Freizügigkeitsrechtliche Verlustfeststellung: Aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 2. Senat
Entscheidungsdatum: 27.05.2021
Aktenzeichen: OVG 2 S 15/21, OVG 2 M 8.21
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0527.OVG2S15.21.00
Dokumenttyp: Beschluss

Freizügigkeitsrechtliche Verlustfeststellung: Aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs

Orientierungssatz

1. Der Eintritt der aufschiebenden Wirkung hat keine rechtsgestaltende Wirkung dahin, dass der Verwaltungsakt als vorläufig nicht existent zu behandeln wäre. Infolgedessen bleiben die Rechtswirkungen des Verwaltungsakts, die vor seiner Anfechtung bereits eingetreten waren, auflösend bedingt wirksam. Die Behörde darf nur aus ihrem Verwaltungsakt keine Maßnahmen treffen, die rechtlich als Vollziehung des nach wie vor wirksamen Verwaltungsakts zu qualifizieren sind (vgl. BVerwG, 27. Oktober 1982, 3 C 6/82).(Rn.10)

2. Um eine solche Maßnahme der Vollziehung handelt es sich, wenn die Ausländerbehörde während der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage gegen eine Verlustfeststellung gestützt auf eine Rechtsgrundlage im Aufenthaltsgesetz einen belastenden Verwaltungsakt (hier: Anordnung einer ärztlichen Untersuchung) erlässt.(Rn.10)

Verfahrensgang

vorgehend VG Berlin, 25. Mai 2021, 13 L 193/21

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. Mai 2021 wird teilweise geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage – VG 13 K 194/21 – gegen den Bescheid des Landesamtes für Einwanderung vom 19. Mai 2021 wird bzgl. Ziff. 1 wiederhergestellt und bzgl. Ziff. 2 und 3 angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens erster Instanz tragen die Beteiligten je zur Hälfte, die des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.

Die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung wird geändert. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt. Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1. Der Antragsteller ist rumänischer Staatsangehöriger und lebt seit 2012 im Bundesgebiet. Mit Bescheid vom 27. Februar 2020 stellte das Landesamt für Einwanderung nach vorheriger Anhörung den Verlust des Rechts des Antragstellers auf Freizügigkeit nach § 6 Abs. 1 und § 5 Abs. 4 FreizügG/EU fest, drohte dem Antragsteller die Abschiebung aus der Haft nach Bulgarien an und befristete die Sperrwirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre ab der Ausreise. Mit Bescheid vom 19. Mai 2020 änderte der Antragsgegner den Bescheid vom 27. Februar 2020 insoweit, als er dem Antragsteller die Abschiebung nach Rumänien androhte. Die hiergegen gerichtete Klage – VG 13 K 131/20 – wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 15. April 2021 ab. Das Urteil wurde dem Antragsteller am 27. April 2021 zugestellt.

2. Mit Bescheid vom 19. Mai 2021 ordnete der Antragsgegner die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit an, und zwar durch Abnahme eines Abstrichs zum Zweck der Ermittlung einer SARS-CoV-2-Infektion (Ziff. 1), drohte für den Fall, dass der Antragsteller der Durchführung der Untersuchung nicht freiwillig Folge leiste, die Abnahme des Abstrichs durch medizinisches Personal unter Anwendung unmittelbaren Zwangs an (Ziff. 2), setzte das angedrohte Zwangsmittel des unmittelbaren Zwangs fest (Ziff. 3) und ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an (Ziff. 4).

3. Den hiergegen gerichteten Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung der Klage VG 13 K 194/21 gegen den Bescheid vom 19. Mai 2021 wiederherzustellen, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 25. Mai 2021 zurückgewiesen, weil der Antragsteller nach dem Verlust seiner Freizügigkeit ausreisepflichtig sei und die Voraussetzungen für die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vorlägen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde.

II.

4. Die Beschwerde gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg. Die fristgerecht dargelegten Gründe, die den Umfang der Überprüfung im Beschwerdeverfahren bestimmen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), gebieten eine Änderung der angegriffenen Entscheidung.

5. 1. Zu Recht beanstandet der Antragsteller die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass sich dem angefochtenen Bescheid nicht entnehmen lasse, dass seine ärztliche Untersuchung vor der Rechtskraft des Urteils vom 15. April 2021 durchgeführt werden solle. Zutreffend verweist er auf Blatt 200 des ihn betreffenden Verwaltungsvorganges, der dem Verwaltungsgericht vorgelegen hat. Der dort abgehefteten E-Mail des Antragsgegners an die Justizvollzugsanstalt vom 11. Mai 2021 ist zu entnehmen, dass das Erfordernis der Durchführung des Covid-19-Tests 72 Stunden vor Abflug bedeutet, der Test müsste faktisch am 26. Mai 2021 durchgeführt werden und ein Ergebnis müsste am 27. Mai 2021 vorliegen.

6. Dem steht nicht entgegen, dass der Antragsgegner in seiner Beschwerdeerwiderung vom 26. Mai 2021 darauf hinweist, die Rechtsmittelfrist gegen das Urteil vom 15. April 2021 ende nach dem Vortrag des Antragstellers am 27. Mai 2021, und mitteilt, eine Testung sei nunmehr aktuell für Freitag, den 28. Mai 2021 um 9.30 Uhr vorgesehen. Zwar endet die Rechtsmittelfrist am 27. Mai 2021 um 24.00 Uhr. Sollte der Antragsteller jedoch bis zu diesem Zeitpunkt einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt haben, endete die aufschiebende Wirkung der gegen den Verlust seines Freizügigkeitsrechts gerichteten Anfechtungsklage drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist (§ 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO). Ein Zuwarten stünde nicht im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG, denn in diesem Fall wäre es dem Senat angesichts des frühen Untersuchungstermins unter Beachtung des Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht möglich, rechtzeitig Rechtsschutz zu gewähren.

7. 2. Ebenfalls erfolgreich greift der Antragsteller den zweiten, selbstständig tragenden Begründungsstrang des Verwaltungsgerichts an, der Bescheid des Antragsgegners vom 27. Februar 2020 habe wirksam den Verlust der Freizügigkeit des Antragstellers festgestellt mit der Folge, dass der Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetzes eröffnet sei, weil § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU nicht voraussetze, dass die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unanfechtbar geworden sei. Zutreffend weist er unter Bezugnahme auf einschlägige Kommentarliteratur darauf hin, dass die Verlustfeststellung zwar nicht bestandskräftig, zumindest aber vollziehbar sein müsse, um belastende Maßnahmen auf Rechtsgrundlagen des Aufenthaltsgesetzes stützen zu können. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

8. Der gegen den Bescheid vom 27. Februar 2020 erhobenen Anfechtungsklage kommt aufschiebende Wirkung zu, da der Antragsgegner nicht die sofortige Vollziehung des Bescheides angeordnet hat. Soweit der Antragsgegner die Auffassung vertritt, der Bescheid sei bereits vor Erhebung der Anfechtungsklage bestandskräftig geworden, weil die Klage verspätet erhoben worden sei, folgt der Senat dem nicht. Die umstrittene Frage, ob der Eintritt der aufschiebenden Wirkung von der Zulässigkeit des eingelegten Rechtsbehelfs abhängt, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung (vgl. z. Meinungsstand Schoch, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, VwGO, Stand: Juli 2020, § 80 Rn. 78 ff). Nach der im vorliegenden Verfahren nur gebotenen summarischen Prüfung, insbesondere angesichts der besonderen Eilbedürftigkeit der Entscheidung, neigt der Senat zu der sog. Evidenzlehre, nach der grundsätzlich jedem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne des § 80 Abs. 1 VwGO zukommt und dies lediglich ausnahmsweise bei evidenter Unzulässigkeit des Rechtsbehelfs nicht gelten soll (vgl. Schoch, a.a.O., Rn. 79). An einer solchen Evidenz fehlt es hier, da der Senat derzeit nicht berufen ist, eine etwaige Versäumung der Klagefrist zu prüfen, und zwar auch nicht inzident. Anders als im Widerspruchs- und erstinstanzlichen Klageverfahren würde der Senat in einem hier allein statthaften Verfahren auf Zulassung der Berufung ausschließlich die mit der Zulassungsbegründung vorgetragenen Gründe prüfen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Bisher liegt weder ein Antrag auf Zulassung der Berufung folglich auch keine Zulassungsbegründung vor, noch ist die Rechtsmittelfrist abgelaufen. Tauglicher Prüfungsgegenstand wäre auch nicht ein etwaiger antizipierter Vortrag, da sich die Zulässigkeitsprüfung nicht auf eine reine Berechnung der Klagefrist beschränkt, sondern auch ausschließlich vortragsabhängige Wiedereinsetzungsgründe zum Gegenstand hat.

9. Die gemäß § 80 Abs. 1 VwGO eingetretene aufschiebende Wirkung endet an sich erst mit der Bestandskraft des angefochtenen Verwaltungsakts. Der vorläufige Rechtsschutz durch die sog. Suspensionsautomatik tritt mit der Einlegung des Rechtsbehelfs ein, überdauert einen zurückweisenden Widerspruchsbescheid und besteht im Falle der Klageerhebung an sich fort bis zur rechtskräftigen Entscheidung. Nach § 80b Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO endet sie im Fall einer erstinstanzlichen Klageabweisung drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen die klageabweisende Entscheidung gegebenen Rechtsmittels (vgl. Schoch, a.a.O., § 80b Rn. 15). Das Bundesverfassungsgericht hat § 80 Abs. 1 VwGO als einfachgesetzliche Ausprägung der grundrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes und den Grundsatz der aufschiebenden Wirkung als adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie sowie als fundamentalen Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses qualifiziert. Ohne den verfassungsrechtlich bedeutsamen Suspensiveffekt verwaltungsprozessualer Rechtsbehelfe würde der Verwaltungsrechtsschutz wegen der notwendigen Verfahrensdauer angesichts drohender Irreparabilitäten häufig hinfällig (vgl. Schoch, a.a.O., § 80 Rn. 14 m.w.N. z. Rspr. d. BVerfG).

10. Solange die aufschiebende Wirkung andauert, ist es dem Antragsgegner nicht gestattet, den festgestellten Verlust des Freizügigkeitsrechts des Antragstellers zu vollziehen. Dabei kann offenbleiben, ob es bei der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 VwGO um ein umfassendes Verwirklichungs- und Ausnutzungsverbot geht (vgl. Schoch, a.a.O., § 80 Rn. 101). In jedem Fall darf der angefochtene Verwaltungsakt vorläufig nicht vollzogen werden. Zwar beseitigt die aufschiebende Wirkung nicht die Wirksamkeit des angefochtenen Verwaltungsakts. Das bedeutet, dass der Eintritt der aufschiebenden Wirkung keine rechtsgestaltende Wirkung dahin hat, dass der Verwaltungsakt als vorläufig nicht existent zu behandeln wäre. Infolgedessen bleiben die Rechtswirkungen des Verwaltungsakts, die vor seiner Anfechtung bereits eingetreten waren, auflösend bedingt wirksam. Die Behörde darf nur aus ihrem Verwaltungsakt keine Maßnahmen treffen, die rechtlich als Vollziehung des nach wie vor wirksamen Verwaltungsakts zu qualifizieren sind (vgl. z. Vorstehenden: BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 1982 – BVerwG 3 C 6.82 – BVerwGE 66, Seite 218, 222). Um eine solche Maßnahme der Vollziehung handelt es sich, wenn der Antragsgegner während der aufschiebenden Wirkung gestützt auf eine Rechtsgrundlage im Aufenthaltsgesetz einen belastenden Verwaltungsakt gegenüber dem Antragsteller erlässt. Der Eintritt der Wirksamkeit der Verlustfeststellung führt nämlich lediglich dazu, dass die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Antragstellers beseitigt und er ausreisepflichtig wird. Die vom Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Beschluss zitierte Rechtsprechung und die in den genannten Entscheidungen weiter angeführten Nachweise stehen nicht entgegen, da dort lediglich zwischen Wirksamkeit und Unanfechtbarkeit einer Verlustfeststellung unterschieden, deren Vollziehbarkeit jedoch nicht in den Blick genommen wird.

11. Im Übrigen findet – worauf der Antragsteller zu Recht hinweist – auch nach den Anwendungshinweisen des BMI zur Umsetzung des Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/ EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht (Version 1.0) vom 25. Januar 2021 das Aufenthaltsgesetz nach § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU auf bis dahin freizügigkeitsberechtigte Personen erst dann Anwendung, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des FreizügG/EU vollziehbar festgestellt hat (vgl. Pkt. 7.14.6, Seite 33).

12. Vor diesem Hintergrund hat der Rechtsschutzantrag auch gegen Androhung und Festsetzung des Zwangsmittels Erfolg, weil es um die Vollstreckung eines nicht vollziehbaren Verwaltungsaktes geht.

III.

13. Über die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe durch das Verwaltungsgericht bezogen auf den hier allein streitgegenständlichen Bescheid vom 19. Mai 2021 sowie den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war angesichts des Obsiegens des Antragstellers und der Kostenentscheidung nicht zu entscheiden.

14. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

15. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG. Dabei war die erstinstanzliche Wertfestsetzung zu ändern (§ 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG), weil Streitgegenstand dort zwei voneinander unabhängige Maßnahmen waren, die jeweils die Festsetzung der Hälfte des Auffangstreitwertes rechtfertigen.

16. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze

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