RECHTSSACHE NEZIRAJ gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 30804/07

Der Beschwerdeführer machte geltend, dass er in dem gegen ihn geführten Strafverfahren in seinem Recht auf Zugang zu den Gerichten, seinem Recht auf rechtliches Gehör und seinem Recht, sich nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, verletzt worden sei. Er rügte, dass das Berufungsgericht seine Berufung ohne Prüfung in der Sache verworfen habe, weil er nicht zu der Verhandlung erschienen sei, obwohl sein Anwalt anwesend und bereit gewesen sei, ihn zu verteidigen.


FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE N. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 30804/07)
URTEIL
STRASSBURG
8. November 2012

Dieses Urteil wird nach Maßgabe von Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache N. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Dean Spielmann, Präsident,
Mark Villiger,
Karel Jungwiert,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
Angelika Nußberger
und Paul Lemmens
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 2. Oktober 2012

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 30804/07) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein serbischer Staatsangehöriger, Herr N. („der Beschwerdeführer“), am 13. Juli 2007 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn S., Rechtsanwalt in K., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass er in dem gegen ihn geführten Strafverfahren in seinem Recht auf Zugang zu den Gerichten, seinem Recht auf rechtliches Gehör und seinem Recht, sich nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, verletzt worden sei. Er rügte, dass das Berufungsgericht seine Berufung ohne Prüfung in der Sache verworfen habe, weil er nicht zu der Verhandlung erschienen sei, obwohl sein Anwalt anwesend und bereit gewesen sei, ihn zu verteidigen.

4. Am 3. März 2010 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt. Es wurde ferner beschlossen, über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde gleichzeitig zu entscheiden (Artikel 29 Absatz 1).

5. Die serbische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren unterrichtet worden war (Artikel 36 Absatz 1 der Konvention und Artikel 44 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs), hat erklärt, dass sie dieses Recht nicht ausüben wolle.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

6. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist derzeit in der Justizvollzugsanstalt R. inhaftiert.

A. Das Verfahren vor den Strafgerichten

7. Am 3. Februar 2003 verurteilte das Amtsgericht Köln den Beschwerdeführer nach mündlicher Verhandlung, bei der der Beschwerdeführer und sein Anwalt anwesend waren und Zeugen gehört wurden, wegen Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 15 Euro. Der Beschwerdeführer hatte Freispruch beantragt.

8. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer legte Berufung gegen dieses Urteil ein.

9. Am 11. Juni 2003 fand eine mündliche Verhandlung beim Landgericht Köln statt, bei welcher der Anwalt des Beschwerdeführers anwesend war, der Beschwerdeführer selbst jedoch nicht persönlich erschien. Auch mehrere Zeugen waren geladen worden. Der Anwalt des Beschwerdeführers erklärte, dass in einer anderen Sache ein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer erlassen worden sei. Der Beschwerdeführer habe daher entschieden, nicht persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, sich aber durch seinen Anwalt vertreten zu lassen. Er machte geltend, dass nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention ein Angeklagter in einem Berufungsverfahren durch einen Anwalt vertreten werden dürfe.

10. Mit Urteil vom selben Tag verwarf das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers und entsprach damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Es befand, dass der Beschwerdeführer seine Berufung zwar rechtzeitig eingelegt habe. Allerdings sei er ungeachtet der Ladung und ohne genügende Entschuldigung zu der Verhandlung vor dem Landgericht nicht erschienen. Er habe sich auch nicht durch einen Anwalt vertreten lassen können. Seine Berufung sei deshalb nach § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO (siehe Rdnr. 25) zu verwerfen gewesen.

11. Am 26. September 2003 verwarf das Oberlandesgericht Köln die Revision des Beschwerdeführers, in der er sich auf seine Verteidigungsrechte nach Artikel 6 der Konvention berufen hatte, als unbegründet, da das Urteil des Landgerichts keinen Rechtsfehler erkennen lasse.

B. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

12. Am 22. Oktober 2003 legte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Er trug vor, dass die vom Oberlandesgericht bestätigte Entscheidung des Landgerichts, über seine Berufung nicht zur Sache zu verhandeln, weil er nicht zu der Verhandlung erschienen sei, sein Recht auf Zugang zu den Gerichten, sein Recht auf rechtliches Gehör und sein Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, die allesamt durch das Grundgesetz gewährleistet seien, verletzt habe.

13. Am 27. Dezember 2006 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (2 BvR 1872/03) zur Entscheidung anzunehmen, da sie unbegründet sei. Die Entscheidung wurde dem Anwalt des Beschwerdeführers am 23. Januar 2007 zugestellt.

14. Das Bundesverfassungsgericht befand, dass das Recht des Beschwerdeführers auf effektive Verteidigung als Ausprägung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren nach dem Grundgesetz nicht verletzt worden sei. Um zu diesem Schluss zu gelangen, berücksichtigte das Gericht auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c der Konvention. Es betonte, dass kein Präzedenzfall existiere, in dem der Gerichtshof eine Anwendung von § 329 Absatz 1 StPO als Verstoß gegen Artikel 6 der Konvention gewertet habe.

1. Das Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, nach dem Grundgesetz

15. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass das Recht des Beschwerdeführers auf effektive Verteidigung im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelsystem der Strafprozessordnung und weiteren Grundrechten wie dem Recht auf rechtliches Gehör und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz zu betrachten sei. Nach einer Berufung führe das Berufungsgericht ein neues Verfahren im Hinblick auf Sach- und Rechtsfragen durch und entscheide in eigener Verantwortung nach durchgeführter Beweisaufnahme. Die Prinzipien der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit und der Unmittelbarkeit gälten auch für Verfahren vor den Berufungsgerichten. Nach den Vorschriften der Strafprozessordnung könnten Strafverfahren regelmäßig nicht in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, auch nicht vor einem Berufungsgericht. Deshalb finde in den Fällen nach § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO keine Verhandlung zur Sache statt, sondern das vom erstinstanzlichen Gericht in Anwesenheit des Angeklagten erlassene Urteil werde aufrechterhalten.

16. Das Bundesverfassungsgericht führte zur Begründung weiter aus, dass das Recht auf effektive Verteidigung nicht unabhängig von anderen Rechten und Prinzipien des Grundgesetzes und der Strafprozessordnung geltend gemacht werden könne. § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO solle nicht nur verhindern, dass ein Angeklagter das Verfahren gegen ihn durch sein Nichterscheinen verzögere, sondern auch seine Anwesenheit in der Verhandlung gewährleisten, welche zugleich Recht und Pflicht sei. Die Vorschrift baue auf dem Gedanken auf, dass ein Gericht seiner Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und zu einer gerechten Strafzumessung nur dann genüge, wenn es den Angeklagten vor sich gesehen und ihn mit seiner Verteidigung gehört habe. Sowohl nach Artikel 14 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte als auch nach der Europäischen Konvention für Menschrechte folge aus dem Recht auf Verteidigung das Recht auf Anwesenheit. Dieses Recht sichere eine uneingeschränkte Verteidigung, sei aber gleichzeitig eine Pflicht, die der Wahrheitsfindung dienen solle, für die das Auftreten und die Einlassungen des Angeklagten sowie selbst sein Schweigen dienlich sein könnten. Von der Regel, nicht in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, gebe es nur sehr begrenzte Ausnahmen (§§ 231 Absatz 2, 231a, 231b, 231c, 232, 233, 247, 329 Absatz 2, 350 Absatz 2, 387 Absatz 1, 411 StPO; siehe Rdnrn. 25-30).

17. Das Anwesenheitsrecht und die Anwesenheitspflicht seien auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit des Verfahrens bezogen, die der Herstellung einer sicheren Entscheidungsgrundlage dienten und zugleich eine Ausprägung des rechtlichen Gehörs des Angeklagten darstellten. Da die Anwesenheit des Angeklagten nicht ausschließlich seiner Rechtsposition diene, könne er auf sein Anwesenheitsrecht nicht verzichten oder es auf seinen Verteidiger delegieren.

18. Der Gesetzgeber habe entschieden, Strafverfahren in Abwesenheit des Angeklagten nicht zuzulassen. Deshalb schränke § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO das Recht des Angeklagten, über die Art und Weise der Ausübung seines rechtlichen Gehörs und seines Rechts, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, zu bestimmen, in verhältnismäßiger Weise ein. Im Hinblick auf die Strukturprinzipien des deutschen Strafprozesses verpflichte das Recht auf ein faires Verfahren den Gesetzgeber oder die Gerichte nicht, die Vertretung eines ausgebliebenen Angeklagten durch seinen Verteidiger zuzulassen.

2. Das Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, nach Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c der Konvention

19. Das Bundesverfassungsgericht hat weiter festgestellt, dass die deutschen Gerichte bei der Gesetzesauslegung zur Berücksichtigung der Vorschriften der Konvention und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung der anwendbaren deutschen Gesetze verpflichtet seien. Im Hinblick auf § 329 Absatz 1 StPO, dem zufolge es nicht zulässig sei, dass ein Angeklagter ausbleibe und sich in der Hauptverhandlung durch seinen Verteidiger vertreten lasse, existiere kein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem ein Konventionsverstoß festgestellt worden sei. Allerdings habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen andere Vertragsstaaten der Konvention Urteile erlassen, welche die Konstellation des Ausbleibens eines Angeklagten bei Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Anwalts in der Hauptverhandlung zum Gegenstand hatten (siehe Poitrimol ./. Frankreich, 23. November 1993, Serie A Band 277-A; Lala ./. Niederlande, 22. September 1994, Serie A Band 297-A; Pelladoah ./. Niederlande, 22. September 1994, Serie A Band 297-B; Van Geyseghem ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 26103/95, ECHR 1999-I; und Krombach ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 29731/96, ECHR 2001-II). Der Gerichtshof habe in diesen Fällen entschieden, dass ein Ausbleiben des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht rechtfertige, ihm das Recht zu entziehen, sich nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention durch einen Anwalt verteidigen zu lassen.

20. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kann es dahinstehen, ob die Grundsätze der Rechtsprechung in diesen Fällen wegen der Verschiedenheit der zu Grunde liegenden Sachverhalte und nationalen Rechtsordnungen auf den vorliegenden Fall vollständig übertragbar seien. Insbesondere habe in einigen der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Fälle der Angeklagte rechtliche Argumente nicht zu Gehör bringen können, die im deutschen Strafprozess grundsätzlich von Amts wegen zu berücksichtigen seien. Jedenfalls werde § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO Artikel 6 der Konvention gerecht. Er betreffe allein die Abwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht. Dass über seine Sache nicht erneut verhandelt werde, sei Folge seiner eigenen Entscheidung, der Verhandlung ohne hinreichenden Grund fernzubleiben, und bedeute keinen Verstoß gegen seine Rechte nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c, wenn, wie im Regelfall, eine erstinstanzliche Hauptverhandlung in seiner Anwesenheit vorausgegangen sei. Liege ein Haftbefehl in anderer Sache vor, sei es Sache des Angeklagten, diesen Konflikt so aufzulösen, wie es ihm günstig erscheine. Es sei nicht geboten, diesen Konflikt für ihn dadurch zu lösen, dass er sich in der Berufungshauptverhandlung durch seinen Verteidiger vertreten lassen könne. Dass der Verteidiger in einem solchen Fall keine Verhandlung verlangen könne, bedeute überdies keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit. Dieser Grundsatz gelte für eine Verhandlung zur Sache, die im Verfahren nach § 329 Absatz 1 StPO nicht stattfinde. Der Beistand des Verteidigers im Sinne von Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c werde dem Angeklagten durch oben genannte Vorschrift auch nicht vorenthalten. Der Verteidiger könne vor Gericht geltend machen, dass die Voraussetzungen des § 329 StPO nicht gegeben seien. Andernfalls wären Abwesenheitsverfahren de facto zugelassen.

21. Das Bundesverfassungsgericht legte weiter dar, dass das Gericht nach § 329 Absatz 4 StPO (siehe Rdnr. 25) auch die Verhaftung des Angeklagten anordnen könne, um seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung sicherzustellen, statt die Berufung ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Eine solche Anordnung sei aber kein geeignetes Mittel, um das eigene Interesse des Angeklagten durchzusetzen, vor allem, wenn keinerlei Hinweise auf seine Bereitschaft vorlägen, zur Verhandlung zu erscheinen.

22. Das Bundesverfassungsgericht befand des Weiteren, dass das Recht des Angeklagten auf Zugang zu den Gerichten, selbst unter der Annahme, dass der Angeklagte diese Rüge hinreichend begründet habe, aus den genannten Gründe nicht verletzt worden sei.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

A. Regel: Keine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten

23. Die deutsche Strafprozessordnung sieht vor, dass regelmäßig keine Verhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten stattfinden darf (§ 230 Absatz 1 StPO).

24. Erscheint der Angeklagte zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht, so sieht § 230 Absatz 2 StPO für den Fall, dass das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt ist, die Anordnung einer Vorführung oder den Erlass eines Haftbefehls vor.

25. Erscheint der Angeklagte nicht zur Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht, so sieht § 329 StPO Folgendes vor:

­„(1) Ist bei Beginn einer Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch in den Fällen, in denen dies zulässig ist, ein Vertreter des Angeklagten erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. […]

(2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 kann auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft auch ohne den Angeklagten verhandelt werden. […]

(3) Der Angeklagte kann binnen einer Woche nach der Zustellung des Urteils die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den in den §§ 44 und 45 bezeichneten Voraussetzungen beanspruchen.

(4) Sofern nicht nach Absatz 1 oder 2 verfahren wird, ist die Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten anzuordnen. Hiervon ist abzusehen, wenn zu erwarten ist, dass er in der neu anzuberaumenden Hauptverhandlung ohne Zwangsmaßnahmen erscheinen wird.”

B. Ausnahmen von der Regel

26. Die Strafprozessordnung sieht einige Ausnahmen von der oben genannten Regel vor. Eine Hauptverhandlung darf in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt (und ein Urteil in der Hauptsache erlassen) werden, wenn der Angeklagte sich aus einer Hauptverhandlung entfernt hat und über die Anklage schon vernommen war (§ 231 Absatz 2), wenn er sich vorsätzlich in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat (§ 231a), oder wenn er wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungszimmer entfernt wurde (§ 231b), es sei denn, das Gericht hält seine Anwesenheit für unerlässlich. In Verfahren gegen mehrere Angeklagte kann das Gericht einem Angeklagten gestatten, sich während einzelner Teile der Verhandlung, die ihn nicht betreffen, zu entfernen (§ 231c).

27. Des Weiteren kann eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, wenn nur Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu erwarten ist und der Angeklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann (§ 232). Der Angeklagte kann auch auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden werden, wenn nur Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu erwarten ist (§ 233).

28. Soweit die Hauptverhandlung nach den genannten Vorschriften in Abwesenheit des Angeklagten stattfinden kann, ist er befugt, sich durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten zu lassen (§ 234).

29. Des Weiteren können die Strafgerichte anordnen, dass sich der Angeklagte im Interesse der Wahrheitsfindung oder zum Schutz der Gesundheit eines Zeugen oder des Angeklagten während einer Vernehmung eines Mitangeklagten oder eines Zeugen aus dem Sitzungszimmer entfernt (§ 247).

30. Darüber hinaus kann der Angeklagte einer Hauptverhandlung im Revisionsverfahren fernbleiben und sich durch einen Verteidiger vertreten lassen (§ 350 Absatz 2); das Gleiche gilt für eine Hauptverhandlung in einem Verfahren auf erhobene Privatklage (§ 387 Absatz 1) und für eine Hauptverhandlung in Folge seines Einspruchs gegen einen Strafbefehl (§ 411 Absatz 2).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 DER KONVENTION

31. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention, dass das Berufungsgericht in dem gegen ihn geführten Strafverfahren aufgrund seiner Abwesenheit nicht zur Sache verhandelt habe, obwohl sein Anwalt anwesend und bereit gewesen sei, ihn zu verteidigen. Er machte geltend, dass dadurch sein Recht auf Zugang zu den Gerichten, sein Recht auf rechtliches Gehör und sein Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, verletzt worden sei. Artikel 6 der Konvention, soweit maßgeblich, lautet wie folgt:

„1. Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.

3. Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: …

c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen […]“

32. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

33. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

34. Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist in dem Verfahren vor dem Landgericht Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention verletzt worden. Ihm sei das Recht entzogen worden, sich vor diesem Gericht durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen. Er habe die Vernehmung von Zeugen beantragen und weitere Beweisanträge stellen wollen, um darzulegen, dass das erstinstanzliche Urteil falsch gewesen sei, und um einen Freispruch zu erwirken. Die fünf zur Berufungshauptverhandlung geladenen Zeugen seien vom Landgericht jedoch nicht gehört worden.

35. Der Beschwerdeführer brachte vor, der Umstand, dass das Landgericht in Übereinstimmung mit den geltenden Bestimmungen der StPO in seinem Fall nicht zur Sache verhandelt habe, widerspreche der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs. Weder das Bundesverfassungsgericht noch die Regierung hätten dargelegt, dass sich der in Rede stehende Sachverhalt der vorliegenden Individualbeschwerde von den bereits vom Gerichtshof entschiedenen Konstellationen, z. B. in den Rechtssachen Poitrimol ./. Frankreich (23. November 1993, Serie A Band 277-A), Lala ./. Niederlande (22. September 1994, Serie A Band 297-A), Van Geyseghem ./. Belgien ([GK], Individualbeschwerde Nr. 26103/95, ECHR 1999-I), Krombach ./. Frankreich (Individualbeschwerde Nr. 29731/96, ECHR 2001-II) und Kari-Pekka Pietiläinen ./. Finnland (Individualbeschwerde Nr. 13566/06, 22. September 2009) unterscheide, in denen der Gerichtshof einen Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c der Konvention festgestellt habe.

36. In der Rechtssache Van Geyseghem (a. a. O.) beispielsweise sei die Beschwerdeführerin in erster Instanz verurteilt worden, der Berufungshauptverhandlung aber ferngeblieben. Ihr Verteidiger sei anwesend und bereit gewesen, sie vor dem Berufungsgericht zu verteidigen, was ihm jedoch von dem Gericht verwehrt worden sei. Der Gerichtshof habe Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c verletzt gesehen und festgestellt, dass das Recht jeder einer Straftat angeklagten Person, sich effektiv durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, eines der grundlegenden Elemente eines fairen Verfahrens darstelle. Ein Angeklagter verliere dieses Recht nicht, nur weil er an einer Gerichtsverhandlung nicht teilnehme. Gleiches gelte auch im vorliegenden Fall.

37. Der Beschwerdeführer betonte außerdem, dass für die Rechte aus Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c im Berufungsverfahren keine Einschränkungen bestehen würden. Freilich sehe das deutsche Recht nicht in allen Strafverfahren das Recht auf eine zweite Instanz vor. Da es jedoch aufgrund der Umstände in seinem Fall eine zweite Instanz und eine erneute Prüfung der einschlägigen Beweise vorschreibe, hätten die Gerichte auch in dieser Instanz die nach der Konvention garantierten Rechte beachten müssen. Da die deutschen Strafgerichte im Berufungsverfahren die entscheidungserheblichen Tatsachen erneut feststellen müssten, und zwar auf die selbe Weise wie das Gericht erster Instanz, gebe es keine überzeugende Rechtfertigung dafür, im Berufungsverfahren Einschränkungen der Verteidigungsrechte zuzulassen, die in erster Instanz nicht zulässig seien. Die Pflicht des Gerichts, von Amts wegen die formalen Voraussetzungen für die Durchführung des Strafverfahrens beziehungsweise das Vorliegen von Verfahrenshindernissen zu prüfen, gälten für erstinstanzliche Verfahren und Berufungsverfahren gleichermaßen. Ungeachtet dieser Pflicht müsse das Gericht außerdem die Rechte der Verteidigung wahren, so auch das Recht, Beweisanträge und Anträge auf Zeugenvernehmung nicht nur persönlich, sondern durch einen Verteidiger zu stellen.

b) Die Regierung

38. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention nicht verletzt worden ist. Sie unterstrich zunächst, dass die geltenden Vorschriften der Strafprozessordnung die Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger in dem Berufungsverfahren vor dem Landgericht Köln, zu dem er ordnungsgemäß geladen worden sei, nicht vorsähen. Nach § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO habe das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers ohne Verhandlung zur Sache verwerfen müssen. Ein Ausnahmetatbestand sei nicht gegeben gewesen. Insbesondere sei keine Ladung des Beschwerdeführers nach § 232 StPO (siehe Rdnr. 27) mit dem Hinweis erfolgt, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden könne. Vielmehr sei er in der Ladung darauf hingewiesen worden, dass die von ihm eingelegte Berufung ohne Verhandlung zur Sache verworfen werde, wenn er ohne genügende Entschuldigung ausbleibe.

39. Die Regierung trug vor, dass das Recht des Angeklagten, den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten, durch die Vorschrift des § 329 Absatz 1 StPO allenfalls am Rande berührt werde.

Es sei zu beachten, dass der Verteidiger im Berufungsverfahren das Recht gehabt habe, auf fehlende Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift, fehlende Prozessvoraussetzungen oder vorliegende Verfahrenshindernisse hinzuweisen.

40. Ferner verwies die Regierung auf die Begründung des Bundesverfassungsgerichts bei seiner Feststellung, dass ein Verstoß gegen die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c nicht vorgelegen habe. Sie betonte, dass in Deutschland bei einer Berufung in einem Strafverfahren das Berufungsgericht nicht die Aufgabe habe, lediglich etwaige Fehler des erstinstanzlichen Verfahrens zu finden, sondern in einer erneuten öffentlichen mündlichen Verhandlung mit den Parteien eine eigene Beweisaufnahme durchzuführen. Die Anwesenheit des Beschwerdeführers bei dieser Verhandlung sei nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Das Berufungsgericht könne seine Aufgabe der Wahrheitserforschung nicht erfüllen, wenn es keinen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten gewonnen habe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer seine Verhaftung aufgrund eines Haftbefehls in einer anderen Sache befürchtet habe. Es sei Sache des Angeklagten, diesen Konflikt so aufzulösen, wie es ihm günstig erscheine.

41. Außerdem führte die Regierung aus, dass den Urteilen des Gerichtshofs zu der Frage, ob die Verweigerung einer Verhandlung zur Sache in Abwesenheit des Angeklagten trotz Anwesenheit seines Anwalts mit Artikel 6 vereinbar sei, die Gegenstand etlicher Individualbeschwerden gegen andere Vertragsparteien der Konvention gewesen sei, andere Fallkonstellationen zugrunde gelegen hätten als der hier vorliegenden Rechtssache. Diese Fälle seien daher von der vorliegenden Individualbeschwerde zu unterscheiden.

42. Namentlich in den Rechtssachen Poitrimol (a. a. O.), Krombach (a. a. O.) und Lala (a. a. O.) sei gegen die Beschwerdeführer ein erstinstanzliches Abwesenheitsurteil ergangen, bevor ihre Berufung ohne Prüfung in der Sache verworfen worden sei. Im Unterschied dazu sei der Beschwerdeführer in der vorliegenden Sache in seinem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Amtsgericht anwesend gewesen und habe sich persönlich verteidigen können. In der Rechtssache Poitrimol (a. a. O., Rdnr. 38) habe der Gerichtshof ferner die Unzulässigkeit eines Rechtsmittels aus Gründen, die mit der Flucht des Beschwerdeführers zusammenhingen, als eine unverhältnismäßige Sanktion angesehen. Im Gegensatz dazu stehe die Vorschrift des § 329 Absatz 1 StPO in keinem Zusammenhang mit der Flucht eines Angeklagten. Überdies erlaube die Strafprozessordnung dem Angeklagten, die Gründe für sein unentschuldigtes Ausbleiben im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 329 Absatz 3 StPO (siehe Rdnr. 25) oder im Wege der Revision überprüfen zu lassen.

43. Ferner betonte die Regierung, dass sich die vorliegende Rechtssache von den Fällen Van Geyseghem (a. a. O.) und Krombach (a. a. O.) darin unterscheide, dass nach deutschem Recht die Voraussetzungen beziehungsweise Hindernisse für das Strafverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen seien, so dass kein entsprechender Antrag und kein entsprechendes Vorbringen eines Anwalts erforderlich sei. Anderenfalls könne ein Angeklagter gegen die Verwerfung seiner Berufung nach § 329 Absatz 1 StPO Revision einlegen.

44. Die Rechtssache Kari-Pekka Pietiläinen (a. a. O.) schließlich sei ebenso nicht mit der vorliegenden Rechtssache vergleichbar. In jener Rechtssache habe der Gerichtshof den Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c aus den Besonderheiten des Falles hergeleitet. Insbesondere habe der Gerichtshof festgestellt, dass der Angeklagte nicht darauf hingewiesen worden sei, dass sein Fehlen an nur einem Verhandlungstag, an dem überdies keine Notwendigkeit seiner Anwesenheit erkennbar gewesen sei, als Fehlen bei der gesamten Verhandlung gewertet werden würde. Nur aufgrund dieser Umstände habe der Gerichtshof in der Tatsache, dass das Verfahren des Beschwerdeführers trotz der Anwesenheit seines Anwalts nicht weiterverhandelt wurde, eine unangemessene Sanktion gesehen. Im Gegensatz dazu habe es sich bei der vorliegenden Rechtssache um eine auf einen Tag anberaumte Sitzung gehandelt, bei der die Vernehmung aller Zeugen vorgesehen gewesen sei, und der Beschwerdeführer sei in seiner Ladung auf die Folgen seines Ausbleibens hingewiesen worden.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

45. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Erfordernisse nach Artikel 6 Absatz 3 als Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Absatz 1 anzusehen sind. Rügen im Hinblick auf diese Rechte prüft der Gerichtshof daher zusammengefasst nach beiden Bestimmungen (siehe u. a. Poitrimol ./. Frankreich, 23. November 1993, Rdnr. 29, Serie A Band 277-A; und Krombach ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 29731/96, Rdnr. 82, ECHR 2001-II).

46. Der Gerichtshof hatte sich wiederholt mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Angeklagter, der ordnungsgemäß geladen wurde und bewusst auf sein persönliches Erscheinen bei der Verhandlung verzichtet hat, ohne eine als genügend anerkannte Entschuldigung für seine Abwesenheit vorzulegen, nach wie vor beanspruchen kann, sich im Sinne von Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c „durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen“.

47. In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass im Interesse eines fairen Strafverfahrens das Erscheinen eines Angeklagten von größter Bedeutung ist, und zwar sowohl aufgrund seines Rechts auf Gehör als auch wegen der Notwendigkeit, den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu prüfen und mit denen des Opfers, dessen Interessen zu schützen sind, und der Zeugen zu vergleichen (siehe u. a. Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 35; und Krombach, a. a. O., Rdnr. 86). Dies gilt grundsätzlich auch bei einer Neuverhandlung im Berufungsrechtszug (siehe u. a. Lala ./. Niederlande, 22. September 1994, Rdnr. 33, Serie A Band 297-A; und Pelladoah ./. Niederlande, 22. September 1994, Rdnr. 40, Serie A Band 297-B). Der Gesetzgeber muss dementsprechend in der Lage sein, ungerechtfertigten Abwesenheiten entgegenzuwirken (siehe u. a. Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 35; Van Geyseghem ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 26103/95, Rdnr. 33, ECHR 1999-I; und Van Pelt ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 31070/96, Rdnr. 66, 23. Mai 2000).

48. Der Gerichtshof hat allerdings betont, dass es für die Fairness eines Strafrechtssystems ebenfalls von entscheidender Bedeutung ist, dass der Angeklagte angemessen verteidigt wird, und zwar sowohl in der ersten Instanz als auch im Berufungsverfahren (siehe u. a. Lala, a. a. O., Rdnr. 33; Pelladoah, a. a. O., Rdnr. 40; Van Pelt, a. a. O., Rdnr. 66; und Kari-Pekka Pietiläinen ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 13566/06, Rdnr. 31, 22. September 2009).

49. Der Gerichtshof hat stets festgestellt, dass letzteres Interesse hierbei Vorrang hat und demnach das Ausbleiben des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung es auch dann, wenn er keine Entschuldigung dafür hat, nicht rechtfertigt, ihm das Recht zu entziehen, sich nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention durch einen Anwalt verteidigen zu lassen (siehe Lala, a. a. O., Rdnr. 33; Pelladoah, a. a. O., Rdnr. 40; Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 33; Van Pelt, a. a. O., Rdnr. 66; Harizi ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 59480/00, Rdnr. 49, 29. März 2005; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 31).

50. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang betont, dass das Recht jeder einer Straftat angeklagten Person auf wirksame Verteidigung durch einen Rechtsanwalt, gegebenenfalls durch einen Pflichtverteidiger, zwar kein absolutes Recht ist, jedoch eines der wesentlichen Elemente eines fairen Verfahrens darstellt. Eine Person, die einer Straftat angeklagt ist, verliert dieses Recht nicht allein aufgrund ihrer Abwesenheit bei der Verhandlung (siehe Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 34; Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 34; Stroek ./. Belgien, Individualbeschwerden Nr. 36449/97 und 36467/97, Rdnr. 23, 20. März 2001; Goedhart ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 34989/97, Rdnr. 26, 20. März 2001; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 32).

51. Obwohl der Gesetzgeber in der Lage sein muss, unberechtigtem Fernbleiben entgegenzuwirken, kann er ein solches Fernbleiben nicht bestrafen, indem er Ausnahmen vom Recht auf anwaltlichen Beistand schafft. Der berechtigten Forderung nach Anwesenheit des Angeklagten bei der gerichtlichen Verhandlung kann mit anderen Mitteln als durch die Entziehung des Rechts auf Verteidigung Nachdruck verliehen werden (siehe Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 34; Van Pelt, a. a. O., Rdnr. 67; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 32). Es ist Aufgabe der Gerichte, sicherzustellen, dass ein Verfahren fair ist und dass dementsprechend ein Rechtsanwalt, der offensichtlich an der Verhandlung teilnimmt, um einen abwesenden Angeklagten zu vertreten, die Gelegenheit erhält, dies zu tun (siehe u. a. Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 33; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 31).

b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

52. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache rügte, dass er in seinem Recht auf Zugang zu den Gerichten, seinem Recht auf rechtliches Gehör und seinem Recht, sich durch einen Verteidiger verteidigen zu lassen, verletzt worden sei, da ihn sein Anwalt in seiner Abwesenheit nicht habe verteidigen dürfen und die Berufung in seinem Strafverfahren ohne Verhandlung zur Sache verworfen worden sei. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Individualbeschwerde im Wesentlichen eine Frage im Hinblick auf das Recht des Beschwerdeführers, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, aufwirft. Da sich die innerstaatlichen Gerichte geweigert haben, dem Anwalt des Beschwerdeführers die Verteidigung desselben in seiner Abwesenheit zu gestatten, wirft die Rechtssache ferner eine Frage im Hinblick auf den Zugang des Beschwerdeführers zu den Gerichten und die Fairness des Verfahrens auf. Der Gerichtshof prüft daher die Rügen nach Artikel 6 Absatz 1 i. V. m. Absatz 3 Buchstabe c (siehe auch Rdnr. 45).

53. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die vorliegende Rechtssache die Neuverhandlung der Strafsache eines Angeklagten im Berufungsrechtszug betrifft. Nach dem innerstaatlichen Recht war diese Berufungsverhandlung die letzte Instanz, in der die Rechtssache umfassend in Tatsachen- und Rechtsfragen geprüft werden konnte. Dem Anwalt des Beschwerdeführers wurde jedoch nicht gestattet, den Beschwerdeführer in seiner Abwesenheit, für die keine als genügend anerkannte Entschuldigung vorlag, zu vertreten. Die in Rede stehenden Umstände sind folglich vergleichbar mit denen der Rechtssachen Poitrimol (a. a. O., Rdnrn. 28, 32), Lala (a. a. O., Rdnr. 31), Pelladoah (a. a. O., Rdnr. 38), Van Geyseghem (a. a. O., Rdnr. 29), Van Pelt (a. a. O., Rdnrn. 62, 65), Goedhart (a. a. O., Rdnr. 24), Stroek (a. a. O., Rdnr. 21), Harizi (a. a. O., Rdnr. 51) und Kari-Pekka Pietiläinen (a. a. O., Rdnr. 25). In der Rechtssache Krombach durfte sich überdies der Beschwerdeführer in seiner Abwesenheit bei der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht anwaltlich vertreten lassen. Der Gerichtshof hat diesen Fall im Hinblick auf die in den vorgenannten Rechtssachen aufgeworfenen Fragen dennoch für vergleichbar erachtet, da der Beschwerdeführer gleichermaßen nicht zu einer Verhandlung erschienen war, zu der er ordnungsgemäß geladen wurde (a. a. O., Rdnrn. 83, 86).

54. In diesen Rechtssachen, die vier verschiedene Vertragsparteien der Konvention betrafen, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verteidigungsrechte des jeweiligen Beschwerdeführers dem Interesse der Allgemeinheit und des Opfers, dem Fernbleiben des Beschwerdeführers von der Hauptverhandlung entgegenzuwirken, vorgingen. Der berechtigten Forderung nach der Anwesenheit eines Angeklagten bei seiner gerichtlichen Verhandlung müsse daher mit anderen Mitteln als durch die Entziehung des Rechts auf Verteidigung Nachdruck verliehen werden (siehe insbesondere Rdnrn. 49 und 51). Der Gerichtshof hat folglich in allen genannten Rechtssachen eine Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c festgestellt.

55. Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang die Argumentation der Regierung und des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis, dass im deutschen Strafprozessrecht die Anwesenheit des Angeklagten nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht sei, und er daher auf sein Anwesenheitsrecht bei der Verhandlung nicht verzichten könne. Die Anwesenheit und das Auftreten des Beschwerdeführers seien, selbst wenn er von seinem Recht zu schweigen Gebrauch mache, für die Strafgerichte wichtig, um ihrer Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und der gerechten Strafzumessung zu genügen.

56. Der Gerichtshof stellt fest, dass er sich bereits mit vergleichbaren Vorbringen beschwerdegegnerischer Staaten auseinandergesetzt hat. In der Rechtssache Van Geyseghem war beispielsweise von der beschwerdegegnerischen Regierung vorgetragen worden, dass die Anwesenheit des Angeklagten die geordnete Rechtspflege fördere und eine Abstimmung der Strafe auf den Einzelfall ermögliche (a. a. O., Rdnr. 31). Der Gerichtshof hat diese Argumentation gebilligt und betont, wie wichtig das Erscheinen eines Angeklagten für eine faire Rechtspflege sei. Er war jedoch der Ansicht, dass die berechtigte Forderung nach der Anwesenheit des Angeklagten bei der Hauptverhandlung mit anderen Mitteln als durch eine Entziehung seiner Verteidigungsrechte erfüllt werden müsse (a. a. O., Rdnrn. 33, 34).

57. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Regierung vorgetragen hat, die vorgenannten Rechtssachen seien von dem hier vorliegenden Fall zu unterscheiden, da bei ihnen eine andere Sach- oder Rechtslage gegeben gewesen sei.

58. Die Regierung hat zunächst vorgebracht, die den Fällen Poitrimol, Krombach und Lala (alle a. a. O.) zugrunde liegenden Sachverhalte wichen von dem hier in Rede stehenden Sachverhalt ab. Die Beschwerdeführer jener Fälle seien bereits erstinstanzlich in Abwesenheit verurteilt worden. Im Unterschied dazu sei der Beschwerdeführer in der vorliegenden Sache in dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Amtsgericht anwesend gewesen, bevor seine Berufung vom Landgericht ohne weitere Prüfung in der Sache verworfen worden sei.

59. Der Gerichtshof stellt fest, dass in den von der Regierung zitierten Fällen die Verhandlungen gegen die Beschwerdeführer vor den jeweiligen erstinstanzlichen Gerichten in der Tat aus unterschiedlichen Gründen in Abwesenheit der Beschwerdeführer stattfanden. In den anderen oben genannten Fällen erfolgte jedoch die Verhandlung und die Verurteilung durch die erstinstanzlichen Gerichte in Anwesenheit der Beschwerdeführer (siehe insbesondere Pelladoah, a. a. O., Rdnrn. 10-11; Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 12; Van Pelt, a. a. O., Rdnrn. 14-18; und Kari‑Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 6). Folglich ist dieser Unterschied in den Sachverhalten im Hinblick auf die Schlussfolgerung des Gerichtshofs in den obigen Fällen nicht ausschlaggebend gewesen.

60. Der Gerichtshof nimmt weiter das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, dass sich die vorliegende Rechtssache von den Fällen Van Geyseghem und Krombach (a. a. O.) unterscheide, da nach deutschem Recht die Voraussetzungen beziehungsweise Hindernisse für das Strafverfahren von den Gerichten von Amts wegen zu berücksichtigen seien, so dass kein entsprechender Antrag und kein entsprechendes Vorbringen eines Anwalts erforderlich sei.

61. Der Gerichtshof verweist jedoch auf seine Feststellungen in der Rechtssache Van Geyseghem, denen zufolge das Berufungsgericht in diesem Fall von Amts wegen z. B. die Frage der Verjährung – ein mögliches Prozesshindernis – zu prüfen habe (a. a. O., Rdnrn. 31 und 35). Gleichwohl hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang betont, dass der Beistand eines Verteidigers zur Lösung von Streitigkeiten dennoch unabdingbar und sein Auftreten zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte notwendig sei (a. a. O., Rdnr. 35). In der Rechtssache Krombach ist der Gerichtshof ebenfalls der Auffassung gewesen, dass das innerstaatliche Gericht den Anwälten des Beschwerdeführers hätte Gelegenheit geben müssen, ihre Argumente im Hinblick auf eine Rechtsfrage (die eingetretene Rechtskraft und den Grundsatz des `ne bis in idem´ – weitere Hindernisse für das Strafverfahren) vorzutragen, für deren Prüfung es zuständig gewesen wäre (a. a. O., Rdnr. 90). Daraus folgt, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausschlaggebend war, dass die Anwälte der Beschwerdeführer ihre Argumente zu deren Verteidigung – einschließlich rechtlicher Erwägungen beispielsweise zum Vorliegen von Prozesshindernissen – nicht vortragen konnten, unabhängig von der Frage, ob die innerstaatlichen Gerichte diese schon allein von Amts wegen hätten prüfen müssen.

62. Die Regierung hat außerdem vorgebracht, dass es im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen nach der deutschen Strafprozessordnung einem Angeklagten im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder im Wege der Revision möglich sei, die Gründe für sein unentschuldigtes Ausbleiben oder von den Gerichten nicht von Amts wegen berücksichtigte Prozessvoraussetzungen bzw. -hindernisse überprüfen zu lassen.

63. Der Gerichtshof stellt fest, dass in dieser Hinsicht offenbar gewisse Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der beschwerdegegnerischen Staaten in den obigen Fällen bestehen. Zumindest in einigen dieser Staaten sah das Gesetz jedoch, wenn ein Angeklagter eine genügende Entschuldigung für sein Fernbleiben hatte, ohne dies rechtzeitig mitteilen zu können, ein Recht auf Wiederaufnahme (siehe z. B. Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 11), oder, unter bestimmten Voraussetzungen, auf Revision (siehe z. B. Lala, a. a. O., Rdnrn. 12-13; und Van Geyseghem, a. a. O., Rdnrn. 18-20) vor. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass gewisse Unterschiede in dieser Hinsicht ebenfalls keine ausschlaggebende Rolle bei der Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c in seiner bisherigen Rechtsprechung gespielt haben.

64. Ferner trägt das Vorbringen der Regierung, der Gerichtshof habe in der Rechtssache Kari-Pekka Pietiläinen nur aufgrund der besonderen Umstände dieses Falles einen Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c der Konvention festgestellt, nicht. Der Gerichtshof hat in dieser Rechtssache festgestellt, dass die in den oben genannten Fällen festgelegten Grundsätze auf diese Rechtssache anwendbar seien und das innerstaatliche Berufungsgericht verpflichtet gewesen wäre, dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers zu erlauben, diesen zu verteidigen, und zwar auch in seiner Abwesenheit. Seine weitergehenden Ausführungen dahingehend, warum das in diesem Fall „umso mehr gelte“, stellen lediglich eine Bestätigung und Bekräftigung der festgestellten Verletzung dar (a. a. O., Rdnr. 34).

65. Letztlich sind in der dargestellten Rechtsprechung die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs im Hinblick auf den Verfahrensgegenstand nicht von der Frage abhängig gewesen, ob die Unzulässigkeit der Berufung nach innerstaatlichem Recht als eine dem Angeklagten wegen seiner Flucht auferlegte Sanktion gelten musste. Der Gerichtshof merkt jedoch an, dass in einigen der von ihm geprüften Individualbeschwerden gegen die Beschwerdeführer – wie im vorliegenden Fall – vor der Verhandlung, zu der sie nicht erschienen sind, ein Haftbefehl erlassen worden war (siehe z. B. Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 20; Lala, a. a. O., Rdnr. 10; und Goedhart, a. a. O., Rdnr. 10). Auch dieser Umstand ist für die Erwägungen des Gerichtshofs nicht ausschlaggebend gewesen. In diesem Zusammenhang soll auch wiederholt werden, dass ein Angeklagter nicht verpflichtet ist, sich zu stellen, um sich das Recht auf eine (erneute) Verhandlung, die den Voraussetzungen von Artikel 6 der Konvention entspricht, zu sichern (siehe Krombach, a. a. O., Rdnr. 87).

66. Demzufolge sind die in der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnrn. 45-51) festgelegten Grundsätze auf die hier vorliegende Rechtssache anwendbar, die aufgrund der Sachlage oder der Unterschiede im innerstaatlichen Strafrecht nicht von den genannten früheren Fällen unterschieden werden kann.

67. Folglich ist Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention verletzt worden.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

68. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

69. Der Beschwerdeführer forderte 1.500 EUR in Bezug auf den materiellen Schaden. Infolge seiner Verurteilung im Berufungsverfahren habe er diesen Betrag, der die ihm im Berufungsurteil auferlegte Geldstrafe und die Gerichtskosten umfasse, zahlen müssen. Er verlangte überdies 2.000 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden. Der Umstand, dass er keine Möglichkeit zur Korrektur des erstinstanzlichen Urteils gehabt habe, habe ihn belastet.

70. Die Regierung war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer keine Entschädigung fordern könne, da er nicht in seinen Rechten aus der Konvention verletzt worden sei.

71. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass er keine Mutmaßungen darüber anstellen kann, wie das Verfahren vor dem Landgericht ausgegangen wäre, wenn dieses dem Beschwerdeführer gestattet hätte, sich anwaltlich vertreten zu lassen. Folglich weist er die Forderung des Beschwerdeführers in Bezug auf den materiellen Schaden zurück.

72. Der Gerichtshof erkennt ferner an, dass die Nichteinhaltung der Erfordernisse von Artikel 6 durch die innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall durch die bloße Feststellung einer Verletzung nicht wiedergutgemacht werden kann. Unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung setzt der Gerichtshof daher die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer als Entschädigung für den immateriellen Schaden 1.000 EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.

B. Kosten und Auslagen

73. Der Beschwerdeführer forderte außerdem insgesamt 4.500 EUR plus Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent für die in den Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen. Dieser Betrag setze sich zusammen aus 2.000 EUR für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Amtsgericht angefallen seien, 1.000 EUR für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Landgericht angefallen seien, sowie 1.500 EUR für die Rechtsanwaltsgebühren, die in den Verfahren vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht angefallen seien. Zu diesen Beträgen sei die Mehrwertsteuer hinzuzurechnen. Er verlangte außerdem 2.000 EUR plus Mehrwertsteuer für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof.

74. Die Regierung hat zu diesen Forderungen nicht Stellung genommen.

75. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, dem Beschwerdeführer 3.500 EUR zuzüglich der ihm gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzusprechen.

C. Verzugszinsen

76. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention ist verletzt worden;

3. a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:

i) 1.000 EUR (eintausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;

ii) 3.500 EUR (dreitausendfünfhundert Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;

b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für die oben genannten Beträge einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

4. Im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 8. November 2012 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                     Dean Spielmann
Kanzler                                                          Präsident

____________

Gemäß Artikel 45 Absatz 2 der Konvention und Artikel 74 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die abweichende Meinung der Richterinnen Power-Forde und Nußberger beigefügt.

D.S.
C.W.

GEMEINSAME ÜBEREINSTIMMENDE MEINUNG DER RICHTERINNEN POWER‑FORDE UND NUSSBERGER

Wir haben uns bei der Feststellung einer Verletzung der Mehrheit angeschlossen, halten es dessen ungeachtet jedoch für angebracht, die häufig kritisierte und umstrittene Rechtsprechung des Gerichtshofs[1] zu Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention zu überdenken, durch die unserer Meinung nach Staaten zur Einleitung von Strafprozessreformen verpflichtet werden, die weder notwendig noch zweckdienlich sind.

Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention legt als Mindeststandard im Strafprozess fest, dass jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, das Recht hat, „sich selbst zu verteidigen [oder] sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen“.

Während das Recht auf „einen Verteidiger“ offensichtlich darauf abzielt, einem Angeklagten den Beistand eines Rechtsanwalts zuzusichern, hat der Gerichtshof diese Vorschrift als das Recht des Angeklagten ausgelegt, dem Prozess fernzubleiben und durch einen Anwalt ersetzt zu werden. Dies mag im Hinblick auf Rechtsordnungen, in denen das Strafprozessrecht Verfahren in Abwesenheit zulässt und folglich dem Angeklagten nicht das Recht auf rechtliches Gehör zusichert, vertretbar sein, aber dieser Ansatz kann nicht auf Rechtsordnungen übertragen werden, die Verfahren in Abwesenheit nicht zulassen, aber die unentschuldigte Abwesenheit eines Angeklagten bei Verfahren zweiter Instanz mit bestimmten Konsequenzen oder Sanktionen verknüpfen, nachdem die Rechtssache vor dem erstinstanzlichen Gericht bereits umfassend verhandelt worden ist.

Zugegebenermaßen ist es eines der grundlegendsten Elemente der Garantien nach Artikel 6 der Konvention, dass der Angeklagte angehört wird. Auf der anderen Seite muss sich jedoch auch der Angeklagte über die an ihn gerichteten Fragen hinaus auch die Anklage, die Ausführungen der Zeugen und Sachverständigen und – insbesondere – die Darstellungen der Leiden des Opfers anhören. Die persönliche Konfrontation des Angeklagten mit seiner Tat und seiner Schuld und das Bewusstsein der öffentlichen Diskussion darüber muss als Grundvoraussetzung für die wirksame Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft gelten, die das grundlegende Ziel der Bestrafung ist. Der Rechtsanwalt ist zwar in der Lage, in dem Prozess Argumente zur Verteidigung des Angeklagten vorzutragen, aber er kann seinen Mandanten nicht ersetzen. Nimmt der Angeklagte nicht an der Hauptverhandlung teil, in der alle Sach- und Rechtsfragen erörtert werden, geht der Hauptzweck des Prozesses verloren.

Der Gerichtshof hat daher stets betont, dass „das Erscheinen eines Angeklagten vor Gericht von größter Bedeutung ist, und zwar sowohl aufgrund seines Rechts auf Gehör als auch wegen der Notwendigkeit, den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu prüfen und mit denen des Opfers, dessen Interessen zu schützen sind, und der Zeugen zu vergleichen. Der Gesetzgeber muss dementsprechend in der Lage sein, ungerechtfertigten Abwesenheiten entgegenzuwirken“ (siehe Poitrimol ./. Frankreich, 23. November 1993, Rdnr. 35, Serie A Band 277-A).

Wir sind jedoch der Meinung, dass es nicht richtig ist, diese Pflicht des Gesetzgebers, ungerechtfertigten Abwesenheiten entgegenzuwirken, und das Recht des Angeklagten auf angemessene Verteidigung gegeneinander abzuwägen. Dies hieße, keinen Unterschied zwischen dem Recht auf anwaltlichen Beistand und dem Recht auf Abwesenheit von dem Prozess zu machen. Es ist unbestritten, dass der Angeklagte, wäre er zur Hauptverhandlung erschienen, das Recht gehabt hätte, sich „durch einen Verteidiger“ verteidigen zu lassen. Folglich teilen wir die Auffassung des Gerichtshofs, der Angeklagte habe sein Recht auf anwaltlichen Beistand nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention verloren, nicht. Ihm wird lediglich das Recht verwehrt, sich durch einen Anwalt ersetzen zu lassen – ein Recht, das nicht von der Konvention garantiert wird.

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs verblüfft: Aufgrund der vom Angeklagten gewünschten erneuten Verhandlung haben alle zu erscheinen und Zeugen können sogar zur Teilnahme an der Verhandlung verpflichtet werden, während der Angeklagte selbst abwesend sein darf. Es ist schwer vorstellbar, inwiefern eine Wiederholung der vollständigen sachlichen und rechtlichen Prüfung der Rechtssache in zweiter Instanz in Abwesenheit des Angeklagten der Erforschung der Wahrheit und einer gerechten Strafzumessung besser dienen könnte als die gleiche Prüfung in erster Instanz im Beisein des Angeklagten.

_____________

[1] Siehe die abweichenden Meinungen der Richter Ryssdal, Freeland und Lopes Rocha und von Richter Pettiti in Poitrimol ./. Frankreich; Richter Matscher in Lala ./. Niederlande; Richter Pellonpää in Van Geysegheim ./. Belgien; sowie die übereinstimmenden Meinungen der Richterinnen und Richter Wildhaber, Palm, Rozakis, Türmen und Bîrsan in Van Geysegheim ./. Belgien, die sich alle kritisch zur Auslegung von Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention äußern.

Zuletzt aktualisiert am Juli 22, 2021 von eurogesetze

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