Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 10. Senat
Entscheidungsdatum: 26.05.2021
Aktenzeichen: OVG 10 N 5/21
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0526.OVG10N5.21.00
Dokumenttyp: Beschluss
Erhebung eines Nutzungsentgelts: Angemessenheit eines Entgelts bei Inanspruchnahme eines lokalen Beschäftigten durch einen Botschafter zum Zweck der Reinigung seiner Privaträume in der Residenz; Zulässigkeit einer nachträglichen Entgelterhebung
Orientierungssatz
1. Wortlaut, Sinn und Zweck und Systematik beider Vorschriften stehen einem Rückgriff auf § 101 Abs. 2 BBG für die Auslegung des Begriffs „angemessenes Entgelt“ in § 52 Satz 1 BHO entgegen.(Rn.7)
2. Im Anwendungsbereich von § 52 Satz 1 BHO ist nicht der „volle Wert“ anzusetzen. Der volle Marktwert, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr zu erzielen ist, kann verlangt werden, aber er muss nicht verlangt werden. Die Selbstkosten des Bundes bilden zwar im Regelfall die Untergrenze der Angemessenheit, ein Unterschreiten ist jedoch möglich, falls der Marktwert unterhalb der Selbstkosten liegt.(Rn.11)
3. Aus § 52 Satz 1 BHO ergibt sich nicht zwingend das Gebot einer vollständigen Kostendeckung, zumal bei einer privaten Inanspruchnahme von angestelltem Dienstpersonal häufig schwer bestimmbar sein dürfte, wann überhaupt eine vollständige Kostendeckung im Sinne des „vollen Werts“ der Inanspruchnahme vorliegt.(Rn.12)
4. Durch eine ständige Verwaltungspraxis, bei der Bemessung des angemessenen Entgelts für die Inanspruchnahme der lokalen Beschäftigten durch Botschafter zum Zweck der Reinigung ihrer Privaträume in den Residenzen von dem Bruttoarbeitnehmerlohn der in Anspruch genommenen Beschäftigten auszugehen und den Botschaftern entsprechende Rechnungen zu erstellen, wird Vertrauensschutz begründet. Eine Erhebung eines weiteren Entgelts in Form der Nacherhebung des Sozialversicherungsanteils des Arbeitgebers, kommt nicht in Betracht.(Rn.18)(Rn.19)(Rn.20)
Verfahrensgang
vorgehend VG Berlin 26. Kammer, 14. Dezember 2020, 26 K 99.18
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. Dezember 2020 wird abgelehnt.
Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt die Beklagte.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 1.007,13 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1. Der Kläger bewohnte bis Ende Juni 2018 als Botschafter der Beklagten bei den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen in W…eine Botschafterresidenz. Für Reinigungsarbeiten im privaten Teil der Residenz, die eine lokal bei der Botschaft im Servicebereich Beschäftigte zwischen September 2015 und September 2016 erbrachte, entrichtete der Kläger monatlich einen Eigenanteil an die Beklagte, dessen Bemessung vom Bruttoarbeitnehmerlohn der Beschäftigten ausging. Mit Bescheid der Botschaft W…vom 23. Februar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 19. Februar 2018 forderte die Beklagte von dem Kläger für diesen Zeitraum einen weiteren Betrag in Höhe von 1.077,53 EUR als weiteren Eigenanteil, bei dessen Bemessung sie nunmehr vom Bruttoarbeitgeberlohn ausging. Diesen Betrag reduzierte die Beklagte später wegen einer Berücksichtigung arbeitsfreier Tage der lokalen Beschäftigten auf 1.007,13 EUR. Mit Urteil vom 14. Dezember 2020 hat das Verwaltungsgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
II.
2. Der zulässige, insbesondere fristgerecht gestellte und begründete Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe ernstlicher Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen, soweit sie hinreichend dargelegt sind (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), nicht vor.
3. 1. Die Darlegungen der Beklagten begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
4. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 20. Dezember 2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17 m.w.N.) und nicht nur die Begründung, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung derartigen Zweifeln unterliegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 – BVerwG 7 AV 4.03 – juris Rn. 9). Das ist hier nicht der Fall.
5. Bereits im Zulassungsverfahren lässt sich hinreichend sicher beurteilen, dass das Verwaltungsgericht zu Recht die Bemessung des Entgelts gemäß § 52 Satz 1 BHO sowohl auf der Grundlage des Bruttoarbeitnehmerlohns als auch auf der des Bruttoarbeitgeberlohns als angemessen betrachtet (hierzu a.) und die nachträgliche Erhebung eines weiteren Entgelts für denselben Zeitraum für rechtswidrig erachtet hat (hierzu b.).
6. a. Soweit die Beklagte einwendet, es sei rechtsfehlerhaft, dass das Verwaltungsgericht die ursprüngliche Entgelterhebung ausgehend vom Bruttoarbeitnehmerlohn als angemessen betrachtet habe, weil es anders als die 36. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin im Urteil vom 21. Oktober 2019, Az. VG 36 K 124.18 zur Auslegung des Begriffs „angemessen“ in § 52 Satz 1 BHO nicht auf die Vorschrift des § 101 Abs. 2 BBG zurückgegriffen habe, nach der das angemessene Entgelt mindestens kostendeckend bemessen sein müsse, führt dies nicht auf ernstliche Zweifel.
7. Hinreichend sicher lässt sich hier beurteilen, dass Wortlaut, Sinn und Zweck und Systematik beider Vorschriften einem Rückgriff auf § 101 Abs. 2 BBG für die Auslegung des Begriffs „angemessenes Entgelt“ in § 52 Satz 1 BHO entgegenstehen. Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass die Unzulässigkeit eines solchen Rückgriffs, von der das Verwaltungsgericht ausgeht, in der obergerichtlichen Rechtsprechung oder im Schrifttum umstritten wäre. Einen derartigen Rückgriff vertritt nach der Darlegung der Beklagten allein die 36. Kammer, und dies auch nur in einem Einzelfall.
8. Obwohl beide Vorschriften den Begriff „angemessenes Entgelt“ enthalten, unterscheidet sich ihr Wortlaut im Hinblick auf die nähere Bestimmung dieses Begriffs. Nach § 52 Satz 1 Halbsatz 1 BHO dürfen Angehörigen des öffentlichen Dienstes Nutzungen und Sachbezüge nur gegen angemessenes Entgelt gewährt werden. Dies schließt zunächst eine unentgeltliche Gewährung von Nutzungen und Sachbezügen aus. Weiter lässt sich dem Wortlaut nur entnehmen, dass das Entgelt im Verhältnis zu den gewährten Nutzungen und Sachbezügen angemessen sein muss. Der Ansatz des vollen Wertes ist mit dem Wortlaut zwar vereinbar, aber nicht zwingend (vgl. Klostermann, in: Heuer/Scheller, Kommentar zum Haushaltsrecht und der Vorschriften zur Finanzkontrolle, Stand November 2011, § 52 BHO Rn. 4 und Rn. 9 f.). Dagegen wird das angemessene Entgelt gemäß § 101 Abs. 2 Satz 1 BBG, das bei der Ausübung von Nebentätigkeiten für die Inanspruchnahme von Einrichtungen, Personal oder Material des Dienstherrn zu entrichten ist, durch § 101 Abs. 2 Satz 2 BBG näher definiert. Es ist zunächst nach den dem Dienstherrn entstehenden Kosten zu bemessen, muss also kostendeckend sein. Zusätzlich muss es den besonderen Vorteil durch die Inanspruchnahme berücksichtigen, d.h. einen Ausgleich für den erzielten Gewinn enthalten.
9. Auch nach Sinn und Zweck unterscheiden sich beide Vorschriften. Die Regelung in § 52 BHO dient der Integrität des öffentlichen Dienstes. Sie soll verhindern, dass Angehörige des öffentlichen Dienstes aufgrund ihrer amtlichen Stellung in den Genuss unangemessener Vorteile gelangen, die letztlich in erster Linie vom Steuerzahler finanziert würden (Klostermann, in: Heuer/Scheller, a.a.O., § 52 BHO Rn. 1; von Lewinski/Burbat, BHO, 1. Aufl. 2013, § 52 Rn. 1; Dittrich, BHO mit Schwerpunkt Zuwendungsrecht, Stand 1. Januar 2021, § 52 BHO, Ziffer 1). Dagegen gehört § 101 Abs. 2 BBG zu den Regelungen gemäß §§ 97 ff. BBG über die Bedingungen, unter denen ein Beamter ein Nebenamt oder eine Nebenbeschäftigung neben seinem Hauptamt nicht nur mit eigenen Mitteln ausüben, sondern dabei auch Einrichtungen, Material und Personal des Dienstherrn nutzen darf. Typische Fälle sind z.B. Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte oder Apotheker in staatlichen Hochschulen bzw. Universitätskliniken oder in der Bundeswehr. In der von der 36. Kammer in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Februar 2008 – BVerwG 2 C 27.06 – handelte es sich bei dem Kläger um einen beamteten Medizinprofessor und Leiter der Abteilung für Nuklearmedizin eines Universitätsklinikums, der die Nebentätigkeitsgenehmigung für die Behandlung von Privatpatienten unter Inanspruchnahme von Einrichtungen, Personal und Material der Klinik erhalten hatte.
10. Die für Nebentätigkeiten in § 101 Abs. 2 Satz 2 BBG detailliert geregelte Bemessung des Entgelts lässt sich wegen der Besonderheiten des Nebentätigkeitsrechts nicht uneingeschränkt auf § 52 BHO übertragen (vgl. Klostermann, in: Heuer/Scheller, a.a.O., § 52 BHO Rn. 4). Es handelt sich um eine Spezialvorschrift für entgeltliche Nebentätigkeiten unter Inanspruchnahme dienstlicher Einrichtungen. Das Fehlen solcher Regelungen in § 52 Satz 1 BHO erklärt sich damit, dass dessen Anwendungsbereich weiter gefasst ist und auch die private Nutzung dienstlicher Einrichtungen wie z.B. Kopiergeräte, Parkplätze usw., durch die der Beamte typischerweise keinen Gewinn erzielt und die unter Umständen sogar im Interesse des Dienstherrn liegen kann, darunter fällt.
11. In systematischer Hinsicht zeigt ein Vergleich mit § 63 Abs. 3 Satz 1 BHO, dass im Anwendungsbereich von § 52 Satz 1 BHO nicht der „volle Wert“ anzusetzen ist. Gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 BHO ist die Veräußerung und Nutzung von Vermögensgegenständen nur zu ihrem vollen Wert zulässig. Dagegen wird nach § 52 Satz 1 BHO ein Entgelt zu zahlen sein, das dem Wert der Nutzungen oder der Sachbezüge annähernd entspricht. Der volle Marktwert, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr zu erzielen ist, kann verlangt werden, aber er muss nicht verlangt werden. Die Selbstkosten des Bundes bilden zwar im Regelfall die Untergrenze der Angemessenheit, ein Unterschreiten ist jedoch möglich, falls der Marktwert unterhalb der Selbstkosten liegt (von Lewinski/Burbat, a.a.O., Rn. 1 und Rn. 7; Dittrich, a.a.O., § 52 BHO, Ziffer 4; Klostermann, in: Heuer/Scheller, a.a.O., § 52 BHO Rn. 10). Auch die Regelung in § 10 BBesG, derzufolge Sachbezüge unter Berücksichtigung ihres wirtschaftlichen Wertes mit einem angemessenen Betrag auf die Besoldung angerechnet werden, zeigt, dass der anzurechnende „angemessene Betrag“ nicht zwingend mit dem „wirtschaftlichen Wert“ identisch ist, sondern auch darunter liegen kann.
12. Rechtlich spricht nichts dafür, dass die ursprüngliche Praxis der Beklagten unangemessen gewesen wäre. Sie ist mit dem Wortlaut von § 52 Satz 1 BHO und der systematischen Stellung dieser Vorschrift im Regelungsgefüge der BHO vereinbar. Nach Sinn und Zweck spricht für die Angemessenheit im konkreten Fall insbesondere, dass der Marktwert der Inanspruchnahme des Personals unterhalb der dem Dienstherrn dafür tatsächlich entstandenen Kosten lag. Die Beklagte geht ausweislich des Widerspruchsbescheids selbst davon aus, dass der Stundenlohn der von dem Kläger in Anspruch genommenen lokalen Beschäftigten deutlich über dem ortsüblichen Entgelt für einfache Haushaltsdienstleistungen und auch oberhalb des Marktwerts lag; im Zulassungsvorbringen nannte sie einen Bruttostundenlohn von 16 EUR. Dagegen liegt der durchschnittliche Bruttostundenlohn für Vollzeit-Reinigungskräfte in Österreich aktuell bei 9,89 Euro (vgl. https://www.jobted.at/gehalt/reinigungskraft), der Mindeststundenlohn geringfügig beschäftigter Reinigungskräfte bei 11,75 Euro (Stand 2018, vgl. https://www.jobruf.at/haushaltshilfe_tipps/haushaltshilfe_anmelden.html). Unangemessen wäre eine private Inanspruchnahme des Botschaftspersonals durch den Botschafter zu günstigeren Konditionen als auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Daher genügt bereits das ursprüngliche Entgelt, das im Rahmen des vorgenannten Marktwerts liegt, dem Sinn und Zweck von § 52 Satz 1 BHO. Aus § 52 Satz 1 BHO ergibt sich dagegen nicht zwingend das Gebot einer vollständigen Kostendeckung, zumal bei einer privaten Inanspruchnahme von angestelltem Dienstpersonal – im Unterschied zur Veräußerung eines Vermögensgegenstands – häufig schwer bestimmbar sein dürfte, wann überhaupt eine vollständige Kostendeckung im Sinne des „vollen Werts“ der Inanspruchnahme vorliegt.
13. Dem Verwaltungsgericht ist auch darin zuzustimmen, dass die Berücksichtigung des Sozialversicherungsanteils des Arbeitgebers im konkreten Fall ebenfalls rechtlich nicht zu beanstanden ist, weil dadurch angesichts der Besoldung eines Botschafters, des in Rede stehenden Differenzbetrags und der praktischen Vorteile für den Botschafter noch kein Missverhältnis entsteht. Es sei lediglich angemerkt, dass jedenfalls nicht offensichtlich ist, ob das so bemessene Entgelt tatsächlich dem „vollen Wert“ entspricht. Die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Selbstkosten zeigen sich z.B. im Hinblick auf Urlaub und Krankheit der lokalen Beschäftigten: Nachdem die Botschaft für den Monat Juli 2016 zunächst auch das Urlaubsgeld der Beschäftigten berücksichtigt hatte, was zu einer Verdopplung des Entgelts für Juli 2016 führte, zog die Beklagte im Widerspruchsverfahren Urlaubstage der Beschäftigten wieder von der geforderten Gesamtsumme ab. Darauf kommt es aber nicht entscheidungserheblich an. Angesichts der Vielzahl möglicher Fallgestaltungen und der mutmaßlich sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen lokal Beschäftigter bei Auslandsvertretungen in den verschiedenen Ländern verbietet sich eine schematische Regelung, zumal § 52 Satz 1 BHO dem Dienstherrn bereits durch den unbestimmten Rechtsbegriff „angemessen“ für das Entgelt nach oben hin einen Gestaltungsspielraum einräumt, ohne dass eine vollständige Kostendeckung in jedem Fall zwingend gefordert wäre.
14. b. Auch der Einwand der Beklagten, das Verwaltungsgericht habe die nachträgliche Erhebung eines weiteren Entgelts für denselben Zeitraum zu Unrecht für rechtswidrig erachtet, führt nicht auf ernstliche Zweifel.
15. Das Verwaltungsgericht hat eine nachträgliche weitere Entgeltforderung wegen Unvereinbarkeit mit dem Vertrauensschutz abgelehnt. Die Beklagte wendet dagegen ein, das Verwaltungsgericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass unabhängig von der Wirksamkeit der bei Dienstantritt zwischen den Beteiligten geschlossenen Vereinbarung nicht geregelt gewesen sei, ob auch die anteilige Übernahme der von dem Arbeitgeber abzuführenden Lohnnebenkosten geschuldet sei. Zur Begründung beruft sich die Beklagte auch auf den Verweis der 36. Kammer auf die abgabenrechtliche Rechtsprechung, wonach kein Vertrauen darauf geschützt sei, dass eine Nacherhebung unterbleiben würde, sowie auf die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Weiter mahne der Bundesrechnungshof immer wieder die konsequente Geltendmachung u.a. von Nutzungsentgelten an. Zudem sei es ein falsches Signal, ausgerechnet gegenüber einem Botschafter der Besoldungsgruppe B6 zulasten öffentlicher Kassen von einer Nacherhebung abzusehen. Dies alles führt nicht auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
16. Zu Recht ist das Verwaltungsgericht der Auffassung der Beklagten und der 36. Kammer, eine Nacherhebung sei nach den Grundsätzen des Abgabenrechts zulässig, nicht gefolgt. Bei dem Benutzungsentgelt handelt es sich weder um Kosten, die typischerweise nach allgemein gültigen Regeln, Tarifen oder festen Sätzen erhoben werden, noch um Abgaben im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO (vgl. Klostermann, in: Heuer/Scheller, a.a.O., § 52 BHO Rn. 14 m.w.N.).
17. Die Nacherhebung, die zwar der Höhe nach auch angemessen wäre, scheitert, wie das Verwaltungsgericht zu Recht annimmt, am Vertrauensschutz. Nach den verfassungsrechtlichen Grundsätzen des Rückwirkungsverbots ist eine „echte“ Rückwirkung, also eine Rückbewirkung von belastenden Rechtsfolgen auf Tatbestände, die bereits vor dem Zeitpunkt der Normverkündung abgeschlossen sind, grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 7. Juli 2010 – 2 BvL 14/02 u.a. – juris Rn. 56 sowie vom 10. Februar 2021 – 2 BvL 8/19 – juris Rn. 134). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Vertrauensschutzgewährleistung nicht stets in normativer Gestalt zu erfolgen hat. Vielmehr kann Vertrauensschutz nicht nur durch normative Akte, sondern auch durch eine ständige Verwaltungspraxis begründet werden. Maßgeblich ist dabei allein, dass ein schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand einer Regelungspraxis nicht entwertet und enttäuscht wird (BVerwG, Beschluss vom 2. Mai 2017 – BVerwG 2 BN 1.17 – juris Rn. 20).
18. Die Erhebung des weiteren Entgelts in Form der Nacherhebung des Sozialversicherungsanteils des Arbeitgebers entfaltet gegenüber dem Kläger Rückwirkung auf einen bereits abgeschlossenen Tatbestand. Wie die insgesamt fünf Parallelfälle in den drei Botschaften der Beklagten in W…zeigen, gab es eine langjährige und einheitliche Verwaltungspraxis, bei der Bemessung des angemessenen Entgelts für die Inanspruchnahme der lokalen Beschäftigten durch Botschafter zum Zweck der Reinigung ihrer Privaträume in den Residenzen von dem Bruttoarbeitnehmerlohn der in Anspruch genommenen Beschäftigten auszugehen und den Botschaftern dieses Entgelt anteilig nach der Zeitdauer der Inanspruchnahme jeweils monatlich in Rechnung zu stellen.
19. Zunächst lag im streitgegenständlichen Zeitraum eine tatsächliche Inanspruchnahme durch den Kläger vor, selbst wenn ein etwaiger Vertrag gemäß § 57 BHO oder §§ 57-59 VwVfG unwirksam oder nichtig gewesen sein mag. Auf die Art und Weise der Vorteilsgewährung (z.B. durch Vertrag oder Verwaltungsakt) kommt es im Rahmen von § 52 Satz 1 BHO nicht an, sondern entscheidend ist allein die tatsächliche Inanspruchnahme. So steht z.B. die bloße tatsächliche Überlassung von Parkraum grundsätzlich der Annahme einer Nutzung nicht entgegen (Klostermann, in: Heuer/Scheller, a.a.O., § 52 BHO Rn. 7).
20. Durch die ständige Verwaltungspraxis der Beklagten, bei der Bemessung des angemessenen Entgelts vom Bruttoarbeitnehmerlohn auszugehen und entsprechende Rechnungen zu erstellen, wurde bei dem Kläger Vertrauensschutz begründet. Er musste nicht damit rechnen, dass die Beklagte für bereits abgerechnete Zeiträume noch ein weiteres Entgelt erheben würde. Als die Beklagte in ihrer Weisung vom 29. September 2016 erstmals problematisierte, dass die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung bisher nicht berücksichtigt worden seien, konnte sich der Kläger auf eine Änderung der bisherigen Praxis auch nicht mehr einstellen. Denn er konnte die bereits erfolgte private Inanspruchnahme der Beschäftigten für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht mehr rückgängig machen und diese Reinigung nicht mehr kostengünstiger z.B. durch eine selbst organisierte Reinigungskraft durchführen lassen.
21. Aufgrund der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit einer „echten“ Rückwirkung kommt es auf die Frage, ob die Nacherhebung dem Kläger angesichts seiner Besoldung wirtschaftlich zumutbar war, nicht mehr an.
22. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Bundesrechnungshof das zunächst erhobene Entgelt als unangemessen niedrig gerügt hätte, legt die Beklagte nicht dar. Mit Blick auf die Angemessenheit bereits des ersten Entgelts handelt es sich bei diesem Einwand um subjektive Befürchtungen der Beklagten ohne substantielle Grundlage.
23. 2. Die Darlegungen der Beklagten rechtfertigen auch nicht die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
24. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Berufungsverfahren geklärt werden muss. Das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO verlangt daher zur Begründung einer grundsätzlichen Bedeutung neben der Bezeichnung der Frage Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit, Klärungsfähigkeit und zur Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Rechts- oder Tatsachenfrage (vgl. u.a. OVG Bln-Bbg, Senatsbeschlüsse vom 24. September 2019 – OVG 10 N 54.19 – EA S. 3 und vom 29. März 2017 – OVG 10 N 21.14 – juris Rn. 17 m.w.N.). Nicht klärungsbedürftig ist eine Frage, deren Beantwortung sich ohne weiteres aus dem Gesetz ergibt. Bei Rechtsänderungen kommt eine Zulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht mehr in Betracht. Anderes gilt nur, wenn die Klärung der Rechtsfrage für einen nicht überschaubaren Kreis von Personen noch von Bedeutung sein kann (Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 124 Rn. 10).
25. Die von der Beklagten als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Fragen, nach welchen Kriterien die Angemessenheit des nach § 52 Satz 1 BHO zu erhebenden Entgelts zu bemessen ist und welche Reichweite der Vertrauensschutz in Fällen hat, in denen eine Nacherhebung von Entgelten in Betracht kommt bzw. geboten ist, sind nicht in einem Berufungsverfahren klärungsbedürftig. Die allgemeinen Kriterien für ein angemessenes Entgelt lassen sich nach den vorstehenden Ausführungen unter 1. mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation ohne weiteres klären (vgl. OVG Bln-Bbg, Senatsbeschluss vom 30. November 2011 – OVG 10 N 48.09 – juris Rn. 16). Die Frage der Angemessenheit eines konkreten Entgelts hängt aber von den jeweiligen Umständen im Einzelfall ab und ist in diesem Sinne nicht verallgemeinerungsfähig.
26. Hinsichtlich der zweiten aufgeworfenen Frage nach der Zulässigkeit einer nachträglichen Entgelterhebung sind die Grundsätze der Reichweite des Vertrauensschutzes nicht nur für normative Akte, sondern auch für eine ständige Verwaltungspraxis bereits höchstrichterlich geklärt. Die nachträgliche, rückwirkende Änderung der konkreten Verwaltungspraxis der Beklagten kann außerdem nicht mehr für einen unüberschaubaren Personenkreis von Bedeutung sein. Insgesamt gab es nach der Darstellung der Beklagten nur fünf Fälle, die sämtlich in den drei diplomatischen Vertretungen in W…aufgetreten und daher als eine einzige Fallgruppe anzusehen sind. Mittlerweile hat die Beklagte ihre frühere Verwaltungspraxis geändert. Woraus sich unter diesen Umständen eine über die in W…aufgetretenen Einzelfälle hinausgehende, grundsätzliche Bedeutung ergeben sollte, ist nicht dargelegt.
27. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG und trägt der Reduzierung des zunächst geforderten Entgelts durch die Beklagte Rechnung.
28. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze
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