Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FIFTH SECTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 13240/15
M.
gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 21. Februar 2017 als Ausschuss mit den Richtern
Faris Vehabović, Präsident,
Carlo Ranzoni,
Lәtif Hüseynov,
und Anne-Marie Dougin, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 7. März 2015 eingelegt wurde, die Stellungnahme der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderung des Beschwerdeführers,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, M., ist deutscher Staatsangehöriger und in W. wohnhaft.
2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
A. Die Umstände der Rechtssache
3. Der Sachverhalt, so wie er von den Parteien vorgebracht wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen.
4. Der 20.. geborene Sohn des Beschwerdeführers lebt bei seiner Mutter, die das alleinige Sorgerecht hat. Von 2010 bis 2011 hatte der Beschwerdeführer aufgrund einer vom Familiengericht Potsdam getroffenen Umgangsregelung regelmäßig Umgang mit seinem Sohn. Er sah seinen Sohn an jedem zweiten Wochenende und an jedem Mittwoch.
5. Am 26. Mai 2011 änderte das Familiengericht, nachdem es eine Verfahrenspflegerin für das Kind bestellt hatte, seine Umgangsregelung von 2010 dahingehend ab, dass dem Beschwerdeführer ein begleiteter Umgang gestattet wurde, und zwar an jedem zweiten Samstag von 10.00 Uhr bis 16.00 Uhr.
6. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer am 31. Mai 2011 Beschwerde ein.
7. Am 26. Juni 2011 hörte der 3. Senat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts („das Gericht)“ beide Eltern und das Kind an. Am 27. Juni 2011 ordnete es die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage an, ob es in der Person des Beschwerdeführers liegende Gründe gebe, aus denen ein unbegleiteter Umgang mit ihm das Kindeswohl gefährde, und bestellte eine Sachverständige. Am 4. Juli 2011 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung des Gerichtsbeschlusses vom 27. Juni und eine Protokollberichtigung. Er erklärte ferner, dass er eine ärztliche Begutachtung ablehne. Das Gericht entschied drei Tage später über die beiden Anträge und übersandte die Verfahrensakte an die Sachverständige. Am 10. Juli 2011 erhob der Beschwerdeführer gegen den Gerichtsbeschluss vom 27. Juni 2011 Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht des Landes Brandenburg.
8. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der Sachverständigen bestellte das Gericht am 27. Juli 2011 eine neue Sachverständige und unterrichtete sie über die in dem Verfahren anvisierte Vorgehensweise. Am 14. September 2011 teilte die Sachverständige dem Gericht mit, dass der Beschwerdeführer eine ärztliche Begutachtung ablehne und ein Sachverständigengutachten daher nicht erstattet werden könne. Am 12. Oktober 2011 leitete das Gericht den Schriftsatz der Sachverständigen zur Stellungnahme an die Parteien weiter.
9. Nachdem der Beschwerdeführer Strafanzeige erstattet hatte, übermittelte das Gericht auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft die Verfahrensakte für zwei Wochen an die Staatsanwaltschaft.
10. Am 16. November 2011 bestimmte es einen Anhörungstermin auf den 16. Januar 2012.
11. Am 5. Dezember 2011 lehnte der Beschwerdeführer die Richter L., J., N., T. und K. des 3. Senats der Gerichts wegen Besorgnis der Befangenheit ab; am 7. Dezember 2011 rügte er die Verzögerung des Verfahrens. Am 16. Dezember 2011 rügte er zudem die Verzögerung des Verfahrens bezüglich seines Ablehnungsgesuchs gegen den 3. Senat. Bis zum 4. Januar 2012 lagen die dienstlichen Äußerungen aller Richter des 3. Senats zu den Ablehnungsgesuchen vor, die zur Stellungnahme an die Parteien weitergeleitet wurden.
12. Am 18. Januar 2012 legte der Beschwerdeführer außerordentliche Beschwerde gegen sämtliche Entscheidungen des Gerichts vom 5. Januar 2012 hinsichtlich drei weiterer bei diesem Gericht anhängiger Verfahren ein und lehnte die Richter N., R. und G. wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Am 12. Februar und 26. April 2012 rügte der Beschwerdeführer erneut die Verzögerung des Verfahrens, sowohl hinsichtlich des Umgangsverfahrens als auch seines Ablehnungsgesuchs. Am 23. Februar 2012 verlangte das Gericht eine Klarstellung, auf welche Richter sich das Ablehnungsgesuch vom 18. Januar 2012 beziehe.
13. Am 26. April 2012 wies der 2. Senat des Gerichts das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers gegen den 3. Senat zurück (siehe Rdnr. 11).
14. Am 10. Mai 2012 erhob der Beschwerdeführer Gehörsrüge. Am 11. Mai 2012 wurde die Verfahrensakte dem 2. Senat zur Entscheidung zugeleitet.
15. Am 15. Juni 2012 rügte der Beschwerdeführer erneut die Verzögerung des Umgangsverfahrens.
16. Am 29. Juni 2012 beantragte der Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung bezüglich des Umgangs und behauptete, dass der begleitete Umgang seinen Sohn von ihm entfremde.
17. Am 15. Juli 2012 rügte der Beschwerdeführer die Verzögerung des Verfahrens.
18. Am 26. Juli 2012 wies der 2. Senat die Rüge zurück, nachdem er von den Verfahrensbeteiligten Stellungnahmen zu der Gehörsrüge des Beschwerdeführers vom 10. Mai 2012 eingeholt hatte.
19. Am 31. Juli 2012 teilte der Vorsitzende des 3. Senats den Verfahrensbeteiligten mit, dass zunächst von einer Terminierung abgesehen werde, da der Beschwerdeführer bereits angekündigt habe, dass er eine weitere Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht des Landes Brandenburg erheben werde, was er im Anschluss auch tat (siehe Rdnr. 22).
20. Am 7. August 2012 teilte der Beschwerdeführer dem Gericht mit, dass er ein weiteres Ablehnungsgesuch gegen die Richter L., J., N., R., B., L.-K-., No. und W. stellen werde, was er am 23. August 2012 tat. Er behauptete, der 3. Senat sei wegen des verzögerten Verfahrens und der 2. Senat wegen seiner verzögerten Bearbeitung seines ersten Ablehnungsgesuchs befangen.
21. Zwischen dem 29. August und dem 10. September 2012 legten die abgelehnten Richter ihre dienstlichen Äußerungen vor. Am 12. und 16. September 2012 ergänzte der Beschwerdeführer seine Ablehnungsgesuche, nahm sie jedoch am 22. September 2012 zurück.
22. Am 1. Oktober 2012 erhob der Beschwerdeführer eine weitere Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgericht des Landes Brandenburg betreffend die Entscheidungen des Gerichts vom 26. April 2012 und 26. Juli 2012 (siehe Rdnrn. 13 und 18).
23. Am 4. Oktober 2012 wurden die dienstlichen Äußerungen der Richter zur Stellungnahme an die Verfahrensbeteiligten versandt.
24. Am 31. Oktober 2012 rügte der Beschwerdeführer erneut die Verzögerung des Verfahrens bezüglich seines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und seines Ablehnungsgesuchs. Zudem lehnte er einen weiteren Richter (Richter H.) wegen Besorgnis der Befangenheit ab.
25. Am 1. November 2012 hielt der 3. Senat eine mündliche Verhandlung als unaufschiebbare Handlung nach § 47 Zivilprozessordnung ab (siehe Rdnr. 50). Es stellte fest, dass keine unaufschiebbare Entscheidung zu treffen sei.
26. Am 2. November 2012 ergänzte der Beschwerdeführer seine Ablehnungsgesuche.
27. Zwischen dem 16. und 23. November 2012 legten die von diesen ergänzten Ablehnungsgesuchen betroffenen Richter ihre dienstlichen Äußerungen vor.
28. Am 22. November 2012 ergänzte der Beschwerdeführer seine Ablehnungsgesuche erneut. Am 26. November 2012 legten die von diesen weiteren Ergänzungen betroffenen Richter ihre dienstlichen Äußerungen vor. Sie wurden am 27. November 2012 an die Verfahrensbeteiligten versandt, die am 30. November 2012 dazu Stellung nahmen.
29. Am 10. Dezember 2012 wies der 3. Senat die Ablehnungsgesuche gegen die Richter W., R., B., Dr. L.-K. und No. zurück (siehe Rdnr. 20).
30. Am 20. Dezember 2012 legte der Beschwerdeführer Gehörsrüge gegen den Beschluss vom 10. Dezember 2012 ein, die am 4. Februar 2013 zurückgewiesen wurde.
31. Am 13. Februar 2013 wies der 2. Senat des Gerichts das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers gegen die Richter L., J., N. und H. zurück (siehe Rdnrn. 20 und 24).
32. Am 18. Februar 2013 legte der Beschwerdeführer Besetzungsrüge gegen den 2. Senat hinsichtlich der Zurückweisung seines Ablehnungsgesuchs ein, die wiederum am 13. März 2013 zurückgewiesen wurde.
33. Am 18. März 2013 teilte der Beschwerdeführer dem Gericht mit, dass er sich vom 22. März bis zum 7. April und vom 26. April bis zum 26. Mai 2013 nicht in Deutschland aufhalten werde, und beantragte, in diesem Zeitraum keine Termine abzuhalten. In dieser Zeit entschied das Gericht über die Kosten der Sachverständigen. Am 9. April 2013, also zwischen seinen beiden Abwesenheitszeiten, rügte der Beschwerdeführer die Verzögerung des Umgangsverfahrens.
34. Am 6. Mai 2013 beantragte die Verfahrensbeiständin des Kindes die Entbindung von ihrer Aufgabe. Der Antrag wurde den Verfahrensbeteiligten zur Stellungnahme zugeleitet. Am 2. Juni 2013 äußerte sich der Beschwerdeführer zu dem Antrag der Verfahrensbeiständin und rügte die Verzögerung des Umgangsverfahrens. Am 3. Juni 2013 entband das Gericht nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten die Verfahrenspflegerin und bestellte einen neuen Verfahrensbeistand. Der Beschwerdeführer legte Beschwerde gegen den neuen Verfahrensbeistand ein.
35. Am 17. Juni 2013 lehnte der Beschwerdeführer den Vorsitzenden Richter L. des 3. Senats und am 5. Juli 2013 die Richter J. N. und S dieses Senats wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Am 5., 6., 9. und 16. Juli 2013 ergänzte der Beschwerdeführer seine Ablehnungsgesuche, fügte am 1. August 2013 weitere Stellungnahmen hinzu und stellte ein weiteres Ablehnungsgesuch gegen die Richter L., J. und N.
36. Am 22. August 2013 wies das Gericht das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers gegen die beiden Richter des 3. Senats vom 5. Juli 2013 zurück (siehe Rdnr. 35).
37. Am 20. September 2013 wies das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 1. Oktober 2012 zurück (siehe Rdnr. 22).
38. Am 25. September 2013 rügte der Beschwerdeführer bei dem Gericht erneut die Verzögerung des Umgangsverfahrens.
39. Am 30. September 2013 wies das Gericht den Antrag des Beschwerdeführers vom 1. August 2013 zurück.
40. Am 6. November 2013 wies der 2. Senat des Gerichts das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers vom 17. Juni 2013 zurück (siehe Rdnr. 35).
41. Am 19. Januar 2014 rügte der Beschwerdeführer erneut die Verzögerung des Umgangsverfahrens.
42. Am 23. Januar 2014 bestimmte das Gericht einen Anhörungstermin auf den 3. April 2014, zu dem die Sachverständige geladen war. Am 18. Februar 2014 teilte das Gericht dem Beschwerdeführer mit, dass es die Sachverständige gefragt habe, ob sie das Gutachten auch ohne ärztliche Begutachtung des Beschwerdeführers erstellen könne. Am 28. Februar 2014 lehnte der Beschwerdeführer die Sachverständige wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Ferner teilte er dem Gericht mit, dass er sich vom 18. April bis zum 11. Mai 2014 im Urlaub befinden werde, und beantragte, während seiner Abwesenheit keinen Termin abzuhalten. Am 20. März 2014 nahm die Sachverständige förmlich Stellung. Am 13. und 14. Mai 2014 ergänzte der Beschwerdeführer sein Ablehnungsgesuch gegen die Sachverständige.
43. Am 4. Juni 2014 wies das Gericht das Ablehnungsgesuch gegen die Sachverständige vom 28. Februar 2014 zurück, nachdem es die Stellungnahme der Sachverständigen an die Verfahrensbeteiligten versandt und deren Stellungnahmen eingeholt hatte. Am 17. Juli 2014 forderte das Gericht die Sachverständige auf, das Gutachten ohne Exploration des Beschwerdeführers fertig zu stellen.
44. Am 4. August 2014 erhob der Beschwerdeführer u. a. Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, und zwar gegen die Entscheidungen des Oberlandesgerichts vom 27. Juni 2011, 27. Juli 2011 und 4. Juni 2014.
45. Am 30. August 2014 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 2174/14).
46. Am 8. September 2014 legte die Sachverständige ihr Gutachten vor, das an die Verfahrensbeteiligten versandt wurde. Der Beschwerdeführer beantragte zwei Fristverlängerungen für seine Stellungnahme zu dem Gutachten, zunächst bis zum 10. November 2014 und dann bis zum 30. Dezember 2014; diese wurden gewährt.
47. Am 26. Februar 2015 wies das Gericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Familiengerichts Potsdam vom 26. Mai 2011 zurück.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
48. Nach § 44 Zivilprozessordnung hat sich ein abgelehnter Richter über den Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern.
49. Nach § 45 Zivilprozessordnung entscheidet über das Ablehnungsgesuch das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung.
50. Nach § 47 Zivilprozessordnung hat ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub gestatten.
RÜGE
51. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass das Familiengericht das Verfahren nicht mit der gebotenen besonderen Sorgfalt betrieben habe. Insbesondere habe es zu spät über seine Ablehnungsgesuche entschieden.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
52. Der Beschwerdeführer trug vor, dass das Brandenburgische Oberlandesgericht seinen positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 der Konvention nicht nachgekommen sei, weil es das familienrechtliche Verfahren nicht mit der gebotenen besonderen Sorgfalt geführt habe. Artikel 8, soweit maßgeblich, lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres […] Familienlebens […]“
53. Die Regierung wies diesen Vorwurf zurück. Sie trug vor, das Gericht habe das Verfahren nicht zügiger führen können, weil der Beschwerdeführer sieben Ablehnungsgesuche gestellt und diese mehrfach ergänzt habe. Die Richter seien nach deutschem Recht verpflichtet gewesen, sich zu jedem Ablehnungsgesuch und zu jeder Ergänzung dienstlich zu äußern. Ferner habe er den Fortgang des Verfahrens durch eine Vielzahl von Beschwerden, Gehörsrügen, Verzögerungsrügen und Strafanzeigen behindert. Über alle diese habe entschieden werden müssen und sie hätten die Verfahrensakte, die schließlich über 3000 Seiten umfasst habe, nahezu undurchschaubar gemacht.
54. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des „Familienlebens“ im Sinne von Artikel 8 der Konvention darstellt (siehe u. a. Monory ./. Rumänien und Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 71099/01, Rdnr. 70, 5. April 2005). Obwohl das wesentliche Ziel des Artikels 8 darin besteht, den Einzelnen vor willkürlichen Maßnahmen von staatlicher Seite zu schützen, gibt es darüber hinaus auch positive Schutzpflichten, die mit einer wirksamen „Achtung“ des Familienlebens verbunden sind. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die positiven Verpflichtungen eines Staates nach Artikel 8 der Konvention bedeuten, dass eine ineffektive, insbesondere verzögerte Durchführung eines Sorgerechtsverfahrens zu einer Verletzung dieser Vorschrift führen kann (siehe Z. ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 43155/05, Rdnr. 142, 30. November 2010, und V.A.M. ./. Serbien, Individualbeschwerde Nr. 39177/05, Rdnr. 146, 13. März 2007).
55. Was die vorliegende Rechtssache anbelangt, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass sich das in Rede stehende Verfahren mit der Frage befasste, ob der Beschwerdeführer einen Anspruch auf unbegleiteten Umgang mit seinem Kind hatte. Es fällt somit in den Anwendungsbereich von Artikel 8 der Konvention. Das Verfahren begann mit der Beschwerde, die der Beschwerdeführer am 31. Mai 2011 gegen die Entscheidung des Familiengerichts Potsdam vom 26. Mai 2011 über die Abänderung seiner Umgangsregelung von 2010 einlegte, und endete am 26. Februar 2015 mit der Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts über diese Beschwerde. Das Verfahren vor dem Gericht dauerte somit drei Jahre und neun Monate in einer Instanz.
56. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass das Umgangsverfahren vor dem Oberlandesgericht erhebliche Zeit dauerte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Beschwerde des Beschwerdeführers die Entscheidung des Familiengerichts betraf, ihm nur begleiteten und nicht wie zuvor unbegleiteten Umgang mit seinem Kind zu gestatten, ist der Gerichtshof ferner der Auffassung, dass sich das Verfahren erheblich auf das Familienleben des Beschwerdeführers auswirkte. Für die innerstaatlichen Behörden bestand daher eine positive Verpflichtung, das Verfahren mit besonderer Sorgfalt zu führen (vgl. Prodělalová ./. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 40094/08, Rdnr. 62, 20. Dezember 2011).
57. Was die positive Verpflichtung des Gerichts angeht, das Umgangsverfahren zu beschleunigen, stellt der Gerichtshof fest, dass das Umgangsverfahren in der vorliegenden Rechtssache wiederholt zum Stillstand kam, weil der Beschwerdeführer die Richter des 2. und 3. Senats mehrfach wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte und seinen diesbezüglichen Vortrag mehrfach ergänzte. Der Gerichtshof weist insoweit erneut auf seine gängige Herangehensweise im Zusammenhang mit Artikel 6 hin, wonach einem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden kann, die nach dem innerstaatlichen Recht zur Verfügung stehenden Rechtsmittel voll auszuschöpfen, um seine Interessen zu verteidigen (siehe Prizzia ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 20255/12, Rdnr. 43, 11. Juni 2013, und Skorobogatova ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 33914/02, Rdnr. 47, 1. Dezember 2005), und er hält es für angemessen, dieser Herangehensweise auch unter den vorliegenden Umständen zu folgen.
58. Dennoch muss er in der vorliegenden Rechtssache die Anzahl der von dem Beschwerdeführer gestellten Ablehnungsgesuche sowie deren mehrfache Ergänzungen zur Kenntnis nehmen. Sie trugen erheblich dazu bei, dass das Gericht das Verfahren nicht zügig führen konnte, denn nach § 44 Zivilprozessordnung (siehe Rdnr. 47) hat sich ein abgelehnter Richter zu dem Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern. Aufgrund der Vielzahl an Ablehnungsgesuchen, der Tatsache, dass sie hintereinander gestellt und danach ergänzt wurden, bestand für die abgelehnten Richter eine ständige Verpflichtung, sich dienstlich zu äußern. Darüber hinaus durften die betreffenden Richter gemäß § 47 Zivilprozessordnung (siehe Rdnr. 50) vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vornehmen, die keinen Aufschub gestatteten. Sie waren also nicht berechtigt, das Verfahren zu beschleunigen. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass der 3. Senat des Gerichts am 1. November 2012 gemäß § 47 eine Verhandlung als Handlung, die keinen Aufschub gestattete, durchführte, um darüber zu befinden, ob etwaige sofortige Handlungen erforderlich waren.
59. Ferner griff der Beschwerdeführer erfolglos die Bestellung der Verfahrensbeiständin des Kindes an und lehnte erfolglos die Sachverständige wegen Besorgnis der Befangenheit ab.
60. Obwohl der Beschwerdeführer das Recht hatte, diese Beanstandungen geltend zu machen und zu ergänzen, mussten mehrere dienstliche Äußerungen eingeholt und mehrere Zwischenentscheidungen getroffen werden, weshalb es nicht in der Macht des Gerichts stand, das Verfahren zu beschleunigen.
61. Der Gerichtshof nimmt auch zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer das Gericht bat, während seiner Abwesenheitszeiten vom 22. März bis zum 7. April und vom 26. April bis zum 26. Mai 2013 sowie vom 18. April bis zum 11. Mai 2014 keine Termine anzuberaumen, und er zweimal um Verlängerung der festgelegten Frist, jeweils um vier Wochen, ersuchte. Es ist nicht ersichtlich, dass das Gericht während dieser Zeiträume etwas hätte tun können, um das Verfahren zu beschleunigen.
62. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens alle zwei Wochen – wenn auch begleiteten – Umgang mit seinem Sohn hatte.
Im Lichte der in seiner Rechtsprechung festgelegten Kriterien und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falls befindet der Gerichtshof, dass das Verfahren zwar erhebliche Zeit dauerte, die Verfahrensführung durch das Brandenburgische Oberlandesgericht aber keine Anzeichen für eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention erkennen lässt.
63. Daraus folgt, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 16. März 2017.
Anne-Marie Dougin Faris Vehabović
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
Schreibe einen Kommentar