Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 3. Senat
Entscheidungsdatum: 26.05.2021
Aktenzeichen: OVG 3 S 32/21
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0526.OVG3S32.21.00
Dokumenttyp: Beschluss
Erteilung einer Ausbildungsduldung (persönlicher Anwendungsbereich)
Leitsatz
§ 60a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004) lässt die Erteilung einer Ausbildungsduldung nicht an Personen zu, die ihre Ausbildung bereits begonnen haben, als sie noch im Besitz eines Aufenthaltstitels waren und erst danach ausreisepflichtig geworden sind.(Rn.7)
Verfahrensgang
vorgehend VG Berlin, 26. März 2021, 24 L 315/20
Tenor
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 26. März 2021 wird geändert. Der Antrag des Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Berlin vom 26. März 2021 für beide Rechtsstufen auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1. Der aus Nigeria stammende Antragsteller erhielt wegen der Eheschließung mit einer portugiesischen Staatsangehörigen eine Aufenthaltskarte als Familienangehöriger einer EU-Bürgerin. Mit Bescheid vom 22. Mai 2019 stellte der Antragsgegner unter Anordnung der sofortigen Vollziehung u.a. das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts fest und zog die Aufenthaltskarte ein, weil der Antragsteller das Aufenthaltsrecht unter Vorspiegelung falscher Tatsachen über seine familiären und persönlichen Verhältnisse erlangt habe. Hiergegen ging der Antragsteller nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens sowohl im Wege vorläufigen Rechtsschutzes als auch in der Hauptsache vor. Das Verwaltungsgericht gab dem Eilantrag u.a. wegen eines fehlenden besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung statt und hob im Klageverfahren VG 24 K 248.19 die verfügte Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf, weil der Kläger aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme die Ausländerbehörde nicht getäuscht habe und auch keine Scheinehe vorliege. Allerdings sei der Kläger mangels wirksamer Eheschließung nicht freizügigkeitsberechtigt. Das Urteil wurde dem Antragsgegner am 15. April 2020 und dem Antragsteller am 20. April 2020 zugestellt.
2. Zum 1. September 2019 hatte der Antragsteller in dem Betrieb, in dem er zuvor tätig gewesen war, eine Ausbildung zum Koch aufgenommen und bei dem Antragsgegner unter dem 23. Oktober 2019 rein vorsorglich die Erteilung einer Ausbildungsduldung beantragt. Nach rechtskräftigem Abschluss des Verwaltungsstreitverfahrens VG 24 K 248.19 bat der Antragsteller unter dem 25. Mai 2020, über den Duldungsantrag zu entscheiden, was er – nach Einzahlung der Bearbeitungsgebühr – mit Schreiben vom 1. Juli 2020 wiederholte. Der Antragsgegner lehnte die Erteilung einer Ausbildungsduldung wegen offensichtlichen Missbrauchs gemäß § 60c Abs. 1 Satz 2 AufenthG ab, weil die Aufnahme der Ausbildung allein dazu diene, dem Antragsteller ein Bleiberecht zu verschaffen. Der hiergegen gerichtete Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte Erfolg, weil das Verwaltungsgericht den Missbrauchstatbestand verneinte.
II.
3. Die Beschwerde des Antragsgegners ist begründet. Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt eine Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses, mit dem das Verwaltungsgericht den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet hat, dem Antragsteller eine Ausbildungsduldung für eine Ausbildung zum Koch gemäß § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu erteilen.
4. Die Beschwerde wendet zutreffend ein, dass die von dem Antragsteller beanspruchte Ausbildungsduldung gemäß § 60c Abs. 2 Nr. 2 AufenthG schon deshalb zu versagen ist, weil der Antragsteller „bei Antragstellung noch nicht drei Monate im Besitz einer Duldung“ war. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ist diese Regelung hier uneingeschränkt anwendbar, weil der Antragsteller ein Verpflichtungsbegehren geltend macht und die Übergangsvorschrift des § 104 Abs. 17 AufenthG, wonach es bei einer Einreise bis zum 31. Dezember 2016 und einem Beginn der Berufsausbildung vor dem 2. Oktober 2020 keiner dreimonatigen Vorduldungszeit bedurfte, mit Wirkung vom 3. Oktober 2020 ersatzlos entfallen ist (vgl. Art. 3 des Gesetzes über Duldung und Ausbildung bei Beschäftigung vom 8. Juli 2019, BGBl I S. 1021, 1024). Insoweit gilt nichts anderes als bei der Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, bei der für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidung der Tatsacheninstanz maßgeblich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – 1 C 30/19 – juris Rn. 10). Auf die bei Antragstellung mit Schreiben vom 23. Oktober 2019 noch geltende und inzwischen überholte Rechtslage kommt es mithin mangels anderweitiger Anhaltspunkte nicht an.
5. Ferner weist die Beschwerde zu Recht darauf hin, dass die Beantwortung der Frage, ob der Antragsteller seit drei Monaten im Besitz einer Duldung ist, allein von den Umständen im Zeitpunkt der Antragstellung abhängt („bei Antragstellung“). Der insoweit eindeutige Wortlaut des § 60c Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 60c Rn. 17) lässt als Grenze der Auslegung keine abweichende Interpretation zu (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 – 2 C 2/13 – juris Rn. 15). Gemessen daran konnte der unter dem 23. Oktober 2019 gestellte Antrag auf Ausbildungsduldung keinen Erfolg haben, weil der Antragsteller im Hinblick auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im vorläufigen Rechtsschutzverfahren weder im Besitz einer Duldung noch vollziehbar zur Ausreise verpflichtet war und der Verwaltungsrechtsstreit gegen das von dem Antragsgegner festgestellte Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechtes erst im Mai 2020 rechtskräftig abgeschlossen war. Als der Antragsteller den Antragsgegner unter dem 25. Mai 2020 und dem 1. Juli 2020 zu einer Entscheidung über seinen Duldungsantrag aufforderte, war er zwar vollziehbar zur Ausreise verpflichtet, aber noch nicht seit drei Monaten im Besitz einer Duldung. Nichts anderes gilt, wenn man davon ausgeht, dass es nicht auf den formalen Besitz einer Duldungsbescheinigung ankommt, sondern dass allein entscheidend ist, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG vorliegen.
6. Unabhängig von den Ausführungen des Antragsgegners steht der Erteilung der begehrten Ausbildungsduldung ein weiterer Versagungsgrund entgegen. Da die Beschwerde die rechtliche Würdigung der angegriffenen Entscheidung zutreffend in Frage stellt, ist der Senat nicht gehindert, insoweit eigenständige Feststellungen zu treffen. Auf die Frage nach einem offensichtlichen Missbrauch gemäß § 60c Abs. 1 Satz 2 AufenthG kommt es nach alledem nicht an.
7. Nach § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung einer Ausbildungsduldung dem eindeutigen Wortlaut zufolge voraus, dass der ausländische Staatsangehörige bereits vor der Aufnahme seiner Berufsausbildung im Besitz einer Duldungsbescheinigung gemäß § 60a Abs. 4 AufenthG ist bzw. dass vor der Aufnahme der Ausbildung zumindest die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG vorliegen („… im Besitz einer Duldung nach § 60a ist und eine … Berufsausbildung aufnimmt“). Daran fehlt es hier. Der Antragsteller war bei Beginn seiner Ausbildung zum Koch am 1. September 2019 im Besitz einer Aufenthaltskarte und im Hinblick auf die im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ergangene Entscheidung erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Verwaltungsstreitverfahrens VG 24 K 248.19 im Mai 2020 vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. In derartigen Fällen ist der persönliche Anwendungsbereich des § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht eröffnet.
8. Eine über den Wortlaut hinausgehende erweiternde analoge Anwendung des § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auf Personen, die bereits als Inhaber eines Aufenthaltstitels eine Ausbildung beginnen und erst später ausreisepflichtig werden, kommt nicht in Betracht (anders wohl Eichler/Mantel, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, Aylgesetz, § 60c AufenthG Rn. 6). Der Gesetzgeber unterscheidet abschließend zwischen der Erteilung einer Ausbildungsduldung im Sinne von § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG an Inhaber einer „normalen“ Duldung, die eine Berufsausbildung aufnehmen, und der Erteilung einer Ausbildungsduldung an Asylbewerber, die gemäß § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ihre Berufsausbildung bereits während des Asylverfahrens aufgenommen haben und nach der Ablehnung des Asylantrags fortsetzen möchten (vgl. auch BT-Drs. 19/8286, S. 14).
9. Letztere hat der Gesetzgeber privilegiert, weil für sie ein Ausbildungsbeginn vor der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht unschädlich und zudem – folgerichtig – eine dreimonatige Vorduldungszeit nach Abschluss des Asylverfahrens gemäß § 60c Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht erforderlich ist. Sie dürfen mit dem Eintritt der Ausreisepflicht in die Ausbildungsduldung wechseln. Vor diesem Hintergrund fehlt jeder Anhaltspunkt für eine planwidrige Regelungslücke, aufgrund derer es gerechtfertigt wäre, demnächst ausreisepflichtige Personen mit bereits begonnener Ausbildung ebenfalls unter § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu subsumieren und sie dadurch trotz des abweichenden Wortlautes dem von § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfassten Personenkreis teilweise gleichzustellen. Zudem verdeutlicht das Erfordernis einer Vorduldungszeit, das aufenthaltsbeendende Maßnahmen ermöglichen soll, dass der Gesetzgeber in den Fällen des § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG – anders bei Asylbewerbern im Sinne von § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG – gerade keinen nahtlosen Übergang vom Aufenthaltsrecht zur Ausbildungsduldung eröffnen wollte (vgl. dazu auch Dietz, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 60c AufenthG Rn. 32).
10. Nichts Abweichendes ergibt sich aus dem im Schrifttum angeführten Argument, der Gesetzgeber verfolge die Intention, den Abschluss begonnener Ausbildungen zu gewährleisten (so Eichler/Mantel, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, Aylgesetz, § 60c AufenthG Rn. 1). Dieses Argument lässt sich nicht verallgemeinern, denn es findet sich allein im Zusammenhang mit der im Gesetzgebungsverfahren umstrittenen Frage, wie viele Monate vor Beginn der Berufsausbildung die Erteilung einer Ausbildungsduldung bereits ermöglicht werden sollte (vgl. BT-Drs. 19/8286, S. 29). Im Übrigen wäre eine Fortführung der Berufsausbildung, die während eines später endenden Aufenthaltsrechts begonnen wurde, grundsätzlich unter den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit einer Beschäftigungserlaubnis möglich, wenn der ausreisebedingte Abbruch der Ausbildung unverhältnismäßig wäre und dadurch zu einem Abschiebungshindernis führte.
11. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Der Senat setzt im auf vorläufige Verpflichtung zur Erteilung einer Ausbildungsduldung gerichteten vorläufigen Rechtschutzverfahren – wie bei einem Streit um eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG – trotz der Vorwegnahme der Hauptsache regelmäßig nur den halben Auffangwert fest, sodass der erstinstanzliche Beschluss insoweit gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG von Amts wegen zu ändern war.
12. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze
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