaatlichen Recht geltenden Fristen im Allgemeinen einzuhalten und durchzusetzen sind, hebt jedoch hervor, dass außergewöhnliche Fällen mit Flexibilität gehandhabt werden müssen, damit gewährleistet ist, dass der Gerichtszugang nicht konventionswidrig eingeschränkt wird.

43. Nach Ansicht des Gerichtshofs mögen die dargelegten besonderen Umstände nicht unbedingt in die Verantwortung des beschwerdegegnerischen Staates fallen. Sie vermindern jedoch das Ausmaß des Verschuldens, das dem psychisch kranken Beschwerdeführer zuzurechnen ist, der sich nicht nur mit einer rechtlich wie persönlich schwierigen Lage, mit der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und mit praktischen Zustellungsproblemen konfrontiert sah, sondern darüber hinaus auch nicht mehr aktiv von einem Verteidiger unterstützt wurde. Angesichts des Zusammentreffens von außergewöhnlichen Umständen, die sich auf die Revisionseinlegung des Beschwerdeführers auswirkten, und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Beschwerdeführer bereits im Gerichtssaal seinen Revisionswunsch kundgetan hatte, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu versagen, im Hinblick auf den Zweck, der mit der in Rede stehenden verfahrensrechtlichen Einschränkung verfolgt wurde, nicht verhältnismäßig war. Eine anderslautende Feststellung wäre zu formalistisch und würde dem Grundsatz einer praktikablen und wirksamen Anwendung der Konvention zuwiderlaufen (siehe sinngemäß Peretyaka und Sheremetyev ./. Ukraine, Individualbeschwerden Nrn. 17160/06 und 35548/06, Rdnr. 40, 21. Dezember 2010).

44. Die vorstehenden Ausführungen erlauben dem Gerichtshof die Schlussfolgerung, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Zugang zu einem Gericht dergestalt und soweit eingeschränkt war, dass das Recht in seinem Kerngehalt beeinträchtigt wurde.

45. Dementsprechend ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

46. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

47. Der Beschwerdeführer hat keine Forderungen hinsichtlich eines materiellen oder immateriellen Schadens oder hinsichtlich von Kosten und Auslagen geltend gemacht und der Gerichtshof sieht keinen Grund, ihm eine entsprechende Erstattung zuzubilligen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 1. September 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                         Ganna Yudkivska
Stellvertretender Sektionskanzler                              Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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