MINTKEN UND AYDIN ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerden Nrn. 37963/15 und 40208/15

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 37963/15 und 40208/15
M. gegen Deutschland
und A. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 27. September 2016 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin
Angelika Nußberger,
Erik Møse,
Faris Vehabović,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, die am 30. Juli 2015 bzw. 20. August 2015 eingereicht wurden,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer in der ersten Rechtssache, M., ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in M. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn N., Rechtsanwalt in D., vertreten. Der 19.. geborene Beschwerdeführer in der zweiten Rechtssache, A., ist türkischer Staatsangehöriger und lebt in B. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn C., Rechtsanwalt in D., vertreten.

A. Die Umstände des Falles

2. Der Sachverhalt, so wie er von den Beschwerdeführern vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Die Beschwerdeführer und ein weiterer Mitbeschuldigter waren in der Call-Center-Branche tätig. Am 13. April 2010 wurden sie verhaftet und verblieben bis zu deren Aussetzung am 27. Oktober 2011 in Untersuchungshaft. Am 6. August 2010 wurden die Beschwerdeführer und der weitere Beschuldigte wegen betrügerischer Handelstätigkeiten als Mitglieder einer Bande in 47.713 Fällen angeklagt. Das Landgericht Essen ließ die Anklage in abgewandelter Form zu und verhandelte die Sache der Beschwerdeführer ab dem 4. Oktober 2010 an 116 Tagen, wobei es mehr als 40 Zeugen und Sachverständige anhörte. Im Laufe der Hauptverhandlung stellte der erste Beschwerdeführer 82 und der zweite Beschwerdeführer 24 Beweisanträge.

4. Im Juli 2011 beantragten der erste Beschwerdeführer und sein Verteidiger die Bestellung eines anderen Verteidigers. Dies wurde von den innerstaatlichen Gerichten jedoch abgelehnt und die Bestellung des Verteidigers des ersten Beschwerdeführers aufrechterhalten.

5. Am 18. Juli 2013 wurden die Beschwerdeführer verurteilt. Der erste Beschwerdeführer erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten und der zweite Beschwerdeführer eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Alle drei Angeklagten legten Revision ein.

6. Das Verhandlungsprotokoll umfasste 3.521 Seiten.

7. Am 12. Februar 2014 wurde das Urteil, das sich auf 1.243 Seiten erstreckte, wobei 1.019 Seiten detaillierte Informationen zu den Opfern des mutmaßlichen Betrugs enthielten, der Verteidigung zugestellt. Das Landgericht legte dar, dass eine Beschleunigung des Verfahrens unmöglich gewesen sei, da die drei Angeklagten und ihre Verteidiger eine Vielzahl von Anträgen gestellt hätten, und zwar unter anderem 368 Anträge auf weitere Beweiserhebung, mit denen unter anderem um Anhörung mehrerer tausend Zeugen ersucht worden sei. Häufigere Verhandlungstermine seien nicht möglich gewesen, da das Gericht während der Hauptverhandlung beinahe täglich mit neuen Anträgen der Verteidigung auf Verfahrenseinstellung, Terminverschiebung, Berichtigung der Niederschrift oder Erwägung neuer Unterlagen und anderen Einwänden gegen die Verfahrensführung durch das Gericht konfrontiert worden sei. Aus diesem Grund erkannte das Landgericht keine dem Gericht zuzurechnende unangemessene Verzögerung und sah sich nicht veranlasst, die Strafmaße aus diesem Grund herabzusetzen. Bei den Strafzumessungen berücksichtigte es jedoch zugunsten der Beschwerdeführer, dass das Verfahren lang gewesen sei.

8. Am 12. März 2014 legten die Verteidiger der drei Angeklagten dem Bundesgerichtshof ihre 411 Seiten umfassende gemeinsame Revisionsbegründung vor und hielten damit die in § 345 Abs. 1 StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis“, Rdnr. 12) vorgesehene Monatsfrist ein. Ihr Vorbringen enthielt unter anderem eine Rüge, dass die Frist für die Begründung ihrer Revisionen unzureichend gewesen sei.

9. Am 14. Juli 2014 nahm der Generalbundesanwalt zur Revision des ersten Beschwerdeführers Stellung, woraufhin der erste Beschwerdeführer am 6. August 2014 antwortete. Im Hinblick auf den zweiten Beschwerdeführer wurden die entsprechenden Daten nicht genannt.

10. Am 6. November 2014 wies der Bundesgerichtshof die Revisionen der Beschwerdeführer im Hinblick auf Verurteilung und Strafmaß wegen offensichtlicher Unbegründetheit ohne Angabe von Gründen ab.

11. Am 5. Februar 2015 und 18. Februar 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 3069/14 und 2 BvR 10/15).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

12. Die einschlägigen Bestimmungen der Strafprozessordnung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und über Revisionen lauten, in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung, wie folgt:

§ 44

„War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.“

§ 344

„(1) Der Beschwerdeführer hat die Erklärung abzugeben, inwieweit er das Urteil anfechte und dessen Aufhebung beantrage (Revisionsanträge), und die Anträge zu begründen.

(2) Aus der Begründung muss hervorgehen, ob das Urteil wegen Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren oder wegen Verletzung einer anderen Rechtsnorm angefochten wird. Ersterenfalls müssen die den Mangel enthaltenen Tatsachen angegeben werden.“

§ 345 Abs. 1

„Die Revisionsanträge und ihre Begründung sind spätestens binnen eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, anzubringen. War zu diesem Zeitpunkt das Urteil noch nicht zugestellt, so beginnt die Frist mit der Zustellung des Urteils.“

§ 347 Abs. 1

„Ist die Revision rechtzeitig eingelegt und sind die Revisionsanträge rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form angebracht, so ist die Revisionsschrift dem Gegner des Beschwerdeführers zuzustellen. Diesem steht frei, binnen einer Woche eine schriftliche Gegenerklärung einzureichen. […]“

Nach der gefestigten Rechtsprechung der Strafgerichte kann die Frist aus § 345 Abs. 1 StPO nicht verlängert werden, es sei denn, es wurde vor Ablauf der Frist ein zulässiger Antrag auf Berichtigung des Urteils gestellt (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. November 1990, 3 StR 310/90).

13. § 198 GVG sieht einen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren vor und lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. […]

(3) Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge). […]

(5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. Die Klage muss spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden. […]“

§ 199 Abs. 3 Satz 2 GVG schränkt den Ermessensspielraum des Entschädigungsgerichts hinsichtlich unangemessen langer Strafverfahren jedoch ein und lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(3) […] Begehrt der Beschuldigte eines Strafverfahrens Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer, ist das Entschädigungsgericht hinsichtlich der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer an eine Entscheidung des Strafgerichts gebunden.“

14. Am 19. Februar 1998 entschied eine aus drei Richtern bestehende Kammer des Bundesverfassungsgerichts im Fall eines Angeklagten, der vergeblich eine Verlängerung der Frist nach § 345 Abs. 1 StPO beantragt hatte, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1888/97). Es befand, dass die in § 345 Abs. 1 StPO vorgesehene gesetzliche Monatsfrist regelmäßig zur Anfertigung der Revisionsbegründung ausreiche, und das sogar in komplizierten Wirtschaftsstrafsachen oder Verfahren wegen NS-Verbrechen. Der Beschwerdeführer in jenem Fall habe nicht substantiiert, warum die Frist gerade in seinem Fall unzureichend gewesen sei. Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, dass sich der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob in einem Fall, in dem die Revision aus Gründen, die der Angeklagte nicht zu vertreten habe, nicht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist habe begründet werden können, die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Abhilfe ermöglichen könnten (siehe § 44 StPO, Rdnr. 12).

RÜGEN

15. Die Beschwerdeführer rügten nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b der Konvention, dass ihnen ab dem Tag der Zustellung des landgerichtlichen Urteils an die Verteidigung nur 28 Tage zur Revisionsbegründung zugestanden hätten, während das Landgericht für die Abfassung des Urteils 29 Wochen gehabt habe und der Generalbundesanwalt seine Stellungnahmen zu den Revisionen vier Monate nach Abgabe der Begründungen durch die Verteidiger vorgelegt habe. Unter Bezugnahme auf Artikel 6 Abs. 1 – der zweite Beschwerdeführer berief sich außerdem auf Artikel 5 Abs. 3 – der Konvention vertraten die Beschwerdeführer ferner die Auffassung, dass das Verfahren unangemessen lang gewesen sei.

16. Der zweite Beschwerdeführer rügte unter Bezugnahme auf Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention zudem, dass seine Strafe nicht herabgesetzt worden sei, obwohl das Verfahren so lange gedauert habe, weil die anderen beiden Angeklagten eine große Zahl an verfahrensrechtlichen Anträgen gestellt hätten.

17. Der erste Beschwerdeführer behauptete zudem unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 3 Buchst. a der Konvention, dass er die Anklage bis Februar 2013 nicht habe verstehen können, und unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c, dass er für eine gewisse Zeit nicht angemessen verteidigt worden sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Gleichzeitige Prüfung der Beschwerden

18. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerden wegen ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verbunden werden sollten.

B. Rügen über unzureichende Zeit für die Anfertigung der Revisionsbegründung

19. Die Beschwerdeführer rügten, dass der Verteidigung nicht genügend Zeit für die Anfertigung der Revisionsbegründungen zugestanden habe. Sie rechneten vor, dass das Lesen des Verhandlungsprotokolls und des landgerichtlichen Urteils bei einer durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von zwei Minuten pro Seite 6,7 Stunden pro Tag an sechs Tagen die Woche (24 Tage) gedauert hätte und damit nicht genug Zeit für das tatsächliche Erarbeiten und Verfassen der Revisionsbegründung geblieben wäre. Daher sei es nach Ansicht der Beschwerdeführer unmöglich, innerhalb der nach deutschem Recht vorgesehenen Frist eine angemessene Revision anzufertigen. Die Beschwerdeführer beriefen sich auf Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b der Konvention.

20. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Erfordernisse nach Artikel 6 Abs. 3 als Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 anzusehen sind. Der Gerichtshof prüft die maßgeblichen Rügen daher nach diesen beiden Bestimmungen im Zusammenhang (siehe Al-Khawaja und Tahery ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, Rdnr. 118, ECHR 2011); sie lauten, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage […] in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird. […]

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: […]

b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;

[…]“

21. Der Gerichtshof weist eingangs erneut darauf hin, dass Artikel 6 der Konvention die Vertragsstaaten nicht dazu verpflichtet, Rechtsmittel- oder Kassationsgerichte vorzusehen. Bestehen solche Gerichte jedoch, müssen die Garantien des Artikels 6 erfüllt sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine Zulässigkeitsvoraussetzungen für Rechtsmittel erlaubt wären, da die Zulässigkeit von Rechtsmitteln naturgemäß eine Regelung durch den Staat erfordert, der in dieser Hinsicht einen gewissen Ermessensspielraum hat. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Revision strenger sein können als die für eine Berufung. Allerdings dürfen diese Einschränkungen den Zugang einer Person nicht dergestalt oder soweit einschränken oder verringern, dass das Recht in seinem Kerngehalt beeinträchtigt wird, und sie sind nicht mit Artikel 6 Abs. 1 vereinbar, wenn mit ihnen kein legitimes Ziel verfolgt wird oder wenn die eingesetzten Mittel zum angestrebten Ziel nicht in einem angemessenen Verhältnis stehen (siehe Muscat ./. Malta, Individualbeschwerde Nr. 24197/10, Rdnrn. 42, 44, 17. Juli 2012, mit weiteren Verweisen).

22. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Bestimmungen über die Fristen für die Einlegung eines Rechtsmittels zum Ziel haben, eine geordnete Rechtspflege und insbesondere die Einhaltung des Grundsatzes der Rechtssicherheit sicherzustellen (siehe Miragall Escolano u. a. ./. Spanien, Individualbeschwerden Nrn. 38366/97, 38688/97, 40777/98, 40843/98, 41015/98, 41400/98, 41446/98, 41484/98, 41487/98 und 41509/98, Rdnr. 36, ECHR 2000‑I), und dass die betroffenen Personen davon ausgehen müssen, dass diese Bestimmungen Anwendung finden (Mikulová ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 64001/00, Rdnr. 52, 6. Dezember 2005).

23. Nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b muss eine angeklagte Person Gelegenheit haben, ihre Verteidigung in geeigneter Weise zu organisieren, ohne dass die Möglichkeit, alle relevanten Argumente der Verteidigung vor Gericht vorzutragen und damit Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens zu nehmen, eingeschränkt wird. Bei der Prüfung der Frage, ob eine angeklagte Person ausreichend Zeit für die Vorbereitung ihrer Verteidigung hatte, muss insbesondere der Art des Verfahrens, der Komplexität des Falles und dem Verfahrensstadium Rechnung getragen werden (siehe Gregačević ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 58331/09, Rdnr. 51, 10. Juli 2012).

24. In der Rechtssache H. H. ./. Österreich (Individualbeschwerde Nr. 5523/72, Entscheidung vom 5. Oktober 1974) war die Kommission der Auffassung, „dass die 14-tägige Frist [für das Einreichen der Begründung nach österreichischem Recht] ziemlich kurz ist, insbesondere da sie nicht verlängert werden kann und nach Ablauf der Frist eingereichte Vorbringen nicht zulässig sind.“ Sie merkte jedoch an, dass der Rechtsanwalt, der auch der Verteidiger im ersten Rechtszug gewesen sei, in der Lage gewesen sei, „80 Seiten gut begründeten und detaillierten Materials“ vorzulegen, obwohl die Sache komplex gewesen sei, und erklärte die Rüge für offensichtlich unbegründet.

25. Der Gerichtshof stellt fest, dass er ebenso befunden hat, dass selbst eine einwöchige Frist für das Einlegen eines Rechtsmittels (zunächst ohne Begründung) ausreichend sein könne, solange die Möglichkeit bestehe, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Ein solcher Antrag auf Wiedereinsetzung gebe dem Beschwerdeführer eine zusätzliche Möglichkeit, eine Entscheidung des Oberlandesgerichts herbeizuführen, sofern er bewiesen habe, dass er ohne eigenes Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert gewesen sei (siehe H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 12788/04, 9. Mai 2007).

26. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache merkt der Gerichtshof an, dass die innerstaatlichen Gerichte sich zu dieser vom Beschwerdeführer vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht geltend gemachten Rüge nicht geäußert haben, da beide Gerichte von einer Begründung absahen. In seinem Beschluss vom 19. Februar 1998 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch befunden, dass die in § 345 Abs. 1 StPO vorgesehene gesetzliche Monatsfrist sogar in schwierigen Fällen regelmäßig zur Anfertigung der Revisionsbegründung ausreiche (siehe Rdnr. 14).

27. Der Gerichtshof unterstreicht eingangs, dass die in § 345 Abs. 1 StPO vorgesehene Monatsfrist für alle Parteien des Strafverfahrens gilt, was bedeutet, dass nicht nur Angeklagte, sondern auch Staatsanwaltschaft und Dritte bei der Revisionseinlegung an diese Frist gebunden sind (siehe Rdnr. 12). Ebenso gilt auch die Wochenfrist nach § 347 Abs. 1 StPO für eine schriftliche Gegenerklärung zur Revisionsschrift des Antragstellers in gleicher Weise für den Angeklagten und die Staatsanwaltschaft (siehe Rdnr. 12). Daher liegt es nicht an unterschiedlichen Fristen für die Staatsanwaltschaft und den Angeklagten, dass der Generalbundesanwalt seine Stellungnahme zu einem späteren Zeitpunkt eingereicht hat, sondern daran, dass es sich dabei um eine Gegenerklärung zur Revisionsschrift der Beschwerdeführer handelte, die in ein späteres Verfahrensstadium fiel. Der Gerichtshof merkt auch an, dass der erste Beschwerdeführer am 6. August 2014 auf die Stellungnahme des Generalbundesanwalts erwiderte, also beinahe sechs Monate, nachdem der Verteidigung das Urteil des Landgerichts zugestellt worden war. Insgesamt wirft die Stellungnahme des Generalbundesanwalts vom 14. Juli 2014 keine Frage nach dem Grundsatz der Waffengleichheit auf.

28. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Verteidiger der Beschwerdeführer, die diese auch während der vorangegangenen Hauptverhandlung verteidigt hatten, die Gründe für die Revision auf 411 Seiten darlegten, wobei sie insgesamt 13 Verfahrensfehler geltend machten und die inhaltliche Richtigkeit des landgerichtlichen Urteils anfochten. Das Vorbringen der Beschwerdeführer vor dem Gerichtshof enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass die innerhalb der in der Strafprozessordnung vorgesehenen Frist eingereichte Begründung unvollständig oder qualitativ mangelhaft gewesen wäre; es enthält auch keine Erklärung dafür, welche weiteren Punkte in die Revisionsbegründung hätten aufgenommen werden können, wenn der Verteidigung mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Die Beschwerdeführer haben weder mitgeteilt, ob sie nach § 44 StPO (siehe Rdnr. 12) die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt haben, noch das Ergebnis eines solchen Antrags angezeigt.

29. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es in Rechtssachen, die sich aus Individualbeschwerden ergeben, nicht seine Aufgabe ist, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften abstrakt zu prüfen; er muss vielmehr prüfen, in welcher Weise diese Rechtsvorschriften unter den jeweiligen Umständen auf den Beschwerdeführer angewendet wurden (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 86, ECHR 2003-VIII (Auszüge); und, sinngemäß, Padovani ./. Italien, 26. Februar 1993, Rdnr. 24, Serie A Band 257‑B).

30. Der Gerichtshof weist auch erneut darauf hin, dass die Zulässigkeitsbestimmungen für Rechtsmittel vor den höchsten Gerichten wie bereits erwähnt (siehe die in Rdnr. 22 zitierte Rechtsprechung) zweifellos darauf ausgerichtet sind, eine geordnete Rechtspflege und insbesondere die Einhaltung des Grundsatzes der Rechtssicherheit sicherzustellen (siehe Mikulová a. a. O., Rdnr. 52). Selbst wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine strenge Revisionsfrist unter außergewöhnlichen Umständen eine Frage nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b aufwerfen könnte, sieht das deutsche Recht in Form eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand offenbar einen Mechanismus dafür vor, ihre Auswirkungen unter bestimmten Umständen abzuschwächen.

31. Die Beschwerdeführer haben nicht aufgezeigt, dass es in ihren konkreten Fällen unmöglich gewesen sei, die Revisionsbegründung innerhalb der vorgesehen Frist einzureichen. Was die Hinlänglichkeit der Frist unter den konkreten Umständen angeht, ist hervorzuheben, dass die Verteidiger der Beschwerdeführer diese während der Hauptverhandlung verteidigt hatten und daher mit dem Fall, dem Protokoll und den einschlägigen Anträgen vertraut waren. Außerdem haben die Verteidiger bei der Revision zusammengearbeitet, um ein gemeinsames Vorbringen auszuarbeiten. Obgleich der Fall eindeutig komplex war und das Urteil des Landgerichts 1.243 Seiten umfasste, enthielten mehr als 1.000 dieser Seiten Angaben zu den Betrugsopfern, während die Begründung des Gerichts auf nur etwas über 200 Seiten konzentriert war. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Verteidiger die behaupteten Verfahrensfehler nach § 344 Abs. 2 StPO (siehe Rdnr. 12) zwar substantiieren mussten, dass Verletzungen anderer Rechtsnormen jedoch nicht weiter spezifiziert werden müssen und die entsprechende rechtliche Argumentation auch in einem späteren Verfahrensstadium erfolgen kann. Nach einer sorgfältigen Prüfung der Umstände der vorliegenden Rechtssache wurden keine Anzeichen für eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. b der Konvention ersichtlich.

32. Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerde daher nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig zu erklären ist.

C. Rügen der Verfahrensdauer

33. Die Beschwerdeführer rügten, dass das gegen sie eingeleitete Strafverfahren nicht, wie nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention erforderlich, innerhalb angemessener Frist abgeschlossen worden sei. Sie machten insbesondere geltend, dass die Hauptverhandlung vor dem Landgericht zügiger hätte geführt werden müssen und dass sie anders hätte organisiert werden können, da an 75 Tagen nur weniger als vier Stunden verhandelt worden sei. Darüber hinaus rügte der zweite Beschwerdeführer, dass die vielen Anträge der anderen Angeklagten ihm zugerechnet worden seien und er daher für etwas bestraft worden sei, was er nicht getan habe, da das Landgericht es abgelehnt habe, das Strafmaß wegen der überlangen Verfahrensdauer herabzusetzen. Der zweite Beschwerdeführer berief sich in diesem Zusammenhang auch auf Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c in Verbindung mit Artikel 14 und Artikel 5 Abs. 3 Satz 2 der Konvention. Der Gerichtshof hält es für angemessen, diese Rüge allein nach Artikel 6 Abs. 1 zu prüfen, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage […] innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

34. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Beschwerdeführer von dem in § 198 GVG (siehe Rdnr. 13) vorgesehenen Rechtsbehelf, bei dem es sich grundsätzlich um einen wirksamen Rechtsbehelf zum Erlangen einer Entschädigung für unangemessen lange Verfahren handelt (siehe G. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 19488/09, Rdnrn. 46 f., 29. Mai 2012), keinen Gebrauch gemacht haben. Nach § 199 Abs. 3 Satz 2 GVG (siehe Rdnr. 13) sind die Feststellungen des Strafgerichts für das Entschädigungsgericht jedoch bindend. Da das Landgericht im vorliegenden Fall bereits entschieden hatte, dass es seiner Ansicht nach nicht zu unangemessenen Verzögerungen gekommen ist, wäre der neue Rechtsbehelf in der vorliegenden Rechtssache möglicherweise nicht wirksam gewesen. Allerdings ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es angesichts der nachfolgenden Feststellungen nicht erforderlich ist, über diese Frage zu entscheiden.

35. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände der Rechtssache sowie in Anbetracht der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien, insbesondere der Komplexität des Falles sowie des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden zu würdigen ist (Zana ./. Türkei, 25. November 1997, Rdnr. 75, Reports of Judgments and Decisions 1997‑VII; Merit ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 66561/01, Rdnr. 72, 30. März 2004).

36. Der Gerichtshof erkennt an, dass es im Interesse des Beschwerdeführers gelegen haben könnte, Beweisanträge zu stellen, um die Mittel des innerstaatlichen Rechts voll auszuschöpfen und damit seine bestmögliche Verteidigung in dem Strafverfahren sicherzustellen (siehe Idalov ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 5826/03, Rdnr. 189, 22. Mai 2012). Weder verpflichtet Artikel 6 einen Beschwerdeführer dazu, aktiv mit den Justizbehörden zusammenzuarbeiten, noch kann ihm ein Vorwurf gemacht werden, wenn er die ihm nach innerstaatlichem Recht zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe vollständig ausgeschöpft hat. Nichtsdestotrotz stellt das oben genannte Verhalten eines Beschwerdeführers eine objektive Tatsache dar, die nicht dem beschwerdegegnerischen Staat zugerechnet werden kann, was bei der Entscheidung darüber, ob die Verfahrensdauer über die in Artikel 6 Abs. 1 genannte angemessene Frist hinausging, zu berücksichtigen ist (siehe E. ./. Deutschland, 15. Juli 1982, Rdnr. 82, Serie A Band 51).

37. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass im August 2010 die Vorermittlungen abgeschlossen waren und Anklage erhoben worden war, das heißt vier Monate nach der Festnahme des Beschwerdeführers am 13. April 2010, als die Beschwerdeführer erstmals über die Ermittlungen informiert wurden.

38. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht vom 4. Oktober 2010 bis zum 18. Juli 2013 an insgesamt 116 Tagen verhandelt hat. Es hat zahlreiche Zeugen und Sachverständige angehört und wurde mit insgesamt 368 Beweisanträgen der drei Angeklagten konfrontiert, wobei der erste Beschwerdeführer 82 und der zweite Beschwerdeführer 24 Anträge gestellt hatte. Das zweitinstanzliche Verfahren vor dem Bundesgerichtshof endete am 6. November 2014 und die dritte Instanz des in Rede stehenden Verfahrens war am 5. Februar 2015 abgeschlossen, als es das Bundesverfassungsgericht ablehnte, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen. Insgesamt dauerte das Verfahren somit vier Jahre und neun Monate, wobei drei Instanzen durchlaufen wurden.

39. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es keine Anzeichen für eine Verzögerung bei der Vorbereitung des Falles für die Hauptverhandlung gibt.

40. Die Hauptverhandlung selbst dauerte zwei Jahre und zehn Monate. Der Gegenstand der Hauptverhandlung und die Zahl der Opfer sprechen neben weiteren Faktoren dafür, dass der Fall komplex war. Die 368 von den Angeklagten gestellten Beweisanträge trugen zu dieser Komplexität bei. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass es unmöglich gewesen sei, häufigere Verhandlungstermine oder längere Verhandlungstage anzusetzen, da es mit den zahlreichen Anträgen der Angeklagten beschäftigt gewesen sei. Die Beschwerdeführer haben nicht nachgewiesen, dass diese Anträge der nachlässigen oder fehlerhaften Verfahrensführung durch das Landgericht geschuldet seien. Für den Zweck dieser Prüfung ist es daher irrelevant, ob die Anträge von den Beschwerdeführern oder einem anderen Angeklagten gestellt wurden. Angesichts der Vielzahl verfahrensrechtlicher und sonstiger Anträge deutet nichts darauf hin, dass das Landgericht die Verhandlung erheblich zügiger hätte durchführen können.

41. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Bundesgerichtshof binnen acht Monaten über die Revision des Beschwerdeführers entschieden hat und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts innerhalb von weniger als drei Monaten ergangen ist. Auch im Hinblick auf diese Verfahren kann der Gerichtshof keine unangemessene Verzögerung feststellen.

42. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es keine Anzeichen für eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 gibt. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen ist.

D. Die übrigen Rügen des ersten Beschwerdeführers

43. Der Gerichtshof hat die vom ersten Beschwerdeführer nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. a und c der Konvention (siehe Rdnr. 17) erhobenen Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Unterlagen kann der Gerichtshof in der Verfahrensakte jedoch keine Anzeichen für eine Verletzung dieser Bestimmungen finden. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Die Individualbeschwerden werden verbunden;

die Individualbeschwerden werden für unzulässig erklärt.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. Oktober 2016.

Milan Blaško                                                    Ganna Yudkivska
Stellvertretender Sektionskanzler                        Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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