EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
GROSSE KAMMER
RECHTSSACHE K. GEGEN DEUTSCHLAND
(Beschwerde Nr. 38030/12)
URTEIL
(Streichung)
STRASSBURG
21. September 2016
Dieses Urteil ist endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache K. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der als Große Kammer zusammengetreten ist, die sich aus folgenden Richterinnen und Richtern zusammensetzt:
Guido Raimondi, Präsident,
András Sajó,
Luis López Guerra,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
Paul Lemmens,
Valeriu Griţco,
Ksenija Turković,
Dmitry Dedov,
Robert Spano,
Iulia Motoc,
Branko Lubarda,
Síofra O’Leary,
Stéphanie Mourou-Vikström,
Georges Ravarani,
Pere Pastor Vilanova,
Pauliine Koskelo,
sowie Johan Callewaert, Stellvertretender Kanzler der Großen Kammer,
nach Beratung in nichtöffentlicher Sitzung am 16. März und am 7. Juli 2016,
das folgende Urteil erlassen, das am letztgenannten Tag angenommen worden ist:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache liegt eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Individualbeschwerde (Nr. 38030/12) zugrunde, die eine pakistanische Staatsangehörige, K. („die Beschwerdeführerin“), am 19. Juni 2012 nach Artikel 34 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof erhoben hat.
2. Die Beschwerdeführerin wurde vor dem Gerichtshof von Frau G., Rechtsanwältin in G., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. In ihrer Beschwerde behauptete die Beschwerdeführerin, ihre Ausweisung nach Pakistan stelle eine Verletzung des Artikels 8 der Konvention dar.
4. Die Beschwerde wurde der Fünften Sektion des Gerichtshofs zugewiesen (Artikel 52 Absatz 1 der Verfahrensordnung). Am 23. April 2015 erließ eine Kammer dieser Sektion, die sich aus dem Präsidenten Mark Villiger, den Richterinnen und Richtern Angelika Nußberger, Boštjan Zupančič, Ganna Yudkivska, André Potocki, Helena Jäderblom, Aleš Pejchal, sowie der Sektionskanzlerin Claudia Westerdiek zusammensetzte, ein Urteil, in dem sie die Rüge auf der Grundlage des Artikels 8 der Konvention einstimmig für zulässig und die Beschwerde im Übrigen für unzulässig erklärte und mit sechs zu einer Stimme entschied, dass die Vollziehung der gegen die Beschwerdeführerin bestehenden Ausweisungsverfügung keine Verletzung des Artikels 8 der Konvention bedeuten würde. Dem Urteil war die abweichende Meinung des Richters Zupančič sowie eine Erklärung der Richterin Yudkivska beigefügt.
5. Am 23. Juli 2015 hat die Beschwerdeführerin auf der Grundlage von Artikel 43 der Konvention die Verweisung der Sache an die Große Kammer beantragt. Der Ausschuss der Großen Kammer hat den Antrag am 14. September 2015 angenommen.
6. Die Zusammensetzung der Großen Kammer ist gemäß Artikel 26 Absätze 4 und 5 der Konvention und Artikel 24 der Verfahrensordnung beschlossen worden.
7. Sowohl die Beschwerdeführerin als auch die Regierung haben weitere schriftliche Stellungnahmen vorgelegt (Artikel 59 Absatz 1 der Verfahrensordnung).
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
A. Der Hintergrund der Rechtssache und das Verfahren vor den innerstaatlichen Behörden
8. Die Beschwerdeführerin wurde 19.. in Pakistan geboren und lebt zurzeit in einer Einrichtung für betreutes Wohnen in H. (H., Deutschland).
9. 1991 kamen die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann, pakistanischer Staatsangehöriger, nach Deutschland. Dem Ehemann der Beschwerdeführerin wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Im Oktober 1993 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung dieses Status’ abgelehnt. Als Ehefrau eines Flüchtlings erhielt sie am 16. Juni 1994 eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Am 11. Februar 1995 brachte sie einen Sohn zur Welt. 1998 trennten sich die Ehegatten. Ihr Sohn blieb bei der Beschwerdeführerin, die als Reinigungskraft in verschiedenen Unternehmen zu arbeiten begann.
10. Am 7. September 2001 erhielt sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
11. Im März 2004 verlor die Beschwerdeführerin wegen Verhaltensproblemen ihren Arbeitsplatz. Im Juli 2004 wurde die Ehe geschieden. 2005 übertrug das Familiengericht dem geschiedenen Ehemann der Beschwerdeführerin das Sorgerecht für das Kind und bestimmte dessen Aufenthalt am Wohnsitz seines Vaters.
12. Am 31. Mai 2004 wurde die Beschwerdeführerin in Untersuchungshaft genommen, da sie eine Nachbarin getötet hatte. Nach einem Versuch, sich selbst zu verletzen, wurde die Betroffene vorläufig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.
13. Am 13. Juli 2005 ordnete das Landgericht Gießen die dauerhafte Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer psychiatrischen Klinik an. Es vertrat die Auffassung, dass sie die Tötung im Zustand krankheitsbedingter Schuldunfähigkeit begangen hatte, nachdem es festgestellt hatte, dass sie zum Tatzeitpunkt an einer akuten Psychose litt. Ein medizinischer Sachverständiger bescheinigte, dass sie Aspekte einer Schizophrenie zeige und ein Intelligenzdefizit aufweise. Sie sei sich ihres psychischen Zustands nicht bewusst. Das Landgericht gelangte zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle und daher in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen sei. Es wurde zudem ein Betreuer für die Beschwerdeführerin bestellt.
14. Am 4. Juni 2009 ordnete das Landratsamt Waldeck-Frankenberg die Ausweisung der Beschwerdeführerin an. Unter Bezugnahme insbesondere auf die von ihr begangene Tat, die zu ihrer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geführt hatte, sowie auf ihren psychischen Zustand im Allgemeinen kam das Landratsamt zu dem Schluss, dass die Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle, die ihr Interesse, nicht ausgewiesen zu werden, trotz ihres langen Aufenthalts in Deutschland und ihres Aufenthaltstitels überwiege. Es hob hervor, dass die Beschwerdeführerin in wirtschaftlicher Hinsicht nicht integriert sei, dass sie der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei, was ein Hindernis für ihre Therapie sei. Sie habe nur begrenzten Kontakt zu ihrem früheren Ehemann und zu ihrem Sohn und sei noch immer mit der pakistanischen Kultur vertraut. Die Behörde fügte hinzu, dass die Beschwerdeführerin in Pakistan die für ihren Gesundheitszustand erforderliche medizinische Versorgung erhalten und dort von ihrer Familie unterstützt werden könnte.
15. Die Beschwerdeführerin erhob vor dem Verwaltungsgericht Kassel Klage gegen diese Entscheidung und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Im Lauf des Eilverfahrens verpflichteten sich die Verwaltungsbehörden, die Ausweisungsverfügung nicht zu vollziehen, solange das Verwaltungsgericht nicht in der Hauptsache entschieden habe.
16. Im November 2009 wurden der Beschwerdeführerin einige Lockerungen in der Klinik gewährt, so z.B. gelegentliche Urlaubstage. Nachdem sich ihre psychische Gesundheit gebessert hatte, begann sie anschließend in Vollzeit in der Wäscherei des Krankenhauses zu arbeiten.
17. Mit Urteil vom 1. März 2011 wies das Verwaltungsgericht die Klage der Beschwerdeführerin ab. In der Begründung führte es aus, dass diese eine schwerwiegende Straftat begangen habe, dass sie keine Krankheitseinsicht habe und eine hohe Wiederholungsgefahr vorliege. Es betonte auch, dass die Beschwerdeführerin vor allem aufgrund ihrer unzureichenden Kenntnisse der deutschen Sprache weder in sozialer noch wirtschaftlicher Hinsicht in die deutsche Gesellschaft integriert sei. Es fügte hinzu, dass die Beschwerdeführerin keine engen familiären Bindungen in Deutschland habe, da sie seit mehreren Jahren geschieden und das Sorgerecht für ihren Sohn dessen Vater übertragen worden sei. Zur Situation in Pakistan führte das Gericht aus, dass nach Auskunft der Deutschen Botschaft in Pakistan die medizinische Grundversorgung für psychisch erkrankte Personen in großen Städten wie Lahore sichergestellt sei und dass die Beschwerdeführerin über die Mittel verfügen würde, die von ihr benötigte Behandlung zu bezahlen, da sie mit einer Rente in Höhe von ca. 250 EUR versehen würde. Das Gericht hielt es, wenn auch die Familienangehörigen der Beschwerdeführerin in Pakistan gegenüber der Deutschen Botschaft angegeben hätten, dass sie nicht bereit seien, sie bei sich aufzunehmen, nicht für ausgeschlossen, dass diese ihr gegen Zahlung geringer Eurobeträge dabei helfen würden, die notwendige Behandlung zu organisieren. Es bestätigte im Übrigen die Schlussfolgerung der Verwaltungsbehörde, derzufolge die Beschwerdeführerin nicht für ihre Positionen zugunsten der Ahmadiya-Glaubensgemeinschaft bekannt sei und daher für sie in dieser Hinsicht keine Gefahr bestünde.
18. Am 23. Mai 2011 verwarf der Hessische Verwaltungsgerichtshof den Antrag der Beschwerdeführerin auf Zulassung der Berufung. Er stellte fest, dass das Verwaltungsgericht alle relevanten Fakten des Falles berücksichtigt habe. Mit Beschluss vom 2. August 2011 wies er die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin zurück, die insbesondere gerügt hatte, dass das Gericht ihre Ausführungen zur Besserung ihres Gesundheitszustandes, zum Tod ihrer Schwester in Pakistan und den Lebensbedingungen, die sie im Falle einer Abschiebung erwarten würden, nicht gebührend berücksichtigt habe.
19. Am 13. Dezember 2011 nahm das Bundesverfassungsgericht durch nicht begründeten Beschluss die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin nicht zur Entscheidung an (2 BvR 1923/11).
20. Zuvor hatte das Landgericht Marburg am 24. November 2011 auf Empfehlung eines medizinischen Sachverständigen die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung der Beschwerdeführerin in einem psychiatrischen Krankenhaus beschlossen und angeordnet, dass diese entlassen und für die Dauer von fünf Jahren unter Führungsaufsicht gestellt wird. Die Beschwerdeführerin wurde insbesondere angewiesen, regelmäßig mit dem Krankenhauspersonal in Verbindung zu bleiben und weiterhin die verordneten Medikamente einzunehmen. Das Gericht war der Meinung, die Behandlung habe die Wiederholungsgefahr ausreichend verringert, so dass das Restrisiko hinnehmbar sei.
21. Seit der Ausweisungsverfügung wird der Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Deutschland aufgrund der Duldungen gemäß § 60a Aufenthaltsgesetz geduldet (Randnummer 27 unten). Die letzte dieser Duldungen, die in der Regel für einen Zeitraum von sechs Monaten gelten, ist am 22. März 2016 erteilt worden und bis zum 17. Februar 2017 gültig.
B. Das Urteil der Kammer
22. In ihrem Urteil vom 23. April 2015 stellte die Kammer mit 6:1 Stimmen fest, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden ist (Randnummer 4 oben).
C. Der Sachverhalt nach dem Kammerurteil
23. Nachdem das Urteil der Kammer am 14. September 2015 ergangen ist, hat die Große Kammer dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer stattgegeben (Randnummer 5 oben).
24. In ihrer Stellungnahme vom 7. Januar 2016 zur Begründetheit der Rechtssache hat die Regierung in ihrem Namen und im Namen des für die Aufenthaltserlaubnis der Beschwerdeführerin zuständigen Landes Hessen die Zusicherung gegeben, dass die deutschen Verwaltungsbehörden vor einer etwaigen Abschiebung der Beschwerdeführerin eine neue Ausweisungsverfügung erlassen würden, um dem Zeitablauf Rechnung zu tragen. Sie hat im Übrigen versichert, dass eine neue Ausweisungsentscheidung erst getroffen werden könne, wenn eine gründliche medizinische Untersuchung der Beschwerdeführerin zuvor ergebe, dass weder die Durchführung der Abschiebung selbst noch ihre Umsiedlung nach Pakistan ein existenzbedrohendes medizinisches Risiko für die Beschwerdeführerin darstellen würden.
25. In Beantwortung der Fragen des Gerichtshofs hat die Regierung anschließend ausgeführt, dass die Verwaltungsbehörden die Beschwerdeführerin nicht auf der Grundlage der ursprünglichen Ausweisungsverfügung ausweisen würden, dass man sich auf die gegebene Zusicherung berufen könnte, um jeglichem Abschiebungsversuch auf der Grundlage der fraglichen Ausweisungsverfügung zu begegnen, und dass sich die deutschen Behörden durch diese Zusicherung auf allen Ebenen gebunden fühlten, da sie nach Beratung und in Absprache mit der hessischen Regierung gegeben worden sei.
26. Am 9. Februar 2016 beantragte die Regierung beim Gerichtshof offiziell die Streichung der Beschwerde im Register gemäß Artikel 37 Absatz 1 Buchstabe b oder c der Konvention. Bei dieser Gelegenheit hat sie die obengenannte Zusage erneuert und mitgeteilt, dass eine etwaige neue Ausweisungsverfügung die ursprüngliche Verfügung ersetze und dass der Beschwerdeführerin für die Anfechtung alle Rechtsbehelfe nach innerstaatlichem Recht zur Verfügung stünden.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
27. § 60a Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 regelt die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung). Darin wird insbesondere bestimmt, dass die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen ist, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (Absatz 2). Eine Duldung wird schriftlich erteilt (Absatz 4) und überträgt kein Aufenthaltsrecht (Absatz 3). Die Dauer einer Duldung wird nicht gesetzlich festgelegt; sie kann zwischen einem Tag und mehr als einem Jahr variieren. Die Duldung kann unbegrenzt verlängert werden.
RECHTLCHE WÜRDIGUNG
I. DER ANTRAG AUF STREICHUNG DER BESCHWERDE
28. Die Beschwerdeführerin behauptet, dass ihre Abschiebung nach Pakistan Artikel 8 der Konvention verletzen würde, dessen einschlägige Passagen wie folgt lauten:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens (…).
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die (…) öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten (…).“
A. Das Vorbringen der Parteien
29. Die Regierung ersuchte den Gerichtshof, die Rechtssache nach Artikel 37 Absatz 1 Buchstabe b der Konvention im Register zu streichen, weil die Beschwerdeführerin nicht mehr Gefahr laufe, aufgrund der Ausweisungsverfügung vom 4. Juni 2009 nach Pakistan ausgewiesen zu werden. Sie führte aus, dass die gegebene Zusicherung diese Verfügung zwar nicht gegenstandslos machen könne, diese jedoch nicht mehr vollstreckbar sei. Man könnte sich auf fragliche Zusicherung berufen, um jeglichem Versuch des Vollzugs zu begegnen. Die Regierung unterstrich, dass die Beschwerdeführerin nur aufgrund einer etwaigen neuen Ausweisungsverfügung ausgewiesen werden könnte, die ihrem Gesundheitszustand und dem seit dem Erlass der Verfügung im Jahr 2009 vergangenen Zeitraum Rechnung tragen würde. Sie fügte hinzu, dass die deutschen Behörden den Aufenthalt der Beschwerdeführerin auf der Grundlage des § 60a Aufenthaltsgesetz bis zum etwaigen Erlass einer neuen rechtskräftigen Ausweisungsverfügung dulden würden.
30. Da sie ihre Aufenthaltsberechtigung verloren habe, ist die Beschwerdeführerin der Auffassung, dass die Zusicherung der Regierung nichts an ihrer unsicheren Situation ändere, selbst wenn ihre Abschiebung einer neuen Ausweisungsverfügung bedürfe und die deutschen Behörden im Augenblick nicht beabsichtigen würden, ihre Abschiebung nach Pakistan anzuordnen. Sie hat auf den Antrag der Regierung auf Streichung nicht geantwortet.
B. Würdigung durch den Gerichtshof
31. Artikel 37 Absatz 1 der Konvention lautet:
„(1) Der Gerichtshof kann jederzeit während des Verfahrens entscheiden, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zur Annahme geben, dass
a) der Beschwerdeführer seine Beschwerde nicht weiterzuverfolgen beabsichtigt,
b) die Streitigkeit einer Lösung zugeführt worden ist oder
c) eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.
Der Gerichtshof setzt jedoch die Prüfung der Beschwerde fort, wenn die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert.
(2) Der Gerichtshof kann die Wiedereintragung einer Beschwerde in sein Register anordnen, wenn er dies den Umständen nach für gerechtfertigt hält.“
32. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass Artikel 37 Absatz 1 Buchstabe a der Konvention im vorliegenden Fall nicht anzuwenden ist, da die Beschwerdeführerin nicht erklärt hat, dass sie ihre Beschwerde zurückzieht, nachdem die Regierung die obengenannte Zusicherung gegeben hat (siehe sinngemäß, A. ./. Deutschland (Entsch.), Nr. 45293/06, 6. März 2012).
33. Der Gerichtshof führt sodann aus, dass er gemäß seiner ständigen Rechtsprechung, wenn ein Beschwerdeführer, dem eine Ausweisung droht, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hat und nicht mehr Gefahr läuft, ausgewiesen zu werden, die Auffassung vertritt, dass die Rechtssache im Sinne des Artikels 37 Absatz 1 Buchstabe b der Konvention einer Lösung zugeführt worden ist, und dass er sie auch ohne Zustimmung des Beschwerdeführers in seinem Register streicht. Der Gerichtshof hat die Frage nämlich immer unter dem Blickwinkel einer möglichen Verletzung der Konvention betrachtet. Die Gefahr einer solchen Verletzung ist jedoch durch die Entscheidung, dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung im betroffenen beschwerdegegnerischen Staat zu erteilen, nicht mehr gegeben (sieheF.G. ./. Schweden [GK], Nr. 43611/11, Rndnr. 73, 23. März 2016, mit den dort zitierten Nachweisen, und M.E. ./. Schweden (Streichung) [GK], Nr. 71398/12, Rdnrn. 32 und 33, 8. April 2015).
34. In manchen Rechtssachen, in denen der Beschwerdeführer keine Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte, war der Gerichtshof hingegen der Meinung, dass die weitere Prüfung der Beschwerde gemäß Artikel 37 Absatz 1 Buchstabe c der Konvention nicht mehr gerechtfertigt ist, und hat die Streichung im Register beschlossen, da aus den ihm vorliegenden Informationen eindeutig hervorging, dass der Beschwerdeführer weder gegenwärtig noch vor langer Zeit Gefahr lief, ausgewiesen und einer Behandlung unterzogen zu werden, die gegen Artikel 8 der Konvention verstößt, und die Möglichkeit hatte, vor den innerstaatlichen Behörden und gegebenenfalls dem Gerichtshof eine etwaige neue Abschiebung anzufechten (siehe F.I. und andere ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Nr. 8655/10, 15. März 2011, Atayeva und Burmann ./. Schweden (Streichung), Nr. 17471/11, Rdnrn. 19-24, 31. Oktober 2013, und sinngemäß in Bezug auf Artikel 3, A., a.a.O., Ozbeek ./. Niederlande (Entsch.), Nr. 40938/09, 9. Oktober 2012, Sharifi ./. Schweiz (Entsch.), Nr. 69486/11, 4. Dezember 2012, P.Z. und andere ./. Schweden (Streichung), Nr. 68194/10, Rdnrn. 14-17, 18. Dezember 2012, B.Z. ./. Schweden (Streichung), Nr. 74352/11, Rdnrn. 17-20, 18. Dezember 2012, L.T. ./. Belgien (Entsch.), Nr. 31201/11, 12. März 2013, Isman ./. Schweiz (Entsch.), Nr. 23604/11, Rdnr. 24, 21. Januar 2014, I.A. ./. Niederlande (Entsch.), Nr. 76660/12, 27. Mai 2014, H.S. und andere ./. Belgien (Entsch.), Nr. 10973/12, 24. März 2015, A.A. ./. Belgien (Entsch.), Nr. 66712/13, 19. Mai 2015, und S.S. ./. Niederlande (Entsch.), Nr. 67743/14, 1. September 2015).
35. Der Gerichtshof war in allen vorgenannten Rechtssachen explizit oder implizit der Meinung, dass keine besonderen Umstände vorlagen, welche die Achtung der von der Konvention und den Protokollen dazu garantierten Menschenrechte berühren und die weitere Prüfung der Beschwerde verlangen (Artikel 37 Absatz 1 in fine).
36. Der Gerichtshof stellt vorliegend fest, dass die deutsche Regierung die Zusicherung gegeben hat, dass die Beschwerdeführerin nicht auf der Grundlage der Ausweisungsverfügung vom 4. Juni 2009 ausgewiesen würde, derentwegen sie diese Beschwerde erhoben hat. Die Regierung hat ferner zugesichert, dass, wenn gegen die Beschwerdeführerin eine neue Ausweisungsentscheidung ergehen würde, diese erst nach einer umfassenden medizinischen Untersuchung des Gesundheitszustands der Beschwerdeführerin getroffen und dem seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung im Jahr 2009 vergangenen Zeitraum Rechnung tragen würde.
37. Der Gerichtshof sieht keine Veranlassung, an der Ernsthaftigkeit der von der deutschen Regierung gegeben Zusagen und deren bindenden Wirkung zu zweifeln (F.I. und andere ./. Vereinigtes Königreich, vorgenannte Entscheidung, und A., vorgenannte Entscheidung), zumal diese auch im Namen der Behörden des zuständigen Landes gegeben worden sind. Infolgedessen ist die Ausweisungsverfügung vom 4. Juni 2009 nicht mehr vollziehbar. Die Beschwerdeführerin genießt im Übrigen eine Duldung gemäß § 60a Aufenthaltsgesetz. In diesem Zusammenhang ruft der Gerichtshof in Erinnerung, dass er Beschwerden im Register gestrichen hat, nachdem er von der beschwerdegegnerischen Regierung davon unterrichtet worden war, dass die nationalen Behörden nicht mehr die Absicht hatten, den Betroffenen in naher Zukunft oder für einen gewissen Zeitraum in das Herkunftsland abzuschieben, ohne dass diese Informationen mit einer förmlichen Verpflichtung seitens der beschwerdegegnerischen Regierung einhergegangen waren (siehe unter vielen anderen Ozbeek, vorgenannte Entscheidung, Abdi Mohammed ./. Niederlande (Entsch.), Nr. 2738/11, 4. Dezember 2012, I.A. ./. Niederlande, vorgenannte Entscheidung, und S.S. ./. Niederlande, vorgenannte Entscheidung).
38. Der Gerichtshof stellt auch fest – und die deutsche Regierung bestätigt es –, dass für den Fall, dass die deutschen Behörden eine neue Ausweisungsentscheidung treffen würden, der Beschwerdeführerin nach innerstaatlichem Recht Rechtsbehelfe zur Verfügung stünden, um diese Entscheidung vor den deutschen Gerichten anzugreifen. Die Beschwerdeführerin hätte im Übrigen gegebenenfalls die Möglichkeit, eine neue Beschwerde vor dem Gerichtshof zu erheben (siehe die Hinweise in Randnummer 34 oben). Der Gerichtshof gelangt zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin weder im Augenblick noch in absehbarer Zukunft Gefahr läuft, ausgewiesen zu werden.
39. Unter diesen Voraussetzungen und angesichts der Subsidiarität des von der Konvention eingeführten Kontrollmechanismus ist der Gerichtshof der Ansicht, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde (Artikel 37 Absatz 1 Buchstabe c) der Konvention) nicht mehr gerechtfertigt ist.
40. Der Gerichtshof ist ferner der Meinung, dass im vorliegenden Fall keine besonderen Umstände gegeben sind, welche die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, berühren und die weitere Prüfung der Beschwerde erfordern würden (Artikel 37 Absatz 1 in fine). Er vertritt insbesondere die Auffassung, dass im Unterschied zur Rechtssache F.G. ./. Schweden (a.a.O., Rdnr. 82), die im Hinblick auf Artikel 2 und 3 der Konvention bedeutsame Fragen aufgeworfen hat, die vorliegende Rechtssache nicht über die besondere Situation der Beschwerdeführerin hinausgeht, da sie im Wesentlichen die Würdigung – durch die deutschen Behörden – der Fakten insbesondere in Bezug ihre familiäre Situation (erwachsener Sohn), ihre Integration, ihre Gefährlichkeit, ihren Gesundheitszustand und die Verfügbarkeit angemessener medizinischer Versorgung in Pakistan betrifft, wobei es sich hierbei um Fakten handelt, die sich darüber hinaus im Lauf der Zeit ändern können (Abdi Mohammed, Isman und I.A. ./. Niederlande, vorgenannte Rechtssachen).
41. Der Gerichtshof möchte im Übrigen daran erinnern, dass er nach der Streichung einer Beschwerde in seinem Register gemäß Artikel 37 Absatz 2 der Konvention jederzeit die Wiedereintragung anordnen kann, wenn er dies den Umständen nach für gerechtfertigt hält (A., Abdi Mohammed, I.A. ./. Niederlande und H.S. und andere ./. Belgien, vorgenannte Rechtssachen).
42. Folglich ist die Beschwerde im Register zu streichen.
II. ZUR ANWENDUNG DES ARTIKELS 43 ABSATZ 4 DER KONVENTION
43. Der einschlägige Teil von Artikel 43 Absatz 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs lautet wie folgt:
„Wird eine Beschwerde im Register gestrichen, so befindet der Gerichtshof über die Kostenfrage (…)“
44. Der Gerichtshof erinnert daran, dass im Unterschied zu Artikel 41 der Konvention, der nur anwendbar ist, wenn er zuvor festgestellt hat, dass die Konvention oder die Protokolle dazu verletzt wurden, Artikel 43 Absatz 4 der Verfahrensordnung ihm gestattet, dem Beschwerdeführer für Kosten und Auslagen einen Betrag zuzusprechen – und in dieser Hinsicht nur – wenn die Beschwerde im Register gestrichen worden ist (Syssoyeva und andere ./. Lettland (Streichung) [GK], Nr. 60654/00, Rdnr. 132, CEDH 2007‑I).
45. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführerin nach Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer darüber unterrichtet worden ist, dass ihre vor der Kammer geltend gemachten Ansprüche auf eine gerechte Entschädigung Berücksichtigung finden würden und dass sie die Möglichkeit hatte, zusätzliche Kosten und Auslagen für das Verfahren vor der Großen Kammer zu verlangen. Er stellt fest, dass die Beschwerdeführerin vor der Kammer den Betrag von 5.731,33 EUR für Anwaltskosten, die sie für die Verfahren vor den Verwaltungsbehörden und -gerichten, dem Bundesverfassungsgericht, dem Hessischen Landtag und dem Gerichtshof aufgewandt habe, sowie 211,90 EUR für Gerichtskosten gefordert hat. Die Beschwerdeführerin hat außerdem mindestens 300 EUR für das weitere Verfahren und die Übersetzungskosten verlangt. Vor der Großen Kammer hat die Beschwerdeführerin keine weiteren Forderungen gestellt.
46. Die Regierung hat die Forderungen der Beschwerdeführerin in Bezug auf die Kosten und Auslagen vor der Kammer oder vor der Großen Kammer nicht kommentiert.
47. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die allgemeinen Grundsätze für die Erstattung der Kosten nach Artikel 43 Absatz 4 der Verfahrensordnung im Wesentlichen denjenigen entsprechen, die im Rahmen des Artikels 41 der Konvention angewandt werden. Mit anderen Worten: Damit die Kosten erstattet werden können, müssen sie sich auf die behauptete Verletzung oder die behaupteten Verletzungen beziehen und der Höhe nach angemessen sein. Der Beschwerdeführer muss darüber hinaus nach Artikel 60 Absatz 2 der Verfahrensordnung all seine Ansprüche unter Beifügung der erforderlichen Belege beziffern und nach Rubriken geordnet geltend machen. Andernfalls kann der Gerichtshof die Ansprüche ganz oder teilweise zurückweisen (Kovačić und andere ./. Slowenien [GK], Nrn. 44574/98, 45133/98 und 48316/99, Rdnr. 276, 3. Oktober 2008). Aus dem Aufbau des Artikels 43 Absatz 4 der Verfahrensordnung geht im Übrigen hervor, dass die Große Kammer, wenn sie beschließt, Kosten zuzusprechen, dies im Hinblick auf das gesamte Verfahren vor dem Gerichtshof, einschließlich der Stadien vor der Anrufung der Großen Kammer tun muss (Chevanova ./. Lettland (Streichung) [GK], Nr. 58822/00, Rdnr. 55, 7. Dezember 2007, und El Majjaoui und Stichting Touba Moskee ./. Niederlande (Streichung) [GK], Nr. 25525/03, Rdnrn. 39-40, 20. Dezember 2007).
48. Angesichts der ihm vorliegenden Erkenntnisse und der zuvor dargelegten Kriterien erachtet es der Gerichtshof für angemessen, der Beschwerdeführerin den für Kosten und Auslagen als Anwalts- und Gerichtskosten geltend gemachten Betrag zuzusprechen. Er stellt diesbezüglich fest, dass der in den Belegen von der Beschwerdeführerin angegebene Betrag nicht dem geforderten Betrag entspricht und diesen übersteigt. Er zweifelt jedoch nicht daran, dass der Beschwerdeführerin diese Kosten in der geforderten Höhe (5.731,33 EUR) entstanden sind und spricht sie ihr zu, ebenso wie den für die Gerichtskosten verlangten Betrag (211,90 EUR). Was die anderen angeführten Kosten, unter anderem für gefertigte Übersetzungen, anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin keinen Nachweis in ihrer Stellungnahme erbracht hat, die sie der Kammer und der Großen Kammer vorgelegt hat. Unter diesen Umständen hält es der Gerichtshof nicht für angebracht, der Beschwerdeführerin die anderen geltend gemachten Beträge zuzusprechen. Im Ergebnis billigt der Gerichtshof der Beschwerdeführerin den Betrag in Höhe von 5.943,23 EUR für Kosten und Auslagen zu.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:
1. Er entscheidet mit sechzehn zu einer Stimme, die Beschwerde im Register zu streichen.
2. Er entscheidet einstimmig,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat der Beschwerdeführerin innerhalb von drei Monaten den Betrag in Höhe von 5.943,23 EUR (fünftausendneunhundertdreiundvierzig Euro und dreiundzwanzig Cent) zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise bei der Beschwerdeführerin angefallen sind, zu zahlen hat;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu einem Satz entsprechend demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank, der in diesem Zeitraum Gültigkeit hat, zu erhöhen ist, zuzüglich drei Prozentpunkten.
Ausgefertigt in französischer und englischer Sprache und anschließend am 21. September 2016 gemäß Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung schriftlich übermittelt.
Johan Callewaert Guido Raimondi
Stellvertretender Kanzler Präsident
____________
Diesem Urteil ist gemäß Artikel 45 Absatz 2 der Konvention und Artikel 74 Absatz 2 der Verfahrensordnung die abweichende Meinung des Richters Sajó beigefügt.
G.R.A.
J.C.
ABWEICHENDE MEINUNG DES RICHTERS SAJÓ
(Übersetzung)
Leider kann ich mich im vorliegenden Fall nicht der Mehrheit anschließen, da ich der Auffassung bin, dass die Voraussetzungen für eine Streichung im Register nicht erfüllt sind. Die Sache betrifft das Schicksal einer geistig behinderten Person, wobei einzig ihr derzeitiges Umfeld für sie am besten geeignet ist. Ist eine Duldung in einem solchen Fall mit der Konvention vereinbar? Man muss diese Frage beantworten, wenn man die Achtung der von der Konvention garantierten Menschenrechte gewährleisten will (Artikel 37 Absatz 1 der Konvention).
Ich finde es besonders beunruhigend, dass der Gerichtshof die weitere Prüfung der Beschwerde unter den vorliegenden Umständen „und angesichts der Subsidiarität des von der Konvention eingeführten Kontrollmechanismus“ nicht mehr für gerechtfertigt hält. Die Rolle des Gerichtshofs besteht nicht darin, eine Kontrolle auszuüben. Der Gerichtshof muss die Einhaltung der von den Hohen Vertragsparteien übernommenen Verpflichtungen „sicherstellen“ (Artikel 19 der Konvention). Unabhängig davon, welche Bedeutung die Subsidiarität in dem vorliegenden Zusammenhang hat, kann sie nicht als Grund zur Rechtfertigung einer Streichung herangezogen werden. Andernfalls könnte irgendein anderer Grund angeführt werden, um eine Streichung zu rechtfertigen, und der Gerichtshof würde somit unbegrenztes Ermessen ausüben.
Aus diesen Gründen sehe ich mich veranlasst, meine abweichende Meinung kundzutun.
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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