Abschiebung nach Italien

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 2. Senat
Entscheidungsdatum: 27.05.2021
Aktenzeichen: OVG 2 B 16/20
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0527.OVG2B16.20.00
Dokumenttyp: Beschluss

Abschiebung nach Italien

Orientierungssatz

Die Überstellungsfrist wird auch in solchen Fällen unterbrochen, in denen ein gerichtlicher Eilantrag im Ergebnis ohne Erfolg bleibt oder nicht beschieden wird. Zudem müssen die Mitgliedstaaten auch in Fällen, in denen eine Überstellung kraft Gesetzes oder kraft wirksamer Einzelfallentscheidung lediglich zeitweise ausgeschlossen war, über eine zusammenhängende Frist von sechs Monaten verfügen, die sie in vollem Umfang zur Regelung der technischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung sollen nutzen dürfen.(Rn.20)

Verfahrensgang

vorgehend VG Potsdam, 17. Juli 2020, VG 2 K 2757/19.A Potsdam, Gerichtsbescheid

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1. Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich im Wesentlichen gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig durch die Beklagte und gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien.

2. Nach eigenen Angaben reiste der Kläger am 1. Mai 2018 in das Bundesgebiet ein. Im September 2019 stellte er einen Asylantrag. Eine Abfrage bei der EURODAC-Datenbank durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ergab Anhaltspunkte dafür, dass Italien gemäß der Dublin-III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig sein könnte. Auf ein Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes erklärten sich die italienischen Behörden mit Schreiben vom 25. September 2019 nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b) Dublin III-VO zur Wiederaufnahme des Klägers bereit.

3. Mit Bescheid vom 26. September 2019, der dem Kläger am 22. Oktober 2019 zugestellt wurde, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an und sprach ein auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG aus.

4. Der Kläger hat am 28. Oktober 2019 Klage erhoben. Den am selben Tag gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht Potsdam mit Beschluss vom 27. November 2019 (VG 2 L 292/19.A) ab.

5. Mit Schreiben vom 7. April 2020 teilte das Bundesamt dem Kläger mit, dass die Vollziehung der Abschiebungsanordnung in seinem Dublin-Verfahren gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO bis auf weiteres ausgesetzt werde. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Die abgegebene Erklärung gelte unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Mit Schreiben vom selben Tag informierte das Bundesamt die italienischen Behörden darüber, dass die Überstellung des Klägers derzeit wegen eines Rechtsmittels mit aufschiebender Wirkung nicht möglich sei.

6. Mit Gerichtsbescheid vom 17. Juli 2020 hat das Verwaltungsgericht Potsdam den Bescheid des Bundesamtes vom 26. September 2019 aufgehoben. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig sei im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig. Der Asylantrag des Klägers könne nicht aufgrund § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Eine etwaige Zuständigkeit Italiens sei jedenfalls nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 und 2 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen. Die hier maßgebliche sechsmonatige Überstellungsfrist sei nach Ablehnung des Eilantrages mit Beschluss vom 27. November 2019 inzwischen abgelaufen. Die von der Beklagten gegenüber dem Kläger erklärte (pandemiebedingte) Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung führe nicht zur Unterbrechung der Überstellungsfrist. Die behördliche Aussetzung sei im vorliegenden Fall nicht mit Unionsrecht vereinbar. Eine Aussetzungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO, die den Frist-beginn nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO verzögere, könne nur im Sinne der

7. Gewährung effektiven Rechtsschutzes, d.h. mit der Zielsetzung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung ergehen. Zur Begründung dieser Ansicht nehme die Kammer Bezug auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts Schleswig im Urteil vom 15. Mai 2020 (- 10 A 596/19 -, juris Rdn. 19 ff.), die sie sich zu eigen mache.

8. Die Beklagte bezieht sich zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung zunächst auf ihren Bescheid vom 26. September 2019 und führt darüber hinaus im Wesentlichen aus, es sprächen gute Gründe dafür, jedenfalls die behördlich verfügte Vollzugsaussetzung, die der aufgrund der Corona-Pandemie erfolgten faktischen Aussetzung des Dublin-Verfahrens Rechnung trage, als rechtmäßig einzustufen und ihr eine damit bewirkte Unterbrechung der laufenden Überstellungsfristen zuzusprechen.

9. Die Beklagte beantragt sinngemäß,

10. die Klage unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 17. Juli 2020 abzuweisen.

11. Der Kläger hat sich in der Sache zur Berufung nicht geäußert.

12. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

13. Der Senat entscheidet über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss nach § 130a VwGO, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gehört worden (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

14. Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der zulässigen Anfechtungsklage (vgl. zur statthaften Klageart bei Unzulässigkeitsentscheidungen nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes: BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 34.19 -, juris Rdn. 10 m. w. N.) zu Recht stattgegeben. Der Bescheid des Bundesamtes vom 26. September 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

15. Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG).

16. Rechtsgrundlage für die vom Bundesamt damit, dass Italien aufgrund des dort zuvor gestellten Asylantrages gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrages des Klägers zuständig sei, begründete Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr.604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31; Dublin-III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Voraussetzungen dieser Norm liegen bezüglich Italien nicht vor.

17. Offen bleiben kann, ob Italien ursprünglich aufgrund der Dublin-III-VO der für die Prüfung des Antrages des Klägers auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat gewesen ist. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, ist diese Zuständigkeit jedenfalls nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO auf die Beklagte übergegangen. Danach ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Anhaltspunkte dafür, dass hier eine Verlängerung dieser Frist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO in Betracht kommt, bestehen nicht.

18. Die Überstellung des Klägers ist nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt worden.

19. Ursprünglich begann die Überstellungsfrist mit dem Eingang der Übernahmeerklärung Italiens am 26. September 2019 zu laufen. Der fristgerecht eingegangene Antrag des Klägers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes führte zur Unterbrechung dieser Frist (vgl. § 34 a Abs. 2 Satz 2 AsylG i. V .m. Art. 27 Abs. 3 Buchstabe c Satz 2 Dublin-III-VO; vgl. auch: BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, juris Rdn. 17).

20. Mit Erlass des Beschlusses vom 27. November 2019, mit dem das Verwaltungsgericht den Eilantrag abgelehnt hat, wurde die sechsmonatige Überstellungsfrist erneut in Gang gesetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, juris Rdn. 17). Die Überstellungsfrist wird auch in solchen Fällen unterbrochen, in denen ein gerichtlicher Eilantrag im Ergebnis ohne Erfolg bleibt oder nicht beschieden wird. Zudem müssen die Mitgliedstaaten auch in Fällen, in denen eine Überstellung kraft Gesetzes oder kraft wirksamer Einzelfallentscheidung lediglich zeitweise ausgeschlossen war, über eine zusammenhängende Frist von sechs Monaten verfügen, die sie in vollem Umfang zur Regelung der technischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung sollen nutzen dürfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, a.a.O.). Die erneut in Gang gesetzte Überstellungsfrist endete mit Ablauf des 27. Mai 2020. Sie ist nicht unterbrochen worden.

21. a. Die vom Bundesamt im Jahr 2020 widerruflich verfügte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung bis auf weiteres (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO) hat nicht zu einer Unterbrechung der erneut in Gang gesetzten Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO geführt. Sie steht nicht in Einklang mit Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO.

22. Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.

23. Von dieser Norm werden nur Aussetzungen erfasst, die im Zusammenhang mit einem Rechtsbehelfsverfahren oder einer Überprüfung stehen und daher einer Überprüfung der Überstellungsentscheidung dienen. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO ist keine Grundlage für Aussetzungen, die losgelöst von einem Rechtsbehelfsverfahren allein deshalb erfolgen, weil die Abschiebung aus Sicht der zuständigen Behörde tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9. Juli 2020 – 1 LA 120/20 -, juris Rdn. 6 ff.). Das ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift. Diese bestimmt den Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung nicht nur als Zeitpunkt, bis zu dem die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann, sondern stellt auch einen Zusammenhang zwischen der Aussetzungsentscheidung und einem Rechtsbehelfsverfahren bzw. einer Überprüfung her. Durch die Verwendung der Präposition „um“ wird deutlich, dass die Aussetzungsentscheidung der zuständigen Behörde i. S. d. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO mit einer rechtlichen Überprüfung der Überstellungsentscheidung verbunden sein muss.

24. Darüber hinaus macht die systematische Stellung des mit „Rechtsmittel“ überschriebenen Art. 27 Dublin-III-VO in Abschnitt IV („Verfahrensgarantien“) des Kapitels IV („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) der Verordnung deutlich, dass der Zweck dieser Norm darin besteht, eine rechtliche Überprüfung der Überstellungsentscheidung und damit effektiven Rechtsschutz für den Betroffenen zu gewährleisten (vgl. auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9. Juli 2020 – 1 LA 120/20 -, juris Rdn. 10). Letzteres wird auch aus Art. 27 Abs. 1 Dublin-III-VO selbst deutlich, der vorsieht, dass der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Art. 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d Dublin-III-VO das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht hat. Die sich auf Art. 27 Abs. 1 Dublin-III-VO beziehenden Abs. 3 und 4 des Art. 27 Dublin-III-VO und die mit ihnen eingeräumten Möglichkeiten dienen dazu, die Wirksamkeit des Rechtsmittels sicherzustellen.

25. Zudem ist bei der Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO zu berücksichtigen, dass das System der Dublin-III-VO (auch) darauf zielt, eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (vgl. Erwägungsgrund 5). Zwar soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird (vgl. § 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO; vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, juris Rdn. 26). Daher darf eine behördliche Aussetzungsentscheidung auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen; in diesem Fall haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, juris Rdn. 27, und Beschluss vom 26. Januar 2021 – 1 C 52.20 – Rdn. 19 BA). Der Beschleunigungsgedanke spricht aber gegen die Annahme, eine Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung i. S. d. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO, die den Fristbeginn nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO verzögert, könne allein aus Gründen erfolgen, die – wie eine tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung – nicht mit einem Rechtsbehelfsverfahren oder einer rechtlichen Überprüfung der Überstellungsentscheidung zusammenhängen.

26. Im Übrigen geht auch die Europäische Kommission ausweislich ihrer Mitteilung vom 17. April 2020 („Covid-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung – 2020/C 126/20 -, Amtsblatt der Europäischen Union C 126/12, C 126/16) davon aus, dass es keine Bestimmung der Verordnung erlaube, in einer Situation wie der, die sich aus der COVID-19-Pandemie ergebe, von der Regelung zum Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzuweichen.

27. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Januar 2019 (- 1 C 16.18 -, juris) steht der vorstehend aufgezeigten Ansicht des Senats nicht entgegen. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, eine behördliche Aussetzungsentscheidung dürfe auch unterhalb der Schwelle bestehender Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, ergehen, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, juris Rdn. 27). Diese Entscheidung betraf allerdings eine Fallgestaltung, die mit der vorliegenden nicht vergleichbar ist. In dem dort entschiedenen Fall hatte das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nämlich auf Bitte des Bundesverfassungsgerichts bis zur Entscheidung über die von dem Kläger anhängig gemachte Verfassungsbeschwerde oder den zeitgleich eingereichten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund stand die dortige Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes letztlich im Zusammenhang mit der Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes.

28. Die hier vom Bundesamt im Jahr 2020 verfügte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung stand hingegen nicht im vorgenannten Sinne mit einem Rechtsbehelfsverfahren oder einer Überprüfung der Überstellungsentscheidung im Zusammenhang. Das ergibt sich zum einen daraus, dass das Bundesamt sie damit begründet hat, dass Dublin-Überstellungen derzeit im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise nicht zu vertreten seien und der Vollzug der Überstellung vorübergehend nicht möglich sei. Zum anderen erfolgte die Aussetzung „bis auf weiteres“, ohne an den Abschluss eines Rechtsbehelfs oder einer Überprüfung anzuknüpfen. Im gerichtlichen Verfahren hat die Beklagte zudem ausgeführt, dass das Bundesamt mit Blick auf die Entwicklung der Corona-Krise Dublin-Überstellungen bis auf Weiteres aussetze. Diese Erklärung bezieht sich angesichts ihrer vom Einzelfall losgelösten Formulierung auf eine (nicht näher benannte) Mehrzahl von Fällen und enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Aussetzungsentscheidungen mit einer rechtlichen Überprüfung der Überstellungsentscheidung verbunden wären.

29. Unbeschadet des bereits Ausgeführten spricht im Übrigen alles dafür, dass die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes auch deshalb nicht von Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO gedeckt ist, weil sie, wie bereits erwähnt, entgegen Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO „bis auf weiteres“ und damit nicht bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfs oder einer Überprüfung der Überstellungsentscheidung erfolgte. Wie aufgezeigt, bestimmt schon der Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO den Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung ausdrücklich als Zeitpunkt, bis zu dem die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt werden kann. Für dieses Verständnis sprechen Sinn und Zweck der Norm. Dient die Möglichkeit einer behördlichen Aussetzungsentscheidung in Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO nämlich dazu, effektiven Rechtsschutz gegen die Überstellungsentscheidung zu gewährleisten, ist nicht ersichtlich, dass die Aussetzung vor Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung wieder entbehrlich werden könnte (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9. Juli 2020 – 1 LA 120/20 -, juris Rdn. 28).

30. Angesichts dessen bedarf keiner Entscheidung, ob das Bundesamt das ihm bei der Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO zukommende Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat (vgl. zu § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO: BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16.18 -, juris Rdn. 23). Bedenken ergeben sich daraus, dass das Schreiben des Bundesamtes vom 7. April 2020, mit dem der Kläger über die Aussetzungsentscheidung informiert worden ist, – anders als dies erforderlich wäre – keine einzelfallbezogenen Ermessenserwägungen enthält. Das Bundesamt hat seine Aussetzungsentscheidung vielmehr in generalisierender Weise lediglich damit begründet, dass im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten seien und der Vollzug der Überstellung vorübergehend nicht möglich sei.

31. b. Zu einer Unterbrechung der erneut in Gang gesetzten Überstellungsfrist ist es nicht aufgrund einer faktisch generellen Aussetzung des Überstellungsvollzuges durch die Mitgliedstaaten gekommen.

32. Dabei kann offen bleiben, ob und in welchem Umfang die Mitgliedstaaten den Überstellungsvollzug infolge der Corona-Pandemie tatsächlich ausgesetzt haben. Eine Unterbrechung der Überstellungsfrist wird dadurch jedenfalls nicht bewirkt. Eine ausdrückliche Regelung, dass eine solche Aussetzung des Überstellungsvollzuges durch die Mitgliedstaaten, die zu einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung führt, eine Unterbrechung der Überstellungsfrist bewirken würde, enthält die Dublin-III-VO nicht. Anders als die Beklagte andenkt, besteht in einem solchen Fall auch kein Raum für eine entsprechende Anwendung des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin-III-VO.

33. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die analoge Anwendung der von einer Norm angeordneten Rechtsfolge auf Sachverhalte, die dieser Norm nicht unterfallen, eine planwidrige Regelungslücke voraus. Der Anwendungsbereich der Norm muss wegen eines versehentlichen, mit dem Normzweck unvereinbaren Regelungsversäumnisses des Normgebers unvollständig sein. Eine derartige Lücke darf von den Gerichten im Wege der Analogie geschlossen werden, wenn sich aufgrund der gesamten Umstände feststellen lässt, dass der Normgeber die von ihm angeordnete Rechtsfolge auch auf den nicht erfassten Sachverhalt erstreckt hätte, wenn er diesen bedacht hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2012 – 2 C 13.11 -, juris Rdn. 24 m. w. N.).

34. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es der Normgeber versehentlich unterlassen hat, die Regelungen des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 27 Abs. 3 und 4 Dublin-III-VO auf den Fall einer vorübergehenden tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung aufgrund einer faktisch generellen Aussetzung des Überstellungsvollzuges durch die Mitgliedstaaten zu erstrecken. Das ergibt sich bereits aus dem schon angesprochenen Beschleunigungsgedanken, der das System der Dublin-III-VO prägt (vgl. Erwägungsgrund 5). Vor diesem Hintergrund entspricht es vielmehr dem Normzweck, die Fälle, in denen der Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedstaat aufgrund einer Unterbrechung der Überstellungsfrist hinausgeschoben wird, zu begrenzen und – wie die Dublin III-VO – abschließend zu regeln. Darüber hinaus fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke, weil gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO schon seinem Wortlaut nach die praktische Möglichkeit der Überstellung lediglich für den Beginn der Überstellungsfrist bedeutsam ist (vgl. zum Vorstehenden auch: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09. Juli 2020 – 1 LA 120/20 -, juris Rdn. 32 ff.). Der Gedanke, dass bei in Gang gesetzter Überstellungsfrist allein die sich später ergebende tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung ohne Einfluss auf den Lauf der Frist bleibt, liegt letztlich auch der obergerichtlichen Rechtsprechung zum Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO zugrunde (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2017 – 11 A 1966/15.A – juris Rdn. 8 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Oktober 2016 – A 11 S 1596/16 -, juris Rdn. 49; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20. Dezember 2016 – 8 LB 184/15 -, juris Rdn. 60 ff.). Danach gebietet es der dem Dublin-System innewohnende Beschleunigungsgedanke in Fällen, in denen im maßgeblichen Zeitpunkt hinreichend sicher feststeht, dass innerhalb der nächsten sechs Monate eine Überstellung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sein wird oder durchgeführt werden kann, bereits zu diesem Zeitpunkt – und damit vor Ablauf der Überstellungsfrist – von einer Unmöglichkeit der Überstellung und damit dem künftigen Zuständigkeitsübergang auszugehen (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO), was hinsichtlich des Selbsteintritts ermessensreduzierend wirken kann.

35. Der von der Beklagten angesprochene Umstand, dass den Mitgliedstaaten nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 29. Januar 2009 (- C-19/08 -, juris Rdn. 44; zur Dublin II-VO) ein durchgängiger (Mindest-) Zeitraum von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll, den sie in vollem Umfang zur Regelung der technischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung nutzen sollen, steht dem nicht entgegen. In dieser Entscheidung geht es um die Frage, wann die Überstellungsfrist zu laufen beginnt, wenn ein Gericht des ersuchenden Mitgliedstaats mit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung die Durchführung des Überstellungsverfahrens aussetzt, aber in dem in der Hauptsache geführten gerichtlichen Verfahren erst später über die Rechtmäßigkeit des Überstellungsverfahrens entschieden wird (vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 -, juris Rdn. 46). Dazu, wie in Fällen zu verfahren ist, in denen die Überstellungsfrist zu laufen begann, die Überstellung dann aber aus tatsächlichen Gründen vorübergehend unmöglich ist, verhält sich diese Entscheidung nicht. Da auch diese Entscheidung eine Konstellation betrifft, in der ein Zusammenhang zu einem in einem Mitgliedstaat geführten Rechtsbehelfsverfahren besteht, sind die dortigen Ausführungen nicht auf Fälle übertragbar, in denen sich die Frage nach einer Unterbrechung der Überstellungsfrist allein aus tatsächlichen Gründen, die nichts mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu tun haben, stellt.

36. Dafür, dass die angegriffene Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes auf der Grundlage eines anderen, auf gleicher Stufe stehenden Unzulässigkeitstatbestandes aufrechterhalten bleiben könnte, ist nichts ersichtlich. Die übrigen Regelungen im angefochtenen Bescheid können keinen Bestand haben, da die Unzulässigkeitsentscheidung auf die Anfechtungsklage hin aufzuheben ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 -, juris Rdn. 21).

37. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.

38. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Es bedarf der Klärung, ob eine vom Bundesamt nach § 80 Abs. 4 VwGO allein wegen der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie „bis auf weiteres“ und „unter dem Vorbehalt des Widerrufs“ verfügte Aussetzung der Vollziehung einer Abschiebungsanordnung von Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO gedeckt ist und damit zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO führt.

Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze

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