RUDAT gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 49601/07

FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 49601/07
R. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 27. November 2012 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern

André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger,
Aleš Pejchal,

sowie Stephen Phillips, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 7. November 2007 erho­ben wurde,

unter Berücksichtigung der förmlichen Erklärungen, mit denen eine gütliche Einigung in der Rechtssache angenommen wird,

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

Die 19… geborene Beschwerdeführerin, Frau R., ist deutsche Staatsangehö­rige und in Berlin wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn S., Rechtsanwalt in Berlin, vertreten. Die beschwerdegegnerische Regierung wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Hans-Jörg Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.

A. Die Umstände des Falls

Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusam­menfassen.

1974 wurde die Beschwerdeführerin von ihrem ersten Ehemann geschieden.

1977 ging sie eine zweite Ehe mit einem anderen Mann ein, von dem sie 1987 geschie­den wurde.

Am 11. November 1996 beantragte die Beschwerdeführerin die Gewährung einer Hinter­bliebenenrente nach ihrem ersten Ehemann, der im Oktober 1996 verstorben war.

Am 17. Januar 1997 lehnte die vormalige Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (heute: Deutsche Rentenversicherung Bund) die Gewährung der beantragten Rente ab. Am 20. Mai 1997 wies sie den Widerspruch der Beschwerdeführerin zurück.

Am 3. September 1999 wies das Sozialgericht Berlin die Klage der Beschwerdeführerin ab. Das Gericht war der Auffassung, dass einer geschiedenen Ehefrau ein Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente nicht zustehe, wenn sie zu Lebzeiten ihres früheren Ehemannes wieder geheiratet habe. In diesem Fall würden die Unterhalts- bzw. Rentenansprüche ge­genüber dem früheren Ehemann erlöschen und durch die Ansprüche gegenüber dem späte­ren Ehemann ersetzt. Nach § 243 Abs. 4 Sozialgesetzbuch VI (siehe “B. Das einschlägige innerstaatliche Recht“) bestehe zwar ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente für Ehegatten, die erneut heirateten, aber deren erneute Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt worden sei, doch komme diese Regelung nur dann zur Anwendung, wenn die erneute Ehe erst nach dem Tod des früheren Ehegatten geschlossen worden sei.

Am 28. März 2000 wies das Landessozialgericht Berlin den Antrag der Beschwerdeführe­rin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren mangels Erfolgsaus­sicht zurück. Am 11. Oktober 2000 wies es die Berufung zurück.

Am 17. August 2001 wurde die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Nichtzu­lassung der Revision vom Bundessozialgericht als unzulässig verworfen.

Am 21. September 2001 erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (1 BvR 1649/01).

Am 21. Mai 2007 entschied das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Es war der Auffassung, dass für eine Differenzierung zwischen geschiedenen Ehefrauen, die sich noch zu Lebzeiten ihres früheren Ehemannes wieder verheirateten, und solchen, die dies nicht taten, sachliche Gründe vorlägen. Die Wit­wenrente oder Witwerrente an geschiedene Ehegatten diene als Ersatz für nach dem Tod des früheren Ehegatten ausfallende Unterhaltszahlungen.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

Nach § 243 Abs. 1 bis 3 Sozialgesetzbuch VI (SGB) besteht für den hinterbliebenen Ehe­gatten Anspruch auf Witwenrente oder Witwerrente, wenn – u. a. – die Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden wurde und er oder sie nicht wieder geheiratet hat.

Nach § 243 Abs. 4 SGB bestehen dieselben Rentenansprüche auch für hinterbliebene Ehegatten, die wieder geheiratet haben, wenn deren erneute Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt wurde. Die Gerichte legen die Regelung des § 243 Abs. 4 SGB eher eng aus und be­schränken sie auf Ehegatten, die erst nach dem Tod ihres früheren Ehegatten wieder gehei­ratet haben. Zur Begründung verweisen sie auf die Vorgängerregelung in der ehemaligen Reichsversicherungsordnung und die Grundvorschrift über die Gewährung von Witwenrente und Witwerrente (siehe z. B. Bundessozialgericht, Az.: B 5 RJ 39/03, Entscheidung vom 20. Oktober 2004).

RÜGEN

Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügte die Beschwerdeführerin die Verfahrensdauer vor den Sozialgerichten und vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die Beschwerdeführerin rügte außerdem nach den Artikeln 4, 7, 8, 12, 13, 14 und 17 der Konvention, dass ihr ein Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente nicht zustehe, weil sie sich noch zu Lebzeiten ihres früheren Ehemannes wieder verheiratet habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

1. Die Beschwerdeführerin brachte vor, die Dauer des Verfahrens sei überlang gewesen und stelle somit einen Verstoß gegen das Gebot der „angemessenen Frist“ nach Artikel 6 Abs. 1 dar, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem … Gericht … innerhalb angemessener Frist ver­handelt wird.“

Am 8. März 2012 legte die beschwerdegegnerische Regierung eine Vereinbarung über eine gütliche Einigung vor, die vom Verfahrensbevollmächtigten der Regierung am 29. Februar 2012 und vom Rechtsbeistand der Beschwerdeführerin am 1. März 2012 unter­schrieben worden war. Der Verfahrensbevollmächtigte der Regierung teilte dem Gerichtshof mit Schreiben vom 8. März 2012 mit, dass mit der gütlichen Einigung alle Ansprüche im Hin­blick auf eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Frist (Art. 6 der Konvention) abgegolten seien und dass die Beschwerdeführerin im Hinblick auf die übrigen Rügen (Art. 4, 7, 8, 12, 13, 14 und 17) die Beschwerde aufrechtzuerhalten wün­sche.

Am 15. März 2012 legte die Regierung die englische Fassung der Vereinbarung über eine gütliche Einigung vor, die wie folgt lautet:

Gütliche Einigung in der Individualbeschwerde Nr. 49601/07

R. ./. Bundesrepublik Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch ihren VerfahrensbevollmächtigtenError! Missing test condition. im Bundes­ministerium der Justiz, Mohrenstraße 37, 10117 Berlin, sowie die Beschwerdeführerin R. schließen im Zusammenhang mit der von der Beschwerdeführerin vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhobenen Individualbeschwerde Nr. 49601/07 folgende Verein­barung (gütliche Einigung):

1. Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich, an die Beschwerdeführerin als Ausgleich der immateriellen Schäden der überlangen Verfahrensdauer einen Betrag in Höhe von 7.500,00 EUR sowie zum Ausgleich der materiellen Schäden der überlangen Verfahrensdauer einen Be­trag von 2.190,20 EUR, also gesamt 9.690,20 EUR zu bezahlen. Als Nachweis für die Zahlung genügt die Kopie der Auszahlungsanordnung des Bundesamts für Justiz an die zuständige Bun­deskasse.

2. Der Betrag ist zahlbar innerhalb von drei Monaten, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aufgrund der gütlichen Einigung nach Artikel 39 EMRK in Verbindung mit Artikel 75 Abs. 4 und Artikel 43 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung entschieden hat, die Rechtssache aus seinem Register zu streichen.

3. Die Parteien sind sich einig, dass mit diesem Vergleich sämtliche Ansprüche im Zusammen­hang mit der überlangen Verfahrensdauer abgegolten sind.

4. Der Verfahrensbevollmächtigte der Bundesrepublik Deutschland wird diese Vereinbarung dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mitteilen.“

Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen und die besonderen Umstände der Rechtssache ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde im Hinblick auf die Rüge der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Verfahrensdauer nicht länger gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention). Der Gerichtshof ist überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, diesbezüglich keine weitere Prüfung der Individualbeschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1, in fine). Nach alledem ist es angezeigt, die Rechtssache nach Artikel 39 Abs. 3 der Konvention im Register zu streichen.

2. Im Hinblick auf die übrigen Rügen der Beschwerdeführerin stellt der Gerichtshof – unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die ge­rügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen – fest, dass es keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Frei­heiten gibt.

Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Ar­tikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig wie folgt:
Die Beschwerde hinsichtlich der Rügen der Beschwerdeführerin wegen der Verfahrensdauer wird im Register gestrichen, und die übrigen Rügen der Beschwerdeführerin nach den Artikeln 4, 7, 8, 12, 13, 14 und 17 der Konvention werden für unzulässig erklärt.

Stephen Phillips                                       André Potocki
Stellvertretender Kanzler                             Präsident

Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze

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