EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 30860/15
K. gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 11. Oktober 2016 als Ausschuss mit den Richtern
Khanlar Hajiyev, Präsident,
Faris Vehabović
und Carlo Ranzoni,
sowie Anne-Marie Dougin, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 18. Juni 2015 erhoben wurde,
im Hinblick auf die am 27. Juni 2016 von der Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde in seinem Register zu streichen, und die Erwiderung des Beschwerdeführers auf diese Erklärung,
nach Beratung wie folgt entschieden.
SACHVERHALT UND VERFAHREN
Der 19.. geborene Beschwerdeführer, K., ist deutscher Staatsangehöriger und derzeit in der Justizvollzugsanstalt W. untergebracht. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn H., Rechtsanwalt in A., vertreten.
Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
Insbesondere rügte der Beschwerdeführer, dass seine Sicherungsverwahrung nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention rechtswidrig sei, weil das Landgericht Aachen die Fortdauer dieser Freiheitsentziehung erst am 19. März 2013, also etwa 16 Monate nach Ablauf der Zweijahresfrist für die Überprüfung der weiteren Notwendigkeit dieser Freiheitsentziehung am 16. November 2011, angeordnet habe.
Am 8. März 2016 wurde die nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention erhobene Rüge der Regierung übermittelt und gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Der Beschwerdeführer rügte, dass die innerstaatlichen Gerichte die gesetzliche Frist zur Überprüfung der Notwendigkeit seiner weiteren Sicherungsverwahrung nicht eingehalten hätten. Er berief sich auf Artikel 5 Abs. 1 der Konvention.
Nachdem mehrere Versuche, eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 27. Juni 2016 von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner beantragte sie, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
Die Erklärung lautete wie folgt:
„Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren einen Vorschlag zur gütlichen Einigung unterbreitet, den die Bundesregierung mit Erklärung vom 4. Mai 2016 angenommen hat. (…) hat der Gerichtshof nunmehr das Schreiben des Beschwerdeführers vom 24. Mai 2016 übersandt, in dem dieser mitteilt, mit dem Abschluss des vom Gerichtshof vorgeschlagenen Vergleichs nicht einverstanden zu sein.
Die Bundesregierung möchte daher – durch eine einseitige Erklärung – anerkennen, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache dadurch, dass die nationalen Gerichte die gesetzliche Frist zur Überprüfung, ob die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung erforderlich ist, deutlich überschritten haben, in seinem Recht aus Art. 5 Abs. 1 EMRK verletzt worden ist.
Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof eine Entschädigungsforderung in Höhe (…) von 12.000,00 Euro anzuerkennen. Mit diesem Betrag in Höhe von 12.000,00 Euro würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Nordrhein-Westfalen, insbesondere auf Schadensersatz (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten.
Der Betrag ist zahlbar innerhalb von drei Monaten nach Endgültigkeit der Entscheidung des Gerichtshofs über die Streichung der Rechtssache aus seinem Register. […]
Die Bundesregierung beantragt daher, dass dieses Individualbeschwerdeverfahren gemäß Art. 37 Abs. 1c) der Konvention aus dem Register gestrichen wird. (…)”
Mit Schreiben vom 26. Juli 2016 nahm der Beschwerdeführer auf Artikel 37 Abs. 1 in fine Bezug und gab an, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei, weil die angebotene Entschädigung zu niedrig sei, um auch seine Kosten und Auslagen abzudecken.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“
Er erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.
Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof die Erklärung im Lichte der Grundsätze geprüft, die in seiner Rechtsprechung, insbesondere in dem Urteil Tahsin Acar (Tahsin Acar ./. Türkei (prozessuale Einreden) [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 7577, EGMR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Herman ./. die Niederlande (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 35965/14, 17. November 2015), festgelegt worden sind.
Der Gerichtshof hat in einer Reihe von Fällen, auch in Fällen gegen Deutschland, seine Praxis in Bezug auf Rügen wegen Verletzungen von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention durch Nichterfüllung der in dieser Bestimmung niedergelegten Anforderung der „Rechtmäßigkeit“ – insbesondere durch Nichteinhaltung gesetzlicher Fristen zur Überprüfung der Fortdauer einer Freiheitsentziehung – festgelegt (siehe insbesondere Rutten ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 32605/96, Rdnrn. 39-47, 24. Juli 2001; S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 48038/06, Rdnrn. 81-86 und 103‑109, 24. November 2011 und H.W. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17167/11, Rdnrn. 64-91, 19. September 2013, mit weiteren Nachweisen).
Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses und der vorgeschlagenen Entschädigungssumme, die den in ähnlich gelagerten Fällen zugesprochenen Beträgen entspricht, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine weitere Prüfung dieser Beschwerde nicht gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c).
Darüber hinaus ist der Gerichtshof im Lichte vorstehender Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen und umfangreichen Rechtsprechung zu diesem Thema überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).
Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass für den betreffenden Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht, wenn die Zahlung nicht binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 der Konvention erfolgt.
Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten, die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte (siehe Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).
Nach alledem ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen.
Aus diesen Gründen befindet der Gerichtshof einstimmig:
Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention sowie die Modalitäten für die Erfüllung der darin enthaltenen Verpflichtungen zur Kenntnis;
er beschließt, die Beschwerde gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention im Register zu streichen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 3. November 2016.
Anne-Marie Dougin Khanlar Hajiyev
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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