Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 11642/11
S. gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 21. Februar 2017 als Ausschuss mit den Richtern
Faris Vehabović, Präsident,
Carlo Ranzoni und
Lәtif Hüseynov,
sowie Anne-Marie Dougin, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 17. Februar 2011 erhoben wurde,
im Hinblick auf die am 4. Juli 2016 von der beschwerdegegnerischen Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde im Register zu streichen, und die Erwiderung des Beschwerdeführers auf diese Erklärung,
nach Beratung wie folgt entschieden.
SACHVERHALT UND VERFAHREN
Der 19.. geborene Beschwerdeführer, S., ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn O., Rechtsanwalt in K., vertreten.
Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
Das Réseau Contentieux Pénitentiaire (RCP), das nach Artikel 36 Abs. 2 der Konvention zur Teilnahme am schriftlichen Verfahren ermächtigt wurde, wurde von Herrn S., Generalkoordinator, vertreten.
Insbesondere rügte der Beschwerdeführer, dass die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, ihm eine Kopie der vollständigen Gefängnis-Krankenunterlagen zu überlassen, Artikel 8 der Konvention verletzt habe.
Die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 8 der Konvention wurde der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde wurde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Der Beschwerdeführer rügte, dass die innerstaatlichen Gerichte ihm keinen wirksamen Zugang zu Informationen über seine Behandlung im Gefängniskrankenhaus gewährt hätten. Er berief sich auf Artikel 8 der Konvention.
Nachdem mehrere Versuche, eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 4. Juli 2016 von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner beantragte sie beim Gerichtshof, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
Die Erklärung lautete wie folgt:
„ … Die Bundesregierung möchte daher – durch eine einseitige Erklärung – anerkennen, dass der Beschwerdeführer durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte über seinen Antrag auf vollständige Einsicht in seine Gesundheitsakte in seinem Recht aus Artikel 8 der Konvention auf Achtung seines Privatlebens verletzt ist.
Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof eine Entschädigungsforderung in Höhe von 4.500,00 € anzuerkennen. Mit diesem Betrag in Höhe von 4.500,00 € würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Rheinland-Pfalz, insbesondere die Entschädigung für Nichtvermögensschäden, Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten.
Der Betrag von 4.500,00 € ist zahlbar innerhalb von drei Monaten nach Endgültigkeit der Entscheidung des Gerichtshofs über die Streichung der Rechtssache aus seinem Register. (…)
Die Bundesregierung beantragt daher, dass dieses Individualbeschwerdeverfahren gemäß Art. 37 Abs. 1c) der Konvention aus dem Register gestrichen wird. (…)“
Mit Schreiben vom 12. September 2016 nahm der Beschwerdeführer auf Artikel 37 Abs. 1 in fine Bezug und gab an, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei, weil die angebotene Entschädigung zu niedrig sei.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“
Er erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.
Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof die Erklärung im Lichte der Grundsätze geprüft, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben, insbesondere aus dem Urteil Tahsin Acar (Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75-77, ECHR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Sulwińska ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 28953/03, 18. September 2007).
Der Gerichtshof hat in einer Reihe von Fällen seine Praxis in Bezug auf Rügen festgelegt, die nach Artikel 8 der Konvention erhoben wurden, weil der beschwerdegegnerische Staat seiner positiven Verpflichtung, einen wirksamen Zugang zu Unterlagen über die Gesundheit einer Person zu ermöglichen, nicht nachkommen sei (siehe, mit weiteren Nachweisen, K. H: und andere ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 32881/04, Rdnr. 46, ECHR 2009 (Auszüge)).
Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses und der vorgeschlagenen Entschädigungssumme ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine weitere Prüfung dieser Beschwerde nicht gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c).
Darüber hinaus ist der Gerichtshof im Lichte vorstehender Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen Rechtsprechung zu diesem Thema überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).
Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass für den betreffenden Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht, wenn die Zahlung nicht innerhalb von drei Monaten ab dem Datum der Zustellung der gemäß Artikel 37 Abs. 1 der Konvention ergangenen Entscheidung erfolgt.
Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten, die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).
Nach alledem ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:
Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung nach Artikel 8 der Konvention sowie die Modalitäten für die Erfüllung der darin enthaltenen Verpflichtungen zur Kenntnis;
er beschließt, die Beschwerde gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention im Register zu streichen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 16. März 2017.
Anne-Marie Dougin Faris Vehabović
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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