Gericht: VG Berlin 1. Kammer
Entscheidungsdatum: 21.05.2021
Aktenzeichen: 1 L 271/21
ECLI: ECLI:DE:VGBE:2021:0521.1L271.21.00
Dokumenttyp: Beschluss
Einstweiliger Rechtsschutz gegen Maßnahmen zum Infektionsschutz
Orientierungssatz
1. Die zuständige Behörde kann die Durchführung einer Versammlung beschränken oder verbieten oder auflösen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahme erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. (Rn.6)
2. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz zentraler Rechtsgüter wie das Grundrecht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit. (Rn.7)
3. Die jederzeitige Wahrung eines Mindestabstandes von 1,5 Metern von Personen zueinander ist einer der elementarsten Punkte zur Vermeidung einer weiteren Infektionsausbreitung des SARS-CoV-2-Virus. (Rn.11)
Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1. Der Antrag,
2. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Verbotsbescheid des Antragsgegners vom 19. Mai 2021 wiederherzustellen,
3. hat keinen Erfolg. Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist unbegründet.
4. 1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides genügt den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Vorschrift, nach der das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen ist, normiert formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts; ob die Erwägungen der Behörde auch inhaltlich zutreffen, ist im Rahmen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unbeachtlich. Die Begründung darf zwar nicht bloß formelhaft, sondern muss einzelfallbezogen sein. Allerdings belegen bei Maßnahmen der Gefahrenabwehr – zu denen auch der Erlass von Auflagen nach dem Versammlungsgesetz gehört (vgl. Beschluss der Kammer vom 5. Juni 2019, VG 1 L 179.19, juris, Rn. 35) – die den Erlass des Bescheides rechtfertigenden Gründe in der Regel zugleich die Dringlichkeit der Vollziehung (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Juni 2009 – OVG 1 S 97.09, juris, Rn. 3). Gemessen daran wird die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Begründung den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gerecht. Der Antragsgegner hat das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung damit begründet, dass wegen der unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Ausgang eines eventuellen Rechtsstreits nicht abgewartet werden könne. Bei Durchführung der Versammlung seien elementarste Rechtsgüter in erheblichem Umfang in Gefahr oder verletzt, insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Damit nimmt der Antragsgegner außerdem in zulässiger Weise auf die vorausgehende ausführliche Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles aus der Begründung der Verbotsverfügung Bezug. In ausreichendem Maße hat er damit zudem deutlich und einzelfallbezogen hervorgehoben, dass er sich des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst war.
5. 2. Das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Bescheides überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorerst von der Vollziehung verschont zu bleiben. Denn die Verbotsverfügung erweist sich bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und allein gebotenen summarischen Prüfung als materiell rechtmäßig. Zudem besteht auch ein besonderes Vollziehungsinteresse.
6. Gemäß § 14 Abs. 1 Versammlungsfreiheitsgesetz Berlin (VersFG BE) kann die zuständige Behörde die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel beschränken oder verbieten und die Versammlung nach deren Beginn auflösen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahme erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Die Vorschrift, die § 15 Abs. 1 VersammlG ersichtlich nachgebildet ist, setzt die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die sich namentlich aus der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben (siehe hierzu Gesetzesbegründung des Abgeordnetenhauses von Berlin, Drs. 18/2764, S. 39 f.), in Landesrecht um. Deshalb ist es zulässig, zur Auslegung des § 14 Abs. 1 VersFG BE auf die Literatur und Rechtsprechung zu § 15 Abs. 1 VersammlG zurückzugreifen. Der Antragsgegner hat die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 VersFG zu Recht bejaht (Beschlüsse der Kammer vom 24. März 2021 – VG 1 L 204/21, juris, Rn. 13 und 21. April 2021 – VG 1 L 236/21, juris, Rn. 6).
7. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit in § 14 Abs. 1 VersFG BE umfasst u.a. den Schutz zentraler Rechtsgüter wie das Grundrecht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Es steht im Grundsatz außer Zweifel, dass zu dessen Schutz Eingriffe in die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt sein können. Insoweit trifft den Staat überdies eine grundrechtliche Schutzpflicht, in deren Kontext auch zahlreiche zur Bekämpfung der gegenwärtig andauernden Covid-19-Pandemie von Bund, Ländern und Gemeinden ergriffene Infektionsschutzmaßnahmen stehen. Unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der insbesondere die Beachtung sämtlicher Umstände des Einzelfalls einschließlich des aktuellen Stands des dynamischen und tendenziell volatilen Infektionsgeschehens erforderlich macht, können zum Zweck des Schutzes vor Infektionsgefahren auch versammlungsbeschränkende Maßnahmen ergriffen werden. Dazu gehören grundsätzlich auch Versammlungsverbote, die allerdings nur verhängt werden dürfen, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen und soweit der hierdurch bewirkte tiefgreifende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG auch in Ansehung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische und freiheitliche Gemeinwesen insgesamt nicht außer Verhältnis steht zu den jeweils zu bekämpfenden Gefahren und dem Beitrag, den ein Verbot zur Gefahrenabwehr beizutragen vermag (BVerfG, Beschluss vom 30. August 2020 – 1 BvQ 94/20, juris, Rn. 16). Ausgehend hiervon erweist sich die angefochtene Verbotsverfügung bei summarischer Prüfung als rechtmäßig und mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit vereinbar. Die vom Antragsgegner angestellte Gefahrenprognose begegnet keinen durchgreifenden Bedenken.
8. Soweit der Antragsteller grundsätzlich die Annahme einer unmittelbaren Gefährdung für die öffentliche Sicherheit in Gestalt des Grundrechts Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer möglichen Übertragung des SARS-CoV-2-Virus bei Versammlungen unter freiem Himmel anzweifelt, folgt die Kammer dem nicht. Die Kammer hat unter Bezugnahme das Positionspapier der Gesellschaft für Aerosolforschung zum Verständnis der Rolle von Aerosolpartikeln beim SARS-CoV-2 Infektionsgeschehen (abrufbar unter https://ae00780f-bbdd-47b2-aa10-e1dc2cdeb6dd.filesusr.com/ugd/fab12b_647bcce04bdb4758b2bffcbe744c336d.pdf) bereits entschieden, dass von einer Ansteckungsmöglichkeit auch im Freien auszugehen ist, wenn eine größere Menschenmenge mit geringen Abständen zusammentrifft (Beschluss der Kammer vom 21. April 2021 – VG 1 L 236/21, juris, Rn. 8; zur Übertragungsmöglichkeit im Freien siehe zudem bereits Beschluss der Kammer vom 22. Januar 2021 – VG 1 L 115/21, S. 4 BA; bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Januar 2021 – OVG 1 S 9/21, S. 4 BA unter Bezugnahme auf das zitierte Positionspapier der Gesellschaft für Aerosolforschung).
9. Die Kammer teilt auch nicht die Auffassung des Antragstellers, die vom Robert Koch-Institut (RKI) ermittelten Inzidenzwerte seien „ein verfassungsrechtlich höchst kritikwürdiger Indikator“. Einerseits wird die Maßgeblichkeit der vom RKI ermittelten Inzidenzwerte in § 28a Abs. 3 Satz 4 bis 12 IfSG vom Bundesgesetzgeber vorgegeben (VGH München, Beschluss vom 16. April 2021 – 10 CS 21.1113, juris, Rn. 19). Andererseits gibt es nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, der die Kammer folgt, gegen die Verlässlichkeit der Fallzahlen, die maßgeblich auf die durch PCR-Testungen bestätigten Fallmeldungen an das RKI gestützt sind, sowie die daraus errechnete, gem. § 28a Abs. 3 Satz 5 IfSG den Schwellenwert für umfassende Schutzmaßnahmen bildende Zahl von mehr als 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage jedenfalls bei der in einem Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung keine durchgreifenden Bedenken (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. März 2021 – OVG 11 S 17/21, juris, Rn. 41 ff.).
10. Zu konstatieren ist im Übrigen zwar, dass nicht nur die 7-Tage-Inzidenz gegenwärtig tendenziell fällt. Auch weitere Indikatoren wie der 4-Tage-R-Wert und die Anzahl der an Covid-19 erkrankten Personen, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen, zeigen eine abnehmende Tendenz. Allerdings sind nach der gesetzgeberischen Wertung bei der – noch immer gegebenen (Stand 21. Mai 2021: 67,3 für das Bundesgebiet insgesamt und 60,4 für Berlin) – Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen (§ 28a Abs. 3 Satz 5 IfSG). Zudem schätzt das RKI aufgrund der trotz des Rückgangs noch immer hohen Fallzahlen und der Verbreitung von einigen Virusvarianten die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als weiterhin sehr hoch ein. Kontaktreduzierende Maßnahmen und Schutzmaßnahmen seien weiterhin konsequent umzusetzen (vgl. Täglicher Lagebericht des RKI, Stand: 20.05.2021, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Mai_2021/2021-05-20-de.pdf?__blob=publicationFile). Ausdrücklich geht auch das RKI in seiner Risikobewertung im Übrigen davon aus, dass ein Übertragungsrisiko auch im Freien bestehe, wenn der Mindestabstand von 1,5 Metern ohne Mund-Nasen-Bedeckung unterschritten werde (Risikobewertung abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html).
11. Zutreffend verweist der Antragsgegner deshalb in dem Verbotsbescheid darauf hin, dass die jederzeitige Wahrung eines Mindestabstandes von 1,5 Metern von Personen zueinander einer der elementarsten Punkte zur Vermeidung einer weiteren Infektionsausbreitung des SARS-CoV-2-Virus ist. Die Einhaltung dieses Mindestabstandes ist nach seiner plausiblen Gefahrenprognose bei Durchführung der hier gegenständlichen Versammlungen nicht gewährleistet. Der Antragsgegner legt in der Begründung seiner Verbotsverfügung umfassend und überzeugend die negativen Erfahrungen mit der Durchführung von Versammlungen seit August 2020 dar, die einen vergleichbaren Teilnehmerkreis aus der „Querdenker-Szene“ wie die Versammlung des Antragstellers ansprechen. Überzeugend legt die Gefahrenprognose des Antragsgegners weiter dar, dass die behauptete Rechtstreue der „Querdenker-Szene“ letztlich nur als Lippenbekenntnis zu werten und im Gegensatz dazu vielmehr zu erwarten sei, dass der Antragsteller als Teil der „Querdenker-Szene“ gerade nicht zuverlässig die Gewähr bietet, auf die Einhaltung der infektionsschutzrechtlichen Anforderungen effektiv hinzuwirken. Es ist deshalb zu erwarten, dass auch bei der Versammlung des Antragstellers vielfach insbesondere die erforderlichen Mindestabstände nicht eingehalten werden, zumal der Antragsgegner auch detailliert aufzeigt, dass bereits die Konzeptionierung der Versammlungen selbst ein erhebliches Risiko dafür schafft, dass der Mindestabstand nicht gewahrt wird (siehe S. 16 f. des Verbotsbescheids). Entgegengetreten ist der Antragsteller der Gefahrenprognose insoweit nicht. Er wendet sich nicht gegen seine Zuordnung zur „Querdenker-Szene“ und tritt auch den Schilderungen des Antragsgegners über die bei vorangegangenen Versammlungen gemachten Erfahrungen nicht entgegen. Seine Ausführungen verhalten sich schließlich nicht dazu, ob und wie er für die Einhaltung des Mindestabstands sorgen will.
12. Die Verbotsverfügung ist aus diesen Gründen auch ermessensfehlerfrei, insbesondere verhältnismäßig. Diese ist zur Erreichung eines legitimen Zwecks, nämlich der Verhinderung einer weiteren Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus, geeignet, mildere Mittel sind vorliegend nicht ersichtlich und die Untersagung ist deshalb auch angemessen.
13. In Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden Versammlung, des aktuellen Infektionsgeschehens und der konkreten Gefahr von Unterschreitungen des Abstandsgebots mit dem einhergehendem erhöhtem Infektionsrisiko im Rahmen der Versammlung besteht im Interesse eines effektiven Gesundheitsschutzes der Versammlungsteilnehmer sowie der Allgemeinheit schließlich auch ein besonderes Vollziehungsinteresse.
14. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung auf §§ 39 ff., 52 f. GKG. Aufgrund der faktischen Vorwegnahme der Hauptsache ist eine Reduzierung auf den hälftigen Auffangstreitwert nicht angezeigt.
Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze
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