VG Berlin 31. Kammer. Aktenzeichen: 31 L 89/21 A

Gericht: VG Berlin 31. Kammer
Entscheidungsdatum: 27.05.2021
Aktenzeichen: 31 L 89/21 A
ECLI: ECLI:DE:VGBE:2021:0527.31L89.21A.00
Dokumenttyp: Beschluss

Leitsatz

Bei der Frage des Fristbeginns im Rahmen des Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO kommt es nicht auf die Kenntniserlangung des Bundesamts als zuständiger Behörde an, sondern auf den Erhalt des Eurodac-Treffers durch den zuständigen Mitgliedstaat.

Der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die betreffende Person ohne Aufenthaltstitel aufhält, ist für die Prüfung des neuen Antrags auf internationalen Schutz, dessen Stellung dieser Person gestattet werden muss, zuständig, wenn das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Fristen unterbreitet wird.

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage VG 31 K 90.19 A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. April 2021 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1. Der Antrag des Antragstellers vom 22. April 2021,

2. die aufschiebende Wirkung seiner Klage VG 31 K 89.19 A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. April 2021, zugestellt am 17. April 2021, anzuordnen,

3. über den gemäß § 76 Abs. 4 S. 1 Asylgesetz (AsylG) der Einzelrichter zu entscheiden hat, ist gem. § 80 Abs. 5 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG zulässig, insbesondere ist die Wochenfrist eingehalten worden. Darüber hinaus ist der Eilantrag auch begründet. Das gesetzlich angeordnete Vollzugsinteresse unterliegt dem Suspensivinteresse des Antragstellers, einstweilen vom Vollzug seiner Ausreisepflicht verschont zu bleiben. Denn seine Klage wird nach der gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage voraussichtlich Erfolg haben.

4. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig.

5. I. Die Voraussetzungen der für die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags maßgeblichen Rechtsgrundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sind nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

6. Italien ist nicht mehr zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers. Eine Zuständigkeit Italiens besteht nicht mehr nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO).

7. Denn wegen verspäteter Stellung des Wiederaufnahmegesuchs an Italien ist nunmehr die Antragsgegnerin für die Durchführung des Verfahrens des Antragstellers zuständig (dazu 1.). Auf diesen Zuständigkeitsübergang kann sich der Antragsteller berufen (dazu 2.).

8. 1. a) Das Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin an Italien ist erst nach Ablauf der Frist des Art. 24 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt. Danach ist, wenn ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person ohne Aufenthaltstitel aufhält, eine Abfrage des Eurodac-Systems beschließt, das Gesuch um Wiederaufnahme so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach dem Erhalt der Eurodac-Treffermeldung zu unterbreiten.

9. Dabei müssen die Wiederaufnahmeverfahren obligatorisch im Einklang mit den u.a. in Kapitel VI der Dublin-III-Verordnung aufgestellten Regeln und insbesondere unter Beachtung einer Reihe zwingender Fristen durchgeführt werden. In Bezug auf die Berechnung dieser Fristen ist festzustellen, dass sie das Wiederaufnahmeverfahren regeln sollen und entscheidend zur Verwirklichung des Ziels einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz beitragen, indem sie gewährleisten, dass das Wiederaufnahmeverfahren ohne unberechtigte Verzögerung durchgeführt wird. Zu diesem Zweck gewährleisten die Fristen, dass der ersuchende Mitgliedstaat das Wiederaufnahmeverfahren innerhalb einer angemessenen Frist ab dem Zeitpunkt einleitet, zu dem er über Informationen verfügt, die es ihm erlauben, ein Wiederaufnahmegesuch an einen anderen Mitgliedstaat zu richten, wobei die in diesem Rahmen anwendbare Frist je nach der Art dieser Informationen variieren kann (EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018 – C-360/16 – juris Rn. 58 ff.).

10. Damit kommt es bei der Frage des Fristbeginns nicht auf die Kenntniserlangung des Bundesamts als zuständiger Behörde an, sondern auf den Erhalt des Eurodac-Treffers durch den zuständigen Mitgliedstaat. Für dieses Verständnis spricht, dass entsprechend der Beschleunigungsabsicht des Unionsgesetzgebers die Asylverfahren ohne größere Verzögerung im zuständigen Mitgliedstaat durchgeführt werden sollen (s. auch den fünften Erwägungsgrund der Verordnung). Zudem spricht hierfür, dass auch der Europäische Gerichtshof in diesem Kontext stets nur auf den „Mitgliedstaat“ und nicht auf die „zuständige Behörde“ abstellt (s. EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018 – C-360/16 – juris).

11. Gemessen hieran ist das Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin an Italien erst nach Ablauf der Frist des Art. 24 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt. Denn das Bundeskriminalamt – und damit die Antragsgegnerin als Mitgliedstaat – hatte eine Eurodac-Treffermeldung bereits spätestens im Oktober 2017 erhalten (s. Anlage 1 zur Antragsbegründung vom 2. Mai 2021). Das auf Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO gestützte Wiederaufnahmegesuch an Italien wurde indes erst am 11. Januar 2021 und damit nach Ablauf der Frist des Art. 24 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO gestellt.

12. b) Die Antragsgegnerin ist als Folge dieser Fristversäumung für den vom Antragsteller gestellten Asylantrag zuständig geworden. Wird das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der Frist des Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO unterbreitet, so gibt gemäß Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die betreffende Person ohne Aufenthaltstitel aufhält, dieser Person Gelegenheit, einen neuen Antrag zu stellen. Diese Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dahin auszulegen, dass der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die betreffende Person ohne Aufenthaltstitel aufhält, für die Prüfung des neuen Antrags auf internationalen Schutz, dessen Stellung dieser Person gestattet werden muss, zuständig ist, wenn das Wiederaufnahmegesuch nicht innerhalb der in Art. 24 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Fristen unterbreitet wird. Denn Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO würde jede praktische Wirksamkeit genommen, wenn er so verstanden würde, dass sich aus ihm lediglich ergibt, dass die betreffende Person das Recht haben muss, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, und dass er somit keine Auswirkung auf die Bestimmung des für die Prüfung dieses Antrags zuständigen Mitgliedstaats hat (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018
– C-360/16 – juris Rn. 71 ff.; VG Düsseldorf, Urteil vom 7. Januar 2020 – 29 K 736/19.A, BeckRS 2020, 95 Rn. 27; VG Bayreuth, Beschluss vom 3. Mai 2019 – B 8 S 19.50232, BeckRS 2019, 53787 Rn. 29; wohl kritisch zum Ganzen Hruschka, Fristen in Dublin-Verfahren, ZAR 2018, 281 <282 f.>).

13. 2. Der Antragsteller kann sich schließlich auch auf den Ablauf der Frist für die Stellung des Wiederaufnahmegesuchs mit der Folge des Zuständigkeitsübergangs auf die Antragsgegnerin berufen. Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO garantiert einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, der u. a. die Möglichkeit beinhaltet, einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung einzulegen und die Einhaltung der zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats maßgeblichen Vorschriften der Dublin III-VO zur gerichtlichen Überprüfung zu stellen. Darauf hat der Gerichtshof der Europäischen Union in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung (EuGH, Urteile vom 7. Juni 2016 – C-63/15 Ghezelbash und C-155/15 Karim -, beide juris) hingewiesen und betont, dass sich ein Asylsuchender im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihm gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf den Ablauf der Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs berufen kann, wobei dies auch dann gilt, wenn der ersuchte Mitgliedstaat zur Aufnahme des Asylbewerbers bereit ist (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-670/16 Mengesteab – juris Rn. 41 ff., 62).

14. II. Die Abschiebungsanordnung ist ebenfalls rechtswidrig. Nach den §§ 34a Abs. 1 Satz 1, 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Abschiebung nach Italien ist nicht durchführbar; Italien ist nach den oben getroffenen Feststellungen nicht mehr zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers.

15. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

16. Prozesskostenhilfe ist zu versagen, da der Antragsteller nach unanfechtbarem Ausspruch der Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Kosten des Verfahrens zu tragen, ihrer nicht bedarf.

17. Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze

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