Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE W. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 62303/13)
URTEIL
STRASSBURG
1. September 2016
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache W. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
Erik Møse,
André Potocki,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
nach nicht öffentlicher Beratung am 5. Juli 2016
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 62303/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, W. („der Beschwerdeführer“), am 30. September 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn H., Rechtsanwalt in S., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer behauptete, dass durch die ihm während seiner Haftunterbringung verweigerte Drogensubstitutionsbehandlung einschließlich der verweigerten Prüfung der Erforderlichkeit einer solchen Behandlung durch einen externen medizinischen Sachverständigen gegen Artikel 3 der Konvention verstoßen worden sei.
4. Am 17. Juni 2014 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt K. inhaftiert. Später wurde er entlassen.
A. Das Krankheitsbild des Beschwerdeführers und seine Behandlung während der Haft
6. Der Beschwerdeführer ist seit 19.. und damit seit seinem 17. Lebensjahr durchgängig heroinabhängig. Er leidet seit 1975 auch an Hepatitis C und ist seit 1988 HIV positiv. Er ist zu 100 % als schwerbehindert eingestuft und bezieht seit 2001 eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Er hat mithilfe verschiedenartiger Therapien (darunter fünf stationäre Drogenentwöhnungstherapien) versucht, seine Heroinsucht zu überwinden, was aber jedes Mal scheiterte. Von 1991 bis 2008 wurde die Heroinabhängigkeit des Beschwerdeführers mit einer ärztlich verschriebenen und überwachten Substitutionstherapie behandelt. Ab 2005 reduzierte der Beschwerdeführer die Dosierung seines Substitutionsmedikaments (Polamidon) und konsumierte zusätzlich zu diesem Medikament Heroin.
7. 2008 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Drogenhandels festgenommen und kam in der JVA K. in Untersuchungshaft, wo seine Substitutionsbehandlung gegen seinen Willen unterbrochen wurde. Am 3. Juni 2009 verurteilte das Landgericht Augsburg den Beschwerdeführer wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie unter Einbeziehung einer früheren Verurteilung zu einer weiteren Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Außerdem wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt angeordnet, die nach sechs Monaten Strafvollzug in einer Haftanstalt erfolgen sollte. Der Beschwerdeführer erhielt noch immer keine Substitutionsbehandlung für seine Heroinsucht. Am 10. Dezember 2009 wurde er in die Entziehungsanstalt G. in Bayern verlegt, wo seine Sucht ohne ergänzende Substitutionsbehandlung abstinenzbasiert behandelt wurde.
8. Am 19. April 2010 erklärte das Landgericht Memmingen die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Entziehungsanstalt für beendet und ordnete seine Rücküberstellung in die Justizvollzugsanstalt an. Mit Beschluss vom 25. Juni 2010 verwarf das Oberlandesgericht München die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers. Unter Berücksichtigung insbesondere der von den behandelnden Ärzten des Beschwerdeführers geäußerten Ansichten war das Gericht der Auffassung, dass keine hinreichend konkrete Aussicht mehr darauf bestehe, dass der Beschwerdeführer von seiner Drogensucht geheilt oder für eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in seine Sucht bewahrt werden könne. Er habe in der Klinik heimlich Methadon konsumiert und keine Abstinenzmotivation gezeigt.
9. Der Beschwerdeführer wurde am 30. April 2010 in die JVA K. zurückverlegt. Die Anstaltsärzte verabreichten ihm täglich verschiedene Schmerzmittel gegen die von seiner Polyneuropathie herrührenden chronischen Schmerzen. Im Verlauf der Haftunterbringung entwickelten sich seine Schmerzen im Fuß-, Nacken- und Wirbelsäulenbereich dergestalt, dass er, zumindest zeitweise, überwiegend im Bett lag.
10. Im Oktober 2010 wurde der Beschwerdeführer auf Veranlassung der Justizvollzugsanstalt von einem externen Arzt für Innere Medizin, H., untersucht. H. sah keine Notwendigkeit für Änderungen an der HIV- bzw. Hepatitis-C-Behandlung des Beschwerdeführers. In Bezug auf die mit dem langjährigen Drogenkonsum und der Polyneuropathie des Beschwerdeführers zusammenhängenden chronischen Schmerzen empfahl er dem anstaltsärztlichen Dienst, die Möglichkeit einer Drogensubstitutionsbehandlung nochmals in Erwägung zu ziehen. Später bekräftigte er, dass der Beschwerdeführer hierzu von einem auf Substitutionstherapie spezialisierten Arzt untersucht werden sollte.
11. Auf Antrag des Beschwerdeführers wurde auch ein auf den 27. Juli 2011 datierendes Gutachten von einem externen Suchtmediziner (B.) eingeholt, das auf dem Arztbrief von Dr. H. sowie auf Feststellungen und Angaben des Anstaltsarztes der JVA K. sowie der Vollzugsbehörde beruhte, ohne dass jedoch die Möglichkeit einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers gegeben war. B. war der Meinung, dass aus medizinischer Sicht eine Substitutionsbehandlung des Beschwerdeführers geboten sei. Er führte aus, dass die Substitutionstherapie nach den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger vom 19. Februar 2010 (siehe Rdnr. 30) international als bestmögliche Behandlung bei Langzeitopiatabhängigkeit angesehen werde. Eine Entgiftungsbehandlung bringe eine starke körperliche Belastung und extremen psychischen Stress für den Betroffenen mit sich und solle nur bei sehr kurzer Opiatabhängigkeit versucht werden. Die Substitutionstherapie verhindere eine Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten und eine erhöhte Gefährdung des Lebens, die insbesondere nach erzwungener Abstinenz bei Haftaufenthalten auftrete. Ferner beuge sie der Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatitis C vor. Im Falle des Beschwerdeführers sei abzuklären, ob eine weitergehende Behandlung der Hepatitis C, an der der Beschwerdeführer leide, notwendig sei.
B. Das in Rede stehende Verfahren
1. Die Entscheidung der Vollzugsbehörde
12. Mit Schriftsatz vom 6. Juni 2011, den er anschließend ergänzte, beantragte der Beschwerdeführer bei der JVA K. eine Behandlung seiner Heroinsucht mit Diamorphin, Polamidon oder einem anderen Heroinsubstitut. Hilfsweise beantragte er, die Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung von einem Suchtmediziner prüfen zu lassen.
13. Er machte geltend, dass die Substitutionstherapie die einzige angemessene Behandlung für sein Krankheitsbild sei. Nach den einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger sei eine Drogensubstitutionsbehandlung, wie er sie vor seinem Haftantritt erhalten habe, die erforderliche Standardbehandlung bei seinem Zustand und müsse während seiner Haftunterbringung fortgesetzt werden.
14. Er machte geltend, dass – wie von Dr. H. bestätigt – die schweren chronischen Nervenschmerzen, an denen er leide, durch eine Substitutionsbehandlung erheblich gemildert werden könnten, so wie dies bei seiner vorangegangenen Substitutionstherapie der Fall gewesen sei. Nach nahezu vierzigjähriger Heroinabhängigkeit bestehe bei ihm kaum Aussicht darauf, nach der Entlassung aus der Haft vollständig drogenfrei zu leben. Seiner Resozialisierung wäre durch eine Substitutionsbehandlung daher eher gedient. Während einer entsprechenden früheren Behandlung sei er in der Lage gewesen, ein verhältnismäßig normales Leben zu führen und eine Ausbildung als Programmierer abzuschließen.
15. Außerdem behauptete er unter Verweis auf die Stellungnahme von Dr. B., dass er zur Behandlung seiner Hepatitis-C-Erkrankung auch eine Interferontherapie benötige. Angesichts seiner schlechten physischen und psychischen Verfassung sei die Durchführung einer solchen Therapie ohne gleichzeitige Substitution nicht möglich. Auch trage die Substitution dazu bei, Mitgefangene, die beim Drogenkonsum dieselben Nadeln benutzten wie er, vor Ansteckung zu schützen, und dem Schmuggel sowie dem unkontrollierten Konsum illegaler Drogen in der Haftanstalt werde entgegengewirkt. Er war außerdem der Ansicht, dass die Anstaltsärzte der Justizvollzugsanstalt nicht über besondere Fachkunde im Bereich der Suchtmedizin verfügten, und bat darum, einem externen Spezialisten vorgestellt zu werden.
16. Nachdem der erste ablehnende Bescheid der Vollzugsbehörde vom Landgericht Augsburg am 4. Oktober 2011 mangels hinreichender Begründung aufgehoben worden war, lehnte die Vollzugsbehörde am 16. Januar 2012 den Antrag des Beschwerdeführers erneut ab.
17. Die Vollzugsbehörde führte aus, dass eine Substitutionsbehandlung weder aus medizinischer Sicht erforderlich noch eine geeignete Maßnahme zur Resozialisierung des Beschwerdeführers sei. Hinsichtlich der medizinischen Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung vertrat die Vollzugsbehörde, gestützt auf die Stellungnahme des Anstaltsarztes S., die Ansicht, dass eine Drogensubstitutionstherapie keine nach Artikel 60 BayStVollzG (siehe Rdnr. 27) notwendige Behandlung sei. Der massiv drogenabhängige Beschwerdeführer habe vor seiner gegenwärtigen Unterbringung in der JVA K. keine Substitutionsbehandlung erhalten. Er habe vor seiner Verlegung in die JVA K. fünf Monate in einer Entziehungsanstalt verbracht, wo ihn Mediziner mit beträchtlicher Erfahrung mit der Behandlung von Suchtkrankheiten behandelt hätten. Der Beschwerdeführer sei dort nicht substituiert worden und die Ärzte hätten auch keine Empfehlung zu einer Substitution in der Justizvollzugsanstalt ausgesprochen. Nach drei Jahren in Haft leide er nicht mehr an körperlichen Entzugserscheinungen. Außerdem sei sein Zustand im Hinblick auf die HIV- und Hepatitis-C-Erkrankung stabil und bedürfe keiner Behandlung, die eine Substitution voraussetze. Der Beschwerdeführer solle, wie vom Anstaltsarzt empfohlen, die Gelegenheit nutzen, sich von Opiaten wie Heroin und den entsprechenden Substituten zu entwöhnen, solange er in Haft sei, da diese dort nur sehr schwer zu erhalten seien.
18. In Bezug auf die Resozialisierung und die Behandlung des Beschwerdeführers (Artikel 2 und 3 BayStVollzG, siehe Rdnr. 27) führte die Vollzugsbehörde weiter aus, dass bei Abhängigen eine Substitutionsbehandlung vor allem durchgeführt werde, um eine Verelendung und eine Verwicklung in Drogenkriminalität zu verhindern. Diese Risiken seien aber in Haft nicht gegeben. Überdies habe der Beschwerdeführer bereits gezeigt, dass eine Substitutionsbehandlung ihn in haftfreien Zeiten nicht vom Drogenbeikonsum oder der Begehung von Straftaten abgehalten habe, was an seiner antisozialen Natur liege. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer auch während der Haft Drogen konsumiert. Eine Substitution könne bei ihm folglich Risiken für Leib und Leben mit sich bringen.
2. Das Verfahren vor dem Landgericht Augsburg
19. Am 26. Januar 2012 legte der Beschwerdeführer beim Landgericht Augsburg unter Berufung auf die bei der Vollzugsbehörde geltend gemachten Gründe Rechtsmittel gegen den Bescheid der Vollzugsbehörde ein. Er trug ferner vor, dass die Leitung der JVA K., in der noch nie eine Substitutionsbehandlung durchgeführt worden sei, es unterlassen habe, die medizinische Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung nach den maßgeblichen, insbesondere in den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger festgelegten Kriterien, die in seinem Fall eindeutig vorlägen, zu prüfen. Er machte weiterhin geltend, dass er nach der in Baden-Württemberg geltenden Verwaltungsvorschrift über Substitution im Justizvollzug eine Substitutionsbehandlung erhalten würde und diese in den Haftanstalten der meisten Bundesländer durchgeführt werde.
20. Am 28. März 2012 wies das Landgericht Augsburg das Rechtsmittel des Beschwerdeführers unter Bestätigung der von der Vollzugsbehörde vorgebrachten Gründe zurück. Es fügte hinzu, dass die Einholung der Stellungnahme eines Suchtmediziners nicht erforderlich sei. Auch wenn in dieser Justizvollzugsanstalt möglicherweise noch nie eine Substitutionsbehandlung durchgeführt worden sei, seien die Anstaltsärzte der JVA K. hinreichend dafür ausgebildet, über die medizinische Notwendigkeit einer solchen Behandlung zu entscheiden. Die in Baden-Württemberg geltende Verwaltungsvorschrift über Substitution im Justizvollzug sei nicht relevant, da die JVA K. im Bundesland Bayern liege.
3. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht München
21. Am 4. Mai 2012 legte der Beschwerdeführer Rechtsbeschwerde beim Oberlandesgericht München ein. Dadurch, dass das Landgericht nicht hinreichend und unter Mitwirkung eines unabhängigen Suchtmediziners untersucht habe, ob eine Substitutionsbehandlung nach den geltenden Richtlinien der Bundesärztekammer notwendig sei, war ihm zufolge Artikel 60 BayStVollzG und Artikel 3 der Konvention verletzt worden. Ihm die Linderung seiner starken Nervenschmerzen durch eine existierende und medizinisch notwendige Behandlung zu verweigern, stelle eine unmenschliche Behandlung dar.
22. Am 9. August 2012 verwarf das Oberlandesgericht die Beschwerde als unbegründet. Das Gericht war der Ansicht, der Beschwerdeführer habe nicht dargetan, warum gerade die Substitutionstherapie die von ihm benötigte medizinische Behandlung sei. Er habe ferner nicht nachgewiesen, dass die Anstaltsärzte der JVA K. nicht befähigt seien, die medizinische Notwendigkeit der Heroinsubstitution zu beurteilen. Das von dem Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts eingelegte Rechtsmittel wurde verworfen.
4. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
23. Am 10. September 2012 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er rügte, dass sein Grundrecht auf Achtung seiner körperlichen Unversehrtheit verletzt worden sei, da ihm die Drogensubstitutionstherapie, die einzige adäquate Therapie zur Behandlung seiner chronischen Schmerzen, die eine Interferonbehandlung sowie eine Verringerung seines Suchtdrucks nach Heroin und ein „normales“ Alltagsleben in Haft ohne Isolation ermöglich würde, verweigert worden sei. Er rügte ferner, dass er in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt worden sei, da die innerstaatlichen Gerichte die ärztlichen Gutachten, die er vorgelegt habe, um die Erforderlichkeit einer Substitutionsbehandlung zu belegen, nicht berücksichtigt und keinen unabhängigen fachlich qualifizierten Sachverständigen hinzugezogen hätten.
24. Am 10. April 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2263/12).
C. Weitere Entwicklungen
25. Am 17. November 2014 lehnte die Vollzugsbehörde K. den erneuten Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung einer Substitutionsbehandlung als Entlassungsvorbereitung ab. Dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers wurde angeraten sicherzustellen, dass der Beschwerdeführer unmittelbar nach seiner Haftentlassung in eine Suchtfachklinik gebracht werde, damit er sich in Freiheit nicht sofort eine Überdosis Heroin zuführe.
26. Am 3. Dezember 2014 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Bei einer ärztlichen Untersuchung am 5. Dezember 2014 wurde er positiv auf Methadon und Kokain getestet. Der Arzt bestätigte, dass der Beschwerdeführer vom 8. Dezember 2014 an eine Substitutionsbehandlung erhalten werde.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Die Bestimmungen des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes
27. Die Bestimmungen des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes (BayStVollzG) hinsichtlich der Prüfung von Anträgen auf Substitutionsbehandlung lauten wie folgt:
Artikel 2: Aufgaben des Vollzugs
„Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Er soll die Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsauftrag).“
Artikel 3: Behandlung im Vollzug
„Die Behandlung umfasst alle Maßnahmen, die geeignet sind, auf eine künftige deliktfreie Lebensführung hinzuwirken. Sie dient der Verhütung weiterer Straftaten und dem Opferschutz. […]“
Abschnitt 8 – Gesundheitsfürsorge
Artikel 58: Allgemeine Regeln
„(1) Für die körperliche und geistige Gesundheit der Gefangenen ist zu sorgen. […]“
Artikel 60: Krankenbehandlung
„Gefangene haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst
1. ärztliche Behandlung,
[…]
4. Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln,
[…]“
B. Rechtsvorschriften und Richtlinien zur Substitutionsbehandlung
28. Nach § 13 Abs. 1 und 3 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) dürfen Ärzte die im Gesetz vorgesehenen Betäubungsmittel (insbesondere Methadon) nur dann an eine Person abgeben, wenn ihre Anwendung begründet ist. Die Bundesregierung ist ermächtigt, die Verschreibung und Abgabe von solchen Betäubungsmitteln, einschließlich der Verschreibung von Substitutionsmitteln für Drogenabhängige, durch Rechtsverordnung zu regeln.
29. Der im Einklang mit § 13 BtMG erlassene § 5 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) enthält Vorschriften für die Verschreibung von Betäubungsmitteln zur Substitution. Nach § 5 Abs. 1 BtMVV dient die Substitutionsbehandlung von Drogenabhängigen der Behandlung der Drogenabhängigkeit mit dem Ziel der schrittweisen Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz einschließlich der Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustands des Patienten. Sie kann auch der Unterstützung der Behandlung einer neben der Drogenabhängigkeit bestehenden schweren Erkrankung des Patienten dienen. Nach § 5 Abs. 2 BtMVV darf der Arzt ein Substitutionsmittel unter den Voraussetzungen des § 13 BtMG verschreiben, wenn insbesondere keine Erkenntnisse vorliegen, dass der Patient Stoffe gebraucht, deren Konsum nach Art und Menge den Zweck der Substitution gefährdet. Gemäß § 5 Abs. 11 BtMVV kann die Bundesärztekammer in Richtlinien den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft hinsichtlich verschiedener Aspekte der Drogensubstitutionsbehandlung festschreiben. Die Einhaltung des Standes der medizinischen Wissenschaft wird vermutet, wenn und soweit die diesbezüglichen Richtlinien beachtet worden sind.
30. Gestützt auf § 5 Abs. 11 BtMVV verabschiedete die Bundesärztekammer am 19. Februar 2010 Richtlinien zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger. In der Präambel der Richtlinien wird klargestellt, dass Opiatabhängigkeit eine schwere chronische Krankheit ist, die einer medizinischen Behandlung bedarf, und dass die Substitutionsbehandlung eine wissenschaftlich evaluierte Therapieform der manifesten Opiatabhängigkeit ist. Die Ziele der Substitutionsbehandlung umfassten die Sicherung des Überlebens des Patienten, die Reduktion des Gebrauchs anderer Suchtmittel, die gesundheitliche Stabilisierung und Behandlung von Begleiterkrankungen, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben sowie ein drogenfreies Leben. Laut Nr. 2 der Richtlinien ist eine Substitutionsbehandlung in Fällen der manifesten Opiatabhängigkeit gemäß der International Classification of Diseases [Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme] indiziert, wenn diese nach den Fallumständen eine erfolgversprechendere Behandlung als eine abstinenzbasierte Therapieform darstellt. In begründeten Einzelfällen kann eine Substitutionsbehandlung auch bei gegenwärtig abstinenten, aber in einer beschützenden Umgebung – z. B. im Gefängnis – befindlichen Drogenabhängigen eingeleitet werden. Nr. 8 der Richtlinien sieht vor, dass bei einer Haftunterbringung die Kontinuität der Substitutionsbehandlung durch die den Patienten aufnehmende Institution sicherzustellen ist. Nach Nr. 12 der Richtlinien ist die Substitutionstherapie zu beenden, wenn sie mit einem fortgesetzten, problematischen Konsum anderer gefährlicher Substanzen einhergeht.
C. Forschung zur Drogensubstitution
31. Eine vom Bundesministerium für Gesundheit bei der Technischen Universität Dresden in Auftrag gegebene und 2011 veröffentlichte Studie mit dem Titel „Langfristige Substitution Opiatabhängiger: Prädiktoren, Moderatoren und Outcome“ (PREMOS) bestätigt, dass die Opiatabhängigkeit eine schwere chronische Krankheit ist. Substitutionsbehandlungen seien erstmals 1949 in den USA erprobt worden und würden seitdem als sowohl etablierte als auch bestmögliche Therapie für Opiatabhängigkeit gelten. Eines der üblicherweise zur Substitutionstherapie eingesetzten Medikamente sei Methadon, ein synthetisches Opioid mit starker schmerzstillender Wirkung. Die Langzeitsubstitution habe sich zur Erreichung der grundlegenden Substitutionsziele (z. B. Behandlungskontinuität, Sicherung des Überlebens, Reduktion des Drogenkonsums, Stabilisierung der Komorbidität, gesellschaftliche Teilhabe) als wirksam erwiesen. Stabile Opioidabstinenz sei im langfristigen Verlauf ein seltenes Phänomen (erreicht von weniger als 4 % der untersuchten Opioidabhängigen) und mit erheblichen Risiken (insbesondere Tod) verbunden. Die Beendigung einer Substitutionsbehandlung solle deshalb nur in Erwägung gezogen werden, wenn insbesondere eine stabile Motivation, gute psychosoziale Rahmenbedingungen und eine gute Behandlung des Patienten gegeben seien (siehe S. 4-15 sowie 125-133 des Schlussberichts der Studie).
III. EINSCHLÄGIGE DOKUMENTE DES EUROPARATS
32. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) des Europarats veröffentlicht die CPT-Standards, in denen die „inhaltlichen“ Abschnitte der CPT-Jahresberichte zusammengefasst sind. Die CPT-Standards in der zur Zeit der Inhaftierung des Beschwerdeführers geltenden Fassung (CPT/Inf/E (2002) 1 ‑ Rev. 2010), die seitdem hinsichtlich der hier relevanten Fragen nicht verändert wurden (siehe CPT/Inf/E (2002) 1 ‑ Rev. 2015), enthielten folgende einschlägige Feststellungen und Empfehlungen des CPT:
„Gesundheitsdienste in Gefängnissen
Auszug aus dem 1993 veröffentlichten 3. Jahresbericht [CPT/Inf (93) 12]
31. […] das CPT [möchte] die Wichtigkeit deutlich machen, die es dem allgemeinen Grundsatz beimisst – der bereits in den meisten, wenn nicht allen der von dem Komitee bisher besuchten Länder anerkannt ist –, dass Gefangene einen Anspruch auf dasselbe Niveau medizinischer Fürsorge haben wie Personen in Freiheit. Dies ist ein Prinzip, das den Grundrechten des Individuums innewohnt. […]
Gleichwertigkeit der Fürsorge
i) Allgemeinmedizin
38. Der Gesundheitsdienst in einem Gefängnis sollte in der Lage sein, unter vergleichbaren Bedingungen, wie sie Patienten in Freiheit genießen, medizinische Behandlung und Pflegedienste ebenso wie geeignete Diäten, Physiotherapie, Rehabilitationsmaßnahmen oder andere notwendige besondere Behandlungsmethoden zur Verfügung zu stellen. Die Ausstattung im Hinblick auf ärztliches, pflegerisches und technisches Personal wie auf Räumlichkeiten, Installationen und Ausrüstung sollte darauf abgestimmt sein.“
33. Die Empfehlung Rec(2006)2 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, angenommen am 11. Januar 2006 auf der 952. Sitzung des Komitees der Ministerstellvertreter („Europäische Strafvollzugsgrundsätze“), sieht einen Leitlinienrahmen für die Behandlung von Personen vor, denen die Freiheit entzogen ist. Die maßgeblichen Passagen in Teil III des Anhangs der Empfehlung zum Thema „Gesundheit“ lauten wie folgt:
„Organisation der Gesundheitsfürsorge
[…] 40.3 Gefangenen ist unabhängig von ihrem rechtlichen Status Zugang zur Gesundheitsfürsorge des betreffenden Staates zu gewähren.
40.4 Der anstaltsärztliche Dienst soll körperliche oder geistige Krankheiten oder Beschwerden, an denen Gefangene möglicherweise leiden, aufdecken und behandeln.
40.5 Zu diesem Zweck müssen den Gefangenen alle erforderlichen ärztlichen, chirurgischen und psychiatrischen Einrichtungen auch außerhalb der Anstalt zur Verfügung gestellt werden.“
34. In Empfehlung Nr. R (98) 7 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die ethischen und organisatorischen Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in Vollzugsanstalten, angenommen am 8. April 1998 auf der 627. Sitzung der Ministerstellvertreter, ist im Anhang, soweit maßgeblich, vorgesehen:
„7. Die Vollzugsverwaltung soll Vorkehrungen treffen, um Kontakte und eine Zusammenarbeit mit örtlichen öffentlichen und privaten Gesundheitseinrichtungen sicherzustellen. Da es nicht leicht ist, für bestimmte drogen-, alkohol- oder medikamentenabhängige Gefangene eine geeignete Behandlung in der Vollzugsanstalt vorzusehen, sollen externe Fachkräfte aus der unterstützenden Arbeit mit Abhängigen in der allgemeinen Gesellschaft zur Beratung und auch zur Versorgung hinzugezogen werden. […]
Gleichwertigkeit der Fürsorge
10. Die Gesundheitspolitik in der Haft soll Teil der nationalen Gesundheitspolitik und mit ihr vereinbar sein. Der Gesundheitsdienst in einer Vollzugsanstalt soll in der Lage sein, unter Bedingungen, die denen außerhalb der Anstalt vergleichbar sind, eine allgemeinärztliche, psychiatrische und zahnärztliche Behandlung zu gewährleisten und Programme auf dem Gebiet der Hygiene und der vorbeugenden Medizin durchzuführen. Anstaltsärzte sollen Fachärzte hinzuziehen können. Ist ein zweites Gutachten erforderlich, so ist der Dienst verpflichtet, dies zu veranlassen. […]
45. Die Behandlung der Entziehungserscheinungen nach Drogen-, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch in der Vollzugsanstalt soll in derselben Weise durchgeführt werden wie außerhalb der Anstalt.“
35. Dem Grundsatzpapier zur Schadensminimierung und Prävention von Risiken in Verbindung mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen, beschlossen im November 2013 von den ständigen Korrespondenten der Kooperationsgruppe zur Bekämpfung von Drogenmissbrauch und unerlaubtem Drogenhandel (Pompidou-Gruppe) des Europarats (P-PG (2013) 20) zufolge findet die Erkenntnis immer größere Zustimmung, dass Drogensucht als chronische, verhütbare und behandelbare Krankheit, von der man sich erholen kann, angesehen und behandelt werden muss. Gleichzeitig würden nach wie vor nationale Unterschiede hinsichtlich der politischen Akzeptanz und Auslegung sowie der Arten durchführbarer Maßnahmen, des Zugangs zu ihnen und ihrer Verfügbarkeit bestehen. Trotz dieser Unterschiede herrsche ein allgemeiner Konsens darüber, dass Strategien für Entzug und Rehabilitation durch Maßnahmen ergänzt werden müssten, die den Schaden und die Risiken des Konsums psychoaktiver Substanzen nachweisbar reduzieren (a. a. O., Rdnr. 10).
IV. EINSCHLÄGIGE STATISTISCHE DATEN
36. Nach den von der Nichtregierungsorganisation Harm Reduction International (HRI) gesammelten Daten gab es im Jahr 2012 in 41 Mitgliedstaaten des Europarats für die Bevölkerung Programme zur Opioid-Substitutionsbehandlung. In Andorra, Monaco, der Russischen Föderation und der Türkei existierten keine entsprechenden Programme (in der Türkei wurden sie 2015 eingeführt); zu Liechtenstein und San Marino lagen keine statistischen Daten vor. Im Jahr 2012 wurden in 30 Mitgliedstaaten des Europarats Opioid-Substitutionsprogramme auch in Haftanstalten angeboten, während sie in 15 Mitgliedstaaten des Europarats (Andorra, Armenien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Estland, Griechenland, Island, Litauen, Monaco, Russische Föderation, Slowakische Republik, Türkei, Ukraine und Zypern) nicht in Haftanstalten angeboten wurden; zu Liechtenstein und San Marino lagen keine statistischen Daten vor. Bis 2015 waren in Bulgarien, Estland, der Türkei und der Ukraine auch in den Haftanstalten Opioid-Substitutionsprogramme eingeführt worden.
37. Die HRI-Daten für 2012 entsprechen den Daten, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), eine dezentrale Agentur der Europäischen Union, in ihrer Studie „Prisons and drug abuse in Europe: the problem and responses” [Haftanstalten und Drogenmissbrauch in Europa: Das Problem und der Umgang damit] im Jahr 2012 veröffentlichte, und die Daten zu allen (damaligen) EU-Mitgliedstaaten, Kroatien, der Türkei und Norwegen enthielt.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 3 DER KONVENTION
38. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Verweigerung einer Drogensubstitutionsbehandlung in der Haftanstalt, infolge derer er erhebliche Schmerzen erlitten habe und seine Gesundheit geschädigt worden sei, sowie die verweigerte Prüfung der Erforderlichkeit einer solchen Behandlung durch einen externen medizinischen Sachverständigen unmenschliche Behandlung dargestellt habe. Er berief sich auf Artikel 3 der Konvention, der wie folgt lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
39. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
40. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
41. Dem Vortrag des Beschwerdeführers zufolge stellte die Verweigerung der Drogensubstitutionsbehandlung durch die Behörden ohne Konsultation eines externen medizinischen Sachverständigen eine unmenschliche Behandlung unter Verletzung von Artikel 3 der Konvention dar.
42. Der Beschwerdeführer trug vor, aufgrund der Umstände in seinem Fall sei die Substitutionsbehandlung die einzige geeignete Therapie für sein Krankheitsbild gewesen. Indem sie ihm diese Therapie verweigert hätten, hätten die Behörden ihren Ermessensspielraum bezüglich der medizinischen Behandlung von Gefangenen überschritten und folglich ihre positiven Verpflichtungen nach Artikel 3 missachtet.
43. Um diese Sichtweise zu untermauern, führte der Beschwerdeführer aus, dass er seit etwa vierzig Jahren heroinabhängig sei. Das Oberlandesgericht München sei in seiner Entscheidung vom 25. Juni 2010 (siehe Rdnr. 8) selbst davon ausgegangen, dass bei ihm keine Aussicht darauf bestehe, dass er für eine nennenswerte Zeit drogenfrei leben werde. Vor seiner Inhaftierung habe er von 1991 bis 2008 ununterbrochen Substitutionstherapie erhalten.
44. Nach Auffassung des Beschwerdeführers war die Substitutionsbehandlung zur Linderung seiner starken Nervenschmerzen notwendig und hatte sich in der Vergangenheit in dieser Hinsicht bewährt. Die Behandlung seiner Schmerzen allein mit Schmerzmitteln sei dagegen nicht wirkungsvoll und demnach unzureichend gewesen. Substitutionstherapie sei außerdem die adäquate Therapie zur Linderung seines Suchtdrucks nach Heroin und die Voraussetzung für die angemessene Behandlung seiner anderen schweren Erkrankung, namentlich die Interferonbehandlung der Hepatitis-C-Erkrankung, gewesen. Sie hätte ihm – wie zu der Zeit, als er substituiert wurde – ein „normales“ Alltagsleben ermöglichen können. Durch die rechtswidrige Verweigerung dieser Therapie hätten die Behörden ihm starkes körperliches und seelisches Leid zugefügt.
45. Der Beschwerdeführer trug ferner vor, dass die Behörden die Notwendigkeit seiner Substitutionsbehandlung nicht hinreichend geprüft hätten. Die Notwendigkeit einer solchen Behandlung hätte, wie von ihm während des gesamten innerstaatlichen Verfahrens gefordert, durch einen unabhängigen medizinischen Sachverständigen geprüft werden müssen. Die Anstaltsärzte der JVA K., in der noch nie eine Drogensubstitutionsbehandlung durchgeführt worden sei, seien fachlich nicht hinreichend ausgebildet und erfahren, um die Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung beurteilen zu können.
46. Ferner betonte der Beschwerdeführer, dass weder der Anstaltsarzt noch die Gerichte die für die Drogensubstitutionstherapie geltenden Bestimmungen (§ 13 BtMG i. V. m. § 5 BtMVV und den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger) berücksichtigt oder wenigstens erwähnt hätten. In seinem Fall hätten die Voraussetzungen für eine Substitutionsbehandlung vorgelegen. Entsprechend § 5 Abs. 1 BtMVV hätte sie der Unterstützung der notwendigen Behandlung der neben seiner Drogenabhängigkeit bestehenden schweren Erkrankungen, namentlich Hepatitis C, HIV und Polyneuropathie, gedient. Außerdem hätten, wie nach § 5 Abs. 2 BtMVV gefordert, keine Erkenntnisse vorgelegen, wonach der Beschwerdeführer in der Haftanstalt Stoffe konsumieren würde, deren Art oder Menge den Zweck der Substitution gefährden würde. Seine Substitutionsbehandlung sei unter Verletzung von Nr. 8 der Richtlinien der Bundesärztekammer unterbrochen worden, als er die Haft antrat.
47. Der Beschwerdeführer trug ferner vor, dass er durch die Verweigerung der Substitutionstherapie im Vergleich zu nicht in Haft befindlichen bzw. zu in Baden-Württemberg inhaftierten Heroinabhängigen, die im Einklang mit den einschlägigen medizinischen Richtlinien eine Substitutionsbehandlung erhalten könnten, diskriminiert worden sei. Die Substitution sei ihm aus Prinzip und aus überholten ideologischen statt aus medizinischen Gründen verweigert worden.
b) Die Regierung
48. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass durch die dem Beschwerdeführer in der Haftanstalt ohne Konsultation eines externen medizinischen Sachverständigen verweigerte Substitutionsbehandlung Artikel 3 der Konvention nicht verletzt worden sei.
49. Dem Vortrag der Regierung zufolge ist dem Beschwerdeführer in der Haft die erforderliche angemessene medizinische Behandlung zuteil geworden. Sie bestritt, dass die Drogensubstitution die zur Behandlung des Krankheitsbildes des Beschwerdeführers notwendige Therapie gewesen sei; noch weniger sei sie die einzige zur Erhaltung der Gesundheit des Beschwerdeführers geeignete Therapie gewesen. Wie von dem Anstaltsarzt festgestellt sei eine Substitution aus medizinischen Gründen nicht erforderlich gewesen. Sie sei ebenso wenig zur Erreichung der durch den Strafvollzug verfolgten Ziele notwendig gewesen. Sie wäre dem Ziel zuwidergelaufen, den Beschwerdeführer in der Haft zu resozialisieren und dazu zu befähigen, ein drogenfreies Leben zu führen. Folglich sei die Verweigerung der Drogensubstitutionsbehandlung in den staatlichen Ermessensspielraum hinsichtlich der Wahl zwischen verschiedenen Arten der medizinischen Behandlung von Gefangenen gefallen. Dies gelte umso mehr, als die Erkrankungen des Beschwerdeführers nicht durch staatliches Handeln entstanden seien.
50. Die Regierung legte dar, dass der Beschwerdeführer nach ordnungsgemäßer Untersuchung durch den Anstaltsarzt entsprechend Art. 58 und 60 BayStVollzG (siehe Rdnr. 27) umfassend medizinisch versorgt worden sei. Seine Krankheiten seien unter anderem mit Schmerzmitteln und mittels psychiatrischer Betreuung adäquat therapiert worden, um die chronischen Schmerzen, an denen er leide, zu lindern und seine Drogensucht zu behandeln. Er sei hinsichtlich seiner HIV- und Hepatitis-C-Erkrankung auch von spezialisierten Ärzten untersucht und entsprechend medikamentiert worden. Sein Gesundheitszustand sei in der Haft stabil gewesen und er habe zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr an körperlichen Entzugserscheinungen gelitten.
51. Außerdem bezweifelte die Regierung, dass die einschlägigen Voraussetzungen für eine Substitutionsbehandlung aus § 13 BtMG i. V. m. § 5 BtMVV und den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger (siehe Rdnrn. 28-30) im Fall des Beschwerdeführers vorgelegen hätten. Entgegen den Anforderungen des § 5 Abs. 1 BtMVV habe der Beschwerdeführer nicht das Ziel der schrittweisen Wiederherstellung seiner Betäubungsmittelabstinenz verfolgt. Überdies sei fraglich, ob die Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 BtMVV vorgelegen hätten, da damit zu rechnen gewesen sei, dass der Beschwerdeführer genau wie in der Vergangenheit zusätzlich zur Substitution Stoffe konsumieren würde, deren Art oder Menge den Zweck der Substitution gefährden würde, insbesondere Heroin, was lebensgefährlich sei. Ferner sei die Substitutionsbehandlung in Haftanstalten gemäß den Richtlinien der Bundesärztekammer nur in begründeten Einzelfällen einzusetzen. Die Anstaltsärzte seien nicht der Meinung gewesen, dass ein solcher vorliege.
52. Die Regierung räumte ein, dass eine kürzlich vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebene Studie (siehe Rdnr. 31) ergeben habe, dass stabile Abstinenz in der Praxis ein seltenes Phänomen und als Behandlungsziel im langfristigen Verlauf offenbar unrealistisch sei. Allerdings könne Abstinenz den Erkenntnissen der Experten zufolge dennoch ein legitimes, zwischen Arzt und Patient vereinbartes Ziel der Substitutionsbehandlung darstellen.
53. Die Regierung trug ferner vor, die Behörden hätten die Notwendigkeit einer Substitution des Beschwerdeführers hinreichend geprüft. Sie unterstrich, dass der Beschwerdeführer vor seiner Inhaftierung in der JVA K. in der Entziehungsanstalt G. untergebracht gewesen sei, wo die auf Suchtmedizin spezialisierten Ärzte eine Substitutionstherapie bei ihm nicht als erforderlich angesehen hätten. Überdies habe einer der den Beschwerdeführer in der Justizvollzugsanstalt behandelnden Ärzte in der Zeit seiner Beschäftigung im Bundesland Niedersachsen zahlreiche Substitutionsbehandlungen durchgeführt. Er habe daher gleichfalls über die erforderliche fachliche Erfahrung verfügt, um die Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung des Beschwerdeführers beurteilen zu können. Dies sei durch die innerstaatlichen Gerichte überprüft worden. Der Beschwerdeführer habe in der Haft nicht das Recht, seine medizinische Behandlung und seinen behandelnden Arzt frei zu wählen, und könne demnach nicht verlangen, von einem externen Mediziner untersucht und behandelt zu werden.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
54. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die einem Opfer zugefügte bzw. von einem Opfer erlittene Behandlung nur unter das in Artikel 3 der Konvention enthaltene Verbot fällt, wenn sie ein Mindestmaß an Schwere erreicht. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist relativ; sie hängt von den gesamten Umständen des Falles wie der Dauer der Behandlung, den körperlichen oder seelischen Folgen und zuweilen vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers ab (siehe u. a. Blokhin ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 47152/06, Rdnr. 135, ECHR 2016, mit weiteren Verweisen).
55. Der Gerichtshof erinnert ferner daran, dass Artikel 3 der Konvention dem Staat die Verpflichtung auferlegt zu gewährleisten, dass eine Person unter Bedingungen festgehalten wird, die mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind, dass ihr durch die Art und Weise des Vollzugs der Maßnahme nicht Leid oder Härten auferlegt werden, die über das zwangsläufig mit der Haft verbundene Maß an Leiden hinausgehen und dass ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Erfordernisse der Haft angemessen sichergestellt werden, indem sie u. a. die notwendige medizinische Unterstützung und Behandlung erhält (siehe Kudła ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 30210/96, Rdnr. 94, ECHR 2000‑XI; McGlinchey u. a. ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 50390/99, Rdnr. 46, ECHR 2003‑V; und Farbtuhs ./. Lettland, Individualbeschwerde Nr. 4672/02, Rdnr. 51, 2. Dezember 2004). In diesem Zusammenhang bleibt die „Angemessenheit“ der medizinischen Unterstützung das am schwierigsten zu bestimmende Merkmal. Die medizinische Behandlung in Haftanstalten muss adäquat sein, also auf einem Niveau erfolgen, an das sich die staatlichen Stellen bei der Versorgung der Gesamtbevölkerung gebunden sehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass jedem Inhaftierten dasselbe Niveau medizinischer Behandlung zu garantieren ist, das in den besten medizinischen Einrichtungen außerhalb der Haftanstalten vorzufinden ist (siehe u. a. Blokhin, a. a. O., Rdnr. 137).
56. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass es für einen Gefangenen, der an einer schweren Krankheit leidet, unerlässlich ist, von einem auf die fragliche Krankheit spezialisierten Mediziner angemessen auf seinen aktuellen Gesundheitszustand hin untersucht zu werden, damit er die geeignete Behandlung erhalten kann (vgl. Keenan ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 27229/95, Rdnrn. 115-116, ECHR 2001‑III, hinsichtlich eines psychisch kranken Gefangenen; Khudobin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 59696/00, Rdnrn. 95‑96, ECHR 2006‑XII (Auszüge), hinsichtlich eines an mehreren chronischen Erkrankungen, u. a. Hepatitis C und HIV, leidenden Gefangenen; und Testa ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 20877/04, Rdnrn. 51-52, 12. Juli 2007, hinsichtlich einer Gefangenen mit chronischer Hepatitis C).
57. Die Vollzugsbehörden müssen den Gefangenen entsprechend der Krankheit(en) behandeln, die bei ihm diagnostiziert wurde(n) (siehe Poghosyan ./. Georgien, Individualbeschwerde Nr. 9870/07, Rdnr. 59, 24. Februar 2009), und zwar wie von den zuständigen Ärzten verordnet (siehe Xiros ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 1033/07, Rdnr. 75, 9. September 2010). Sollten in der Frage, welche Behandlung zur angemessenen Gewährleistung der Gesundheit eines Gefangenen notwendig ist, die Meinungen der Ärzte auseinandergehen, kann es erforderlich sein, dass die innerstaatlichen Behörden und Gerichte zusätzlichen Rat eines spezialisierten medizinischen Sachverständigen einholen, um ihrer positiven Verpflichtung aus Artikel 3 nachzukommen (vgl. Xiros, a. a. O., Rdnrn. 87 und 89-90; und Budanov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 66583/11, Rdnr. 73, 9. Januar 2014). Die behördliche Verweigerung der von einem unter schwerwiegenden Gesundheitsproblemen leidenden Gefangenen beantragten unabhängigen fachspezifischen medizinischen Unterstützung ist ein Aspekt, mit dem sich der Gerichtshof bei der Beurteilung der staatlichen Einhaltung von Artikel 3 bereits auseinandergesetzt hat (vgl. bspw. Sarban ./. Moldau, Individualbeschwerde Nr. 3456/05, Rdnr. 90, 4. Oktober 2005).
58. Im Bewusstsein des subsidiären Charakters seiner Position weist der Gerichtshof außerdem erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, über ausschließlich in das Fachgebiet von medizinischen Sachverständigen fallende Angelegenheiten zu entscheiden und festzustellen, inwieweit ein Beschwerdeführer tatsächlich eine bestimmte Behandlung benötigte oder ob die gewählten Behandlungsmethoden im Hinblick auf die Bedürfnisse des Beschwerdeführers angemessen waren (siehe Ukhan ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 30628/02, Rdnr. 76, 18. Dezember 2008; und Sergey Antonov [./. Ukraine], Individualbeschwerde Nr. 40512/13, Rdnr. 86, 22. Oktober 2015). Allerdings obliegt es angesichts der Schutzbedürftigkeit von inhaftierten Beschwerdeführern der Regierung, glaubhaft und überzeugend nachzuweisen, dass der Betroffene in der Haft eine umfassende und angemessene medizinische Versorgung erhielt (siehe Sergey Antonov, a. a. O.).
b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
59. Der Gerichtshof hat zu entscheiden, ob der beschwerdegegnerische Staat im Lichte der vorstehenden Grundsätze seiner positiven Verpflichtung aus Artikel 3 der Konvention nachgekommen ist und gewährleistet hat, dass die Gesundheit des Beschwerdeführers in der Haft angemessen sichergestellt wurde, indem ihm die notwendige medizinische Behandlung auf einem Niveau zuteilwurde, das dem entspricht, an das sich die staatlichen Stellen bei der Versorgung in Freiheit befindlicher Personen gebunden sehen.
60. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen den Parteien streitig ist, ob nach den Umständen des Falles die Drogensubstitutionstherapie als die erforderliche medizinische Behandlung anzusehen war, die der Beschwerdeführer erhalten musste, damit der Staat dieser Verpflichtung nachkommt.
61. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Staaten hinsichtlich der Wahl unter verschiedenen geeigneten Behandlungsmethoden für die Krankheiten eines Gefangenen einen Ermessensspielraum genießen. Dies gilt insbesondere, wenn aus der medizinischen Forschung nicht eindeutig hervorgeht, welche von zwei oder mehr möglichen Therapien für den betroffenen Patienten geeigneter ist. Unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen ist dem Gerichtshof bewusst, dass bei der Drogensubstitutionsbehandlung mit Methadon ein unerlaubtes Betäubungsmittel durch ein synthetisches Opioid ersetzt wird. Obgleich die Substitutionsbehandlung in den vergangenen Jahren in den Mitgliedstaaten des Europarats zunehmend Verbreitung gefunden hat, ist noch immer umstritten, welche Maßnahmen zur Behandlung von Drogensucht zu ergreifen sind. Der staatliche Ermessensspielraum hinsichtlich der Wahl der Behandlungsmethode für die Krankheiten eines Gefangenen gilt grundsätzlich auch bei der Wahl zwischen einer abstinenzorientierten Drogentherapie oder einer Substitutionsbehandlung sowie bei der Festlegung der allgemeinen Herangehensweise in diesem Bereich, solange der Staat gewährleistet, dass die von der Konvention gesetzten Maßstäbe auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung in Haftanstalten eingehalten werden.
62. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass er im vorliegenden Fall nicht entscheiden muss, ob der Beschwerdeführer tatsächlich eine Drogensubstitutionstherapie benötigte. Er hat vielmehr zu beurteilen, ob der beschwerdegegnerische Staat glaubhaft und überzeugend nachgewiesen hat, dass der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers und die geeignete Behandlung angemessen beurteilt wurden und der Beschwerdeführer in der Haft anschließend eine umfassende und angemessene medizinische Versorgung erhielt.
63. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass eine Reihe gewichtiger Indikatoren dafür vorliegen, dass die Substitutionsbehandlung als die für den Beschwerdeführer notwendige medizinische Behandlung betrachtet werden kann, und zwar: Zunächst ist zwischen den Parteien unstreitig, dass bei dem Beschwerdeführer eine manifeste Langzeitopiatabhängigkeit besteht. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungen der innerstaatlichen Behörden war er seit etwa vierzig Jahren heroinabhängig. Sämtliche Versuche, seine Abhängigkeit zu überwinden, darunter fünf stationäre Drogenentwöhnungstherapien, waren gescheitert. Vor diesem Hintergrund hatte ein innerstaatliches Gericht in einem Verfahren, das mit dem hier in Rede stehenden zusammenhing, selbst bestätigt, dass keine hinreichend konkrete Aussicht mehr darauf bestand, dass der Beschwerdeführer von seiner Drogensucht geheilt oder für eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in seine Sucht bewahrt werden könne (siehe Rdnr. 8). Ferner ist unstreitig, dass der Beschwerdeführer unter chronischen Schmerzen litt, die mit seinem langjährigen Drogenkonsum und seiner Polyneuropathie zusammenhingen.
64. In Anbetracht seines Gesundheitszustands vor der hier in Rede stehenden Haftzeit war die Heroinabhängigkeit des Beschwerdeführers von 1991 bis 2008 siebzehn Jahre lang mit einer ärztlich verschriebenen und überwachten Substitutionstherapie behandelt worden. Der Gerichtshof merkt in diesem Zusammenhang an, dass nach den einschlägigen innerstaatlichen Richtlinien, also den im Einklang mit § 5 Abs. 11 BtMVV erlassenen Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger vom 19. Februar 2010, die Opiatabhängigkeit eine schwere chronische Krankheit ist, die einer medizinischen Behandlung bedarf. Ferner wird klargestellt, dass die Substitutionsbehandlung eine wissenschaftlich evaluierte Therapieform der manifesten Opiatabhängigkeit ist (siehe Rdnr. 30). Laut einer vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegebenen Studie ist die Substitutionsbehandlung als etablierte und in diesem Fall bestmögliche Therapie anzusehen (siehe Rdnr. 31). Aus den dem Gerichtshof vorliegenden statistischen Daten geht demgemäß hervor, dass bereits zur maßgeblichen Zeit des in Rede stehenden Verfahrens in 41 der 47 Mitgliedstaaten des Europarats für die Bevölkerung Programme zur Drogensubstitution bestanden und eine solche Therapie in 30 dieser 41 Staaten auch Gefangenen zur Verfügung stand (siehe Rdnrn. 36-37).
65. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Regierung nicht bestritt, dass die Drogensubstitutionstherapie in deutschen Haftanstalten grundsätzlich genau wie außerhalb der Haftanstalten angeboten wird, und dass sie in mehreren Bundesländern – Bayern ausgenommen – auch tatsächlich in Haft zur Anwendung kommt. Die geltenden Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts (§ 13 BtMG i. V. m. § 5 BtMVV und Nr. 8 der Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger) legen insbesondere fest, dass bei einer Haftunterbringung die Kontinuität der Substitutionsbehandlung durch die den Patienten aufnehmende Institution sicherzustellen ist (siehe Rdnr. 30).
66. Der Gerichtshof merkt in diesem Zusammenhang an, dass dieser Ansatz den vom Europarat bezüglich der Gesundheitsdienste in Gefängnissen festgelegten Standards entspricht. Sowohl die CPT-Standards und die Empfehlung Rec(2006)2 des Ministerkomitees über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze (die nicht speziell auf die Drogentherapie eingehen) als auch Empfehlung R (98) 7 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die ethischen und organisatorischen Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in Vollzugsanstalten schreiben den Grundsatz der Gleichwertigkeit der Fürsorge vor. Diesem Grundsatz zufolge haben Gefangene Anspruch auf medizinische Behandlung unter vergleichbaren Bedingungen, wie sie Patienten in Freiheit genießen, und ihnen sollte ohne Diskriminierung aufgrund ihres rechtlichen Status Zugang zur Gesundheitsfürsorge des betreffenden Staates gewährt werden (siehe Rdnrn. 32-34 und hinsichtlich der vom Gerichtshof aufgestellten Definition Rdnr. 55).
67. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass nicht nur die Ärzte, die dem Beschwerdeführer vor seiner Haft Substitutionstherapie verordneten, der Ansicht waren, dass diese Behandlung in seinem Fall notwendig war. Auch ein von der Justizvollzugsanstalt herangezogener externer Arzt für Innere Medizin, H., der den Beschwerdeführer persönlich untersucht hatte, hatte dem anstaltsärztlichen Dienst, der keine Notwendigkeit für eine entsprechende Behandlung des Beschwerdeführers sah, empfohlen, eine Drogensubstitutionsbehandlung nochmals in Erwägung zu ziehen (siehe Rdnr. 10). Außerdem hatte ein Suchtmediziner (B.), wenn auch nur auf der Grundlage des Arztbriefs von Dr. H., gleichermaßen bestätigt, dass aus medizinischer Sicht eine Substitutionsbehandlung des Beschwerdeführers geboten sei (siehe Rdnr. 11).
68. Der Gerichtshof fügt hinzu, dass die gewichtigen Anhaltspunkte dafür, dass die Substitutionsbehandlung als die für den Beschwerdeführer notwendige medizinische Behandlung betrachtet werden kann, anschließend weiter dadurch untermauert wurden, dass dem Beschwerdeführer unmittelbar nach seiner Haftentlassung Substitutionstherapie verordnet und gewährt wurde.
69. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf seine Rechtsprechung, der zufolge die Regierung überzeugend nachzuweisen hat, dass der betroffene Beschwerdeführer in der Haft eine umfassende und angemessene medizinische Versorgung erhielt (siehe Rdnr. 58). Er stellt fest, dass die abstinenzorientierte Therapie eine radikale Wende in der medizinischen Behandlung, die der Beschwerdeführer in den siebzehn Jahren vor seiner Inhaftierung erhalten hatte, darstellte und dass die innerstaatlichen Gerichte, gestützt auf die Meinung der behandelnden Ärzte in der Entziehungsanstalt, diese Therapie als gescheitert ansahen. Der Gerichtshof befindet, dass unter diesen Umständen die innerstaatlichen Behörden verpflichtet waren, besonders gründlich zu prüfen, ob die Weiterführung der abstinenzorientierten Therapie als geeignet gelten konnte.
70. Der Gerichtshof berücksichtigt diesbezüglich die Argumentation der Behörden, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Verlegung aus der Entziehungsanstalt in die JVA K., wo er Substitutionstherapie beantragte, seit mehreren Monaten keine Substitution erhalten und nicht mehr an körperlichen Entzugserscheinungen gelitten habe. Nach Auffassung des Gerichts spricht dieser Aspekt jedoch nicht gegen die mögliche Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung. Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers war in der Haft insbesondere von chronischen Schmerzzuständen geprägt, an denen er unabhängig von vorausgegangenen körperlichen Entzugserscheinungen litt. Überdies geht aus den Unterlagen, die dem Gerichtshof vorliegen, hervor, dass die Polamidonbehandlung bei Haftantritt des Beschwerdeführers und während seines Aufenthalts in der Entziehungsanstalt, wo seine Sucht ohne ergänzende Substitutionsbehandlung abstinenzbasiert behandelt wurde, gegen den Willen des Beschwerdeführers und offenbar im Widerspruch zu den Bestimmungen der Richtlinien der Bundesärztekammer (Rdnr. 30) unterbrochen wurde. Daher können die Behörden sich nicht auf eine Situation berufen, die sie selbst herbeigeführt haben. Außerdem war es, da die abstinenzorientierte Therapie sowohl nach Ansicht der behandelnden Ärzte in der Entziehungsanstalt als auch nach Ansicht der innerstaatlichen Gerichte (siehe Rdnr. 8) gescheitert war, die Aufgabe der Behörden, erneut zu prüfen, welche Therapie für den Beschwerdeführer geeignet wäre.
71. Der Gerichtshof ist weiterhin der Auffassung, dass seine vorstehenden Ausführungen nicht von der Argumentation der Regierung infrage gestellt werden, der zufolge eine Substitutionstherapie dem Ziel zuwidergelaufen wäre, den Beschwerdeführer durch die in der Haft erzwungene Überwindung seiner Drogensucht zu resozialisieren und ihn so dazu zu befähigen, außerhalb der Haftanstalt ein drogenfreies Leben zu führen. Der Gerichtshof betrachtet dieses Bestreben als grundsätzlich legitimes Ziel, das bei der Beurteilung der Notwendigkeit der medizinischen Behandlung eines Drogensüchtigen Berücksichtigung finden kann. Der Gerichtshof merkt jedoch an, dass im Fall des Beschwerdeführers die Behörden, bevor sie ihm in dem hier in Rede stehenden Verfahren die Drogensubstitutionsbehandlung verweigerten, selbst davon ausgingen, dass das Erreichen dieses Ziels angesichts der zurückliegenden Drogensucht des Beschwerdeführers nicht vernünftigerweise erwartet werden konnte. Insbesondere war das Oberlandesgericht, als es die Beendigung der Behandlung des Beschwerdeführers in der Entziehungsanstalt nach Konsultation seiner behandelnden Ärzte bestätigte, davon überzeugt, dass keine hinreichend konkrete Aussicht mehr auf die Heilung des Beschwerdeführers von seiner Drogensucht bestand (siehe Rdnr. 8).
72. Die diesbezügliche Einschätzung der Behörden wird von medizinischen Forschungsergebnissen bestätigt, die zeigen, dass stabile Opioidabstinenz ein seltenes Phänomen ist, und bei manifester Opiatabhängigkeit nur angestrebt werden sollte, wenn der Patient motiviert ist, dieses Ziel zu erreichen (siehe Rdnr. 31), was bei dem Beschwerdeführer zur maßgeblichen Zeit eindeutig nicht der Fall war. Folglich konnte die Verweigerung der Substitutionsbehandlung nicht auf dieses unerreichbare Ziel gestützt werden.
73. Ferner nimmt der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach eine ihm gewährte Substitutionsbehandlung Risiken für Leib und Leben des Beschwerdeführers mit sich gebracht hätte, da er während der Haft möglicherweise zusätzlich illegale Drogen konsumiert hätte. Nach Ansicht der Regierung hatte er folglich auch nicht die Voraussetzungen für eine Substitutionsbehandlung nach § 5 Abs. 2 BtMVV erfüllt. Der Gerichtshof sieht in diesem Vorbringen einen gewissen Widerspruch zu einem anderen von den Behörden im Zusammenhang mit der Verweigerung der Substitutionsbehandlung angeführten Argument, und zwar dass Opioide in der Haft nur sehr schwer zu erhalten seien. In jedem Fall stellt der Gerichtshof fest, dass diese Gefahr offenbar sogar in Freiheit in den vorausgegangenen siebzehn Jahren, in denen der Beschwerdeführer Substitutionstherapie erhalten hatte, beherrschbar war. Im Gegensatz dazu war die Gefahr für Leib und Leben eines Drogenabhängigen, der unsubstituiert aus der Haft entlassen wurde, auch durch die Vollzugsbehörde anerkannt (siehe Rdnr. 25). Daher befindet der Gerichtshof, dass auch dieser Aspekt die Behörden nicht von der Pflicht entband, die für den Beschwerdeführer geeigneten Behandlungsmöglichkeiten eingehend zu prüfen.
74. Der Gerichtshof fügt hinzu, dass ihm bewusst ist, dass die medizinische Behandlung in Haft zusätzliche Schwierigkeiten und Herausforderungen für die innerstaatlichen Behörden mit sich bringen kann, insbesondere im Zusammenhang mit Sicherheitsbedenken. Die Regierung hat allerdings keine Gründe für die Feststellung vorgetragen, dass eine Substitutionsbehandlung des Beschwerdeführers mit den praktischen Erfordernissen der Haft unvereinbar gewesen wäre. Im Gegenteil hätte eine solche Behandlung, wie von dem Sachverständigen B. unterstrichen, dazu beigetragen, der Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie HIV oder Hepatitis C, an denen der Beschwerdeführer litt, im Interesse seiner Mitgefangenen und der Gesellschaft insgesamt, vorzubeugen. Der Gerichtshof lässt ferner gelten, dass die Bereitstellung einer solchen Behandlung dazu dienen kann, dem Schmuggel sowie dem unkontrollierten Konsum illegaler Drogen in der Haftanstalt entgegenzuwirken.
75. Überdies betont der Gerichtshof, dass ein Staat, um seiner positiven Verpflichtung, die Gesundheit eines Gefangenen in der Haft angemessen sicherzustellen, gerecht zu werden, nicht nur den Gesundheitszustand des Gefangenen angemessen beurteilen muss, was im Falle einer schweren Erkrankungen die Hinzuziehung eines spezialisierten Mediziners erforderlich macht (Rdnr. 56). Die erforderliche, dem Gesundheitszustand des Gefangenen angemessene Behandlung muss auch unter Mitwirkung des spezialisierten Mediziners festgelegt und dem Häftling gewährt werden. In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof an, dass die Wichtigkeit der Beiziehung externer medizinischer Sachverständiger, um Suchtkranken spezialisierte Unterstützung zukommen zu lassen, gleichermaßen in der Empfehlung R (98) 7 des Ministerkomitees über die ethischen und organisatorischen Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in Vollzugsanstalten (siehe Rdnr. 34) hervorgehoben wird.
76. In der vorliegenden Rechtssache kommt der Gerichtshof nicht umhin festzustellen, dass den innerstaatlichen Behörden eine Reihe gewichtiger Indikatoren dafür vorlagen, dass die Substitutionsbehandlung die für den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers angemessene medizinische Behandlung sein könnte. Überdies lagen ihnen wie oben dargestellt (siehe Rdnr. 67) im Anschluss an die wegen Erfolglosigkeit eingestellte abstinenzorientierte Therapie mehrere ärztliche Stellungnahmen auch von Suchtmedizinern vor, die in der Frage, welche medizinische Behandlung bei dem Beschwerdeführer geboten sei, von der Auffassung der internen Fachärzte, die den Beschwerdeführer in der Haft und vor dem Scheitern der abstinenzorientierten Therapie in der Entziehungsanstalt behandelt hatten, abwichen. Der Gerichtshof kommt in diesem Zusammenhang ferner nicht umhin festzustellen, dass es unbestritten ist, dass in der JVA K. in der Praxis noch nie eine Substitutionsbehandlung bei Gefangenen durchgeführt wurde.
77. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die innerstaatlichen Behörden und insbesondere die Gerichte, um sicherzustellen, dass der Beschwerdeführer in der Haftanstalt die notwendige medizinische Behandlung erhielt, zügig und unter Mitwirkung eines unabhängigen Suchtmediziners hätten überprüfen müssen, ob der Zustand des Beschwerdeführers auch ohne Substitution angemessen therapiert wurde. Es liegen allerdings keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die innerstaatlichen Behörden die Notwendigkeit einer Substitutionsbehandlung unter Beiziehung medizinischen Sachverstands nach Maßgabe des einschlägigen innerstaatlichen Rechts und der einschlägigen medizinischen Richtlinien prüften. Ungeachtet der im Vorfeld siebzehn Jahre lang erfolgten medizinischen Behandlung des Beschwerdeführers durch Substitution wurden die von den externen Medizinern H. und B. geäußerten Auffassungen, denen zufolge es geboten war zu prüfen, ob der Beschwerdeführer erneut zu substituieren sei, nicht weiterverfolgt.
78. Hinsichtlich der Auswirkungen der verweigerten Substitutionsbehandlung auf den Beschwerdeführer in der Haftanstalt ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen der Auffassung, dass der Drogenentzug an sich bei einem manifest Langzeitopiatabhängigen eine starke körperliche Belastung und extremen psychischen Stress verursacht, wodurch die Schwelle für die Anwendbarkeit von Artikel 3 erreicht sein kann. Er merkt an, dass zwar festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer nicht mehr an den zu Beginn erzwungener Abstinenz auftretenden körperlichen Entzugserscheinungen litt, dass aber die dem Gerichtshof – wenngleich nicht in großem Umfang – vorliegenden Unterlagen, insbesondere die Einschätzung des externen Arztes H., nahelegen, dass man die chronischen Schmerzen, an denen der Beschwerdeführer den maßgeblichen Zeitraum hindurch litt, mit Substitutionstherapie wirkungsvoller hätte lindern können, als mit den Schmerzmitteln, die ihm verabreicht wurden. Auch war unbestritten, dass die Schmerzen des Beschwerdeführers im Fuß-, Nacken- und Wirbelsäulenbereich so stark waren, dass er, zumindest zeitweise während seiner in Rede stehenden etwa dreieinhalb Jahre währenden Haftzeit, überwiegend im Bett lag. Der Gerichtshof lässt ferner gelten, dass sein Leid durch den Umstand verschlimmert wurde, dass ihm eine Therapie bekannt war, die seine Schmerzen früher wirksam gelindert hatte, die ihm aber verweigert wurde.
79. Der Gerichtshof sieht es als erwiesen an, dass die Verweigerung einer kontinuierlichen Substitutionsbehandlung trotz manifester Opiatabhängigkeit dem Beschwerdeführer über eine lange Zeit hinweg erhebliches und fortgesetztes psychisches Leid verursachte. Der Beschwerdeführer hat ebenfalls plausibel dargelegt, dass die Verschlimmerung seines ohnehin bereits schlechten Gesundheitszustands und insbesondere seine chronischen Schmerzen in Verbindung mit dem Suchtdruck nach Heroin seine Fähigkeit zur Teilhabe am Sozialleben einschränkten. Angesichts dieser Aspekte ist der Gerichtshof überzeugt, dass die von dem Gesundheitszustand des Beschwerdeführers an sich herrührende körperliche und psychische Belastung grundsätzlich über das zwangsläufig mit der Haft verbundene Maß an Leiden hinausgehen und die Schwelle für die Anwendbarkeit von Artikel 3 erreichen konnte. Die innerstaatlichen Behörden hatten folglich ordnungsgemäß zu überprüfen, wie seine Krankheit angemessen behandelt werden könne, um sicherzustellen, dass er angemessene medizinische Versorgung erhielt, haben aber wie dargelegt nicht nachgewiesen, dass eine Therapie des Beschwerdeführers allein mit Schmerzmitteln den Umständen nach ausreichend war.
80. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der beschwerdegegnerische Staat nicht glaubhaft und überzeugend darlegen konnte, dass dem Beschwerdeführer in der Haft umfassende und angemessene medizinische Versorgung auf einem Niveau zuteilwurde, das dem entspricht, an das sich die staatlichen Stellen bei der Versorgung von in Freiheit befindlichen Personen, denen Substitutionsbehandlung zur Verfügung steht, gebunden sehen. Bei dieser Schlussfolgerung berücksichtigte das Gericht die besonderen Umstände der Rechtssache des Beschwerdeführers als Langzeitdrogenabhängigem ohne realistische Aussicht auf eine Überwindung der Sucht, der seit vielen Jahren substituiert wurde. In diesem Zusammenhang versäumten es die Behörden, besonders gründlich und unter Hinzuziehung des Sachverstandes eines unabhängigen Fachmediziners im Zusammenhang mit der Richtungsänderung in der medizinischen Behandlung zu prüfen, welche Therapie als geeignet gelten konnte. Der beschwerdegegnerische Staat ist daher seiner positiven Verpflichtung aus Artikel 3 nicht nachgekommen.
81. Folglich ist Artikel 3 der Konvention verletzt worden.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
82. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
83. Der Beschwerdeführer forderte 11.911,20 Euro in Bezug auf den materiellen Schaden. Er trug vor, dass er infolge der Verweigerung der Substitutionsbehandlung nicht in der Lage war, in der Haft einer Arbeit nachzugehen, wobei er im Laufe seiner drei Jahre und sechs Monate währenden Haft an zwanzig Arbeitstagen im Monat 14,18 Euro pro Tag verdient hätte. Er verlangte überdies 10.000 Euro für immateriellen Schaden. Er machte insbesondere geltend, dass er infolge der Verweigerung der Substitutionsbehandlung während seiner gesamten Haftzeit unter starken Nervenschmerzen, Suchtdruck nach Drogen und aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit unter sozialer Isolation gelitten habe.
84. Die Regierung bestritt, dass dem Beschwerdeführer durch die behauptete Verletzung von Artikel 3 ein materieller Schaden entstanden sei. Sie trug vor, dass der Beschwerdeführer, der in den 1980er Jahren das letzte Mal einer Arbeit nachgegangen sei, im Gefängnis nicht gearbeitet hätte. Die Forderungen des Beschwerdeführers hinsichtlich des geltend gemachten immateriellen Schadens wurden von der Regierung als überzogen erachtet. Sie betonte, dass der Beschwerdeführer nur eine Entschädigung für den durch die Verweigerung einer Substitutionsbehandlung verursachten Schaden ab Juni 2011 geltend machen könne.
85. Was die Forderung des Beschwerdeführers in Bezug auf den materiellen Schaden anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass aus den ihm vorliegenden Unterlagen hervorgeht, dass der Beschwerdeführer seit 2001 eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht (siehe Rdnr. 6). Er hält es daher nicht für bewiesen, dass der Beschwerdeführer aufgrund der verweigerten Substitutionsbehandlung in der Haft nicht arbeiten und keinen Lohn beziehen konnte. Daher weist er die Forderung des Beschwerdeführers aufgrund des Fehlens eines Kausalzusammenhangs zwischen der festgestellten Verletzung und dem behaupteten materiellen Schaden insoweit zurück.
86. Was die Forderung des Beschwerdeführers in Bezug auf den immateriellen Schaden anbelangt, verweist der Gerichtshof auf seine bereits getroffene Feststellung, dass die innerstaatlichen Behörden Artikel 3 verletzt haben, indem sie nicht hinreichend prüften, ob dem Beschwerdeführer, für dessen Erkrankungen an sich der beschwerdegegnerische Staat nicht verantwortlich war, angemessene medizinische Versorgung zuteilwurde. Der Gerichtshof hat nicht vor, Spekulationen darüber anzustellen, welches Ergebnis eine ordnungsgemäße Prüfung der Frage, welche Behandlung für den Beschwerdeführer angemessen war, gehabt hätte und wie sich die möglicherweise geeignete Substitutionstherapie im Vergleich zu der Behandlung mit Schmerzmitteln, die er erhielt, ausgewirkt hätte. Der Gerichtshof ist deshalb der Auffassung, dass unter den besonderen Umständen der Rechtssache die Feststellung einer Verletzung von Artikel 3 bereits eine hinreichende gerechte Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden darstellt.
B. Kosten und Auslagen
87. Unter Vorlage von Belegen forderte der Beschwerdeführer auch 1.801,05 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) für die Rechtsanwaltsgebühren und Auslagen, die in dem innerstaatlichen Verfahren angefallen waren, und 833 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer), die in dem Verfahren vor dem Gerichtshof angefallen waren. Er legte dar, dass ihm die Rechtsanwaltsgebühren von Dritten vorgestreckt worden seien und dass er sie nach seiner Haftentlassung baldmöglichst zurückzahlen müsse.
88. Die Regierung hat sich zu diesem Punkt nicht geäußert.
89. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall spricht der Gerichtshof in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien dem Beschwerdeführer 1.801,05 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) für die geltend gemachten Kosten und Auslagen für das innerstaatliche Verfahren zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zu. Was die Kosten und Auslagen für das Verfahren vor dem Gerichtshof betrifft, spricht der Gerichtshof in Anbetracht des geforderten Betrags und des Umstands, dass der Beschwerdeführer für dieses Verfahren Prozesskostenhilfe erhielt, unter dieser Rubrik keinen Betrag zu.
C. Verzugszinsen
90. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 3 der Konvention ist verletzt worden;
3.
a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, 1.801,05 Euro (eintausendachthundertundein Euro und fünf Cent) zuzüglich der gegebenenfalls zu berechnenden Steuern für Kosten und Auslagen zu zahlen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für den oben genannten Betrag bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 1. September 2016 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Ganna Yudkivska
Stellvertretender Sektionskanzler Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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