Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 11. Senat. Aktenzeichen: OVG 11 S 77/21

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 11. Senat
Entscheidungsdatum: 01.06.2021
Aktenzeichen: OVG 11 S 77/21
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0601.OVG11S77.21.00
Dokumenttyp: Beschluss

Einschätzungsprärogative; Impfquote; Folgenabwägung; Klassenfahrt; Schulfahrt; Unterricht

Tenor

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

1. Der Antragsteller besucht die 8. Klasse einer Schule in Brandenburg und möchte an einer zwischen 14. und 18. Juni 2021 stattfindenden „Klassenfahrt“ aller achten Klassen seiner Schule nach Mecklenburg-Vorpommern in die Ferienunterkunft der „Feriendorf & Surfschule P…“ teilnehmen. Er hat einen Normenkontrollantrag gestellt und begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 der Siebten Verordnung über befristete Eindämmungsmaßnahmen aufgrund des SARS-CoV-2-Virus und COVID-19 im Land Brandenburg (Siebte SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung – 7. SARS-CoV-2-EindV -, vom 6. März 2021, GVBl. II/21, Nr. 24, zuletzt geändert durch die Verordnung vom 1. Juni 2021, GVBl. II, Nr. 57).

2. § 17 Abs. 3 der 7. SARS-CoV-2-EindV lautet:

§ 17

3. Schulen

4. (1) – (2) …

5. (3) Die Durchführung von Schulfahrten gemäß Nummer 1 der Verwaltungsvorschriften über schulische Veranstaltungen außerhalb von Schulen vom 13. Januar 2014 (Abl. MBJS S. 8) ist untersagt. Dies gilt nicht für Wandertage und Exkursionen.

6. (4) – (6) …

7. Abschnitt 1 Ziffer 1. (1) der Verwaltungsvorschrift über schulische Veranstaltungen außerhalb von Schulen (VV-Schulfahrten – VVSchul) vom 13. Januar 2014 (Abl. MBJS/14, [Nr. 1], S. 8) lautet:

8. Abschnitt 1

9. Arten von Schulfahrten

10. 1 – Grundsätze

11. Als Schulfahrten gelten folgende schulische Veranstaltungen, die außerhalb von Schulen stattfinden:

12. Wandertage und Exkursionen,

13. Klassen-, Kurs- und Jahrgangsstufenfahrten

14. Fahrten zu und Teilnahme an Veranstaltungen schulischer Wettbewerbe,

15. Schülerbegegnungen und Schüleraustausch.

16. Schulische Veranstaltungen außerhalb der Schule, die zur Durchführung des Unterrichts oder von Projekten durchgeführt werden, (Unterrichtsgänge) gelten nicht als Schulfahrten.

17. …

18. Der Antragsteller macht zur Begründung seines Antrags im Wesentlichen geltend, es fehle für die Regelung in § 17 Abs. 3 der 7. SARS-CoV-2-EindV bereits an einer Ermächtigungsgrundlage. Da es sich bei Schulfahrten nicht um Reisen im Sinne von § 28a Abs. 1 Nr. 11 IfSG handele, sondern um Unterricht, käme allenfalls die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG als Ermächtigungsgrundlage in Betracht, die aber nicht hinreichend bestimmt sei. Auch die vom Bundestag beschlossene sogenannte Notbremse rechtfertige das Verbot der Schulfahrt nicht mehr. Durch das Verbot von Schulfahrten sei der Antragsteller in seiner Allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und in seinem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG verletzt. Die Inzidenzzahlen seien auf mittlerweile 13 Infektionen pro 100.000 Einwohner im Wochenschnitt gesunken, das Zielbundesland der Reise gestatte den Aufenthalt von Bürgern aus anderen Bundesländern und sowohl die Schule als auch der Reiseveranstalter besäßen ein Hygienekonzept. Auch die regulären Hygienemaßnahmen würden während der Klassenfahrt umgesetzt werden, da es sich um Unterricht handele. Ferner sei zu berücksichtigen, dass seit dem 1. Juni 2021 wegen der gesunkenen Inzidenzzahlen wieder Unterricht als Präsenzunterricht stattfinde. Schulfahrten erfüllten zudem einen pädagogischen Zweck. Vor dem Hintergrund, dass die Schüler aufgrund des Pandemiegeschehens ohnehin bereits erhebliche Einbußen in der Entwicklung ihrer Sozialkompetenz erlitten hätten, seien Schulfahrten umso wichtiger, um diese Defizite aufzuarbeiten. Die besondere Dringlichkeit folge aus dem unmittelbar bevorstehenden Reisebeginn.

19. Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

20. § 17 Abs. 3 Satz 1 der Siebten Verordnung über befristete Eindämmungsmaßnahmen aufgrund des SARS-CoV-2-Virus und COVID-19 im Land Brandenburg (Siebte SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung – 7. SARS-CoV-2-EindV -, vom 6. März 2021, GVBl. II/21, Nr. 24, zuletzt geändert durch die Verordnung vom 1. Juni 2021, GVBl. II, Nr. 57) vorläufig außer Vollzug zu setzen.

II.

21. Der Antrag ist zwar zulässig, aber unbegründet.

22. 1. Gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 1 BbgVwGG entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von anderen (nicht von Nr. 1 erfassten) im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften und damit auch über die angegriffene Vorschrift des § 17 Abs. 3 Satz 1 der 7. SARS-CoV-2-EindV.

23. Der Antrag ist zulässig. Es erscheint zumindest möglich, dass § 17 Abs. 3 Satz 1 der 7. SARS-CoV-2-EindV den Antragsteller als betroffenen Schüler in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) verletzt. Ob darüber hinaus ein vom Recht auf Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG geschütztes Verhalten betroffen ist, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung (vgl. zum Beherbergungsverbot BVerfG, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – 1 BvQ 116/20 –, juris Rn. 10, OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 14. Januar 2021 – OVG 11 S 3/21 –, juris Rn. 11 und vom 16. Oktober 2020 – OVG 11 S 87/20 –, juris Rn. 40).

24. 2. Der Antrag ist aber unbegründet.

25. Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.

26. Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsachenentscheidung unaufschiebbar ist.

27. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung – trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache – dringend geboten ist (vgl. zum vorstehenden insgesamt: Senatsbeschluss vom 23. April 2020 – OVG 11 S 25/20 -, Rn. 4 – 7, juris; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09. April 2020 – 3 MR 4/20 -, Rn. 3 – 5, juris; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020 – 20 NE 20.632 -, juris Rn. 31 ff., jeweils unter Hinweis auf BVerwG, Beschluss vom 25. Februar 2015 – 4 VR 5.14 -, juris Rn. 12).

28. Davon ausgehend kann der Antrag keinen Erfolg haben. Denn die Erfolgsaussichten des vom Antragsteller mit dem Antrag auf Eilrechtsschutz angestrengten Normenkontrollverfahrens sind nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung gegenwärtig allenfalls als offen zu bezeichnen, eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der angegriffenen Norm drängt sich nicht auf (dazu unter 2.1.). Die danach vorzunehmende Folgenabwägung geht vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus (dazu 2.2.).

29. 2.1. Die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Regelung drängt sich nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung nicht auf.

30. (1) Die angegriffene Regelung dürfte in § 32 i.V.m. §§ 28, 28a Abs. 1 Nr. 16, Abs. 3 und 6 IfSG eine hinreichende gesetzliche Rechtsgrundlage finden.

31. Die letztgenannte Norm regelt, dass notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag insbesondere auch die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 IfSG oder die Erteilung von Auflagen für die Fortführung ihres Betriebs sein können. Schulen gehören zu den Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 Nr. 3 IfSG. § 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG ermöglicht es nicht nur, die Schließung von Schulen anzuordnen, sondern erlaubt auch die Erteilung von Auflagen für die Fortführung ihres Betriebs. § 17 Abs. 3 Satz 1 der 7. SARS-CoV-2-EindV regelt eine solche Auflage. Wie der Antragsteller selbst geltend macht, zählen Schulfahrten zu den schulischen Veranstaltungen,. Nach der durch § 17 Abs. 3 Satz 1 der 7. SARS-CoV-2-EindV in Bezug genommenen Verwaltungsvorschrift über schulische Veranstaltungen finden sie außerhalb von Schulen statt und umfassen Wandertage und Exkursionen, Klassen-, Kurs- und Jahrgangsstufenfahrten, Fahrten zu und Teilnahme an Veranstaltungen schulischer Wettbewerbe sowie Schülerbegegnungen und Schüleraustausch. §§ 17, 17a der 7. SARS-CoV-2-EindV regeln infektionsschutzrechtlich veranlasste Modalitäten für die Fortführung des Schulbetriebs und damit der Gemeinschaftseinrichtung Schule im Sinne von § 33 Nr. 3 IfSG. Mithin stellt sich die Untersagung eines Teils der zu den schulischen Veranstaltungen gehörenden Schulfahrten in § 17 Abs. 3 der 7. SARS-CoV-2-EindV als Auflage im Sinne von § 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG dar.

32. (2) §§ 28, 28a Abs. 1 Nr. 16, Abs. 3 und 6 IfSG genügen bei summarischer Prüfung auch den Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Gesetze, die zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen müssen (st. Rspr. des Senats, z.B. Beschluss vom 11. Februar 2021 – OVG 11 S 11/21 -, juris Rn. 53 ff.; zu 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG Senatsbeschluss vom 19. Mai 2021 – OVG 11 S 64/21 -, Rn. 33, juris).

33. Auch aus dem Vorbringen des Antragstellers ergeben sich keine Gesichtspunkte, die den Senat zu einer anderen Bewertung veranlassen müssten. Auf die vom Antragsteller erörterte Vorschrift des § 28a Abs. 1 Nr. 11 IfSG kommt es hier nicht an.

34. (3) Am Vorliegen der formellen Voraussetzungen des § 28a Abs. 5 IfSG sind Zweifel weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

35. Die verfahrensgegenständliche 7. SARS-CoV-2-EindV ist, wie von § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG verlangt, sowohl in der Ursprungsfassung als auch hinsichtlich aller nachfolgenden Änderungen, einschließlich derjenigen durch die Neunte Verordnung zur Änderung der Siebten SARS-CoV-2-EindV vom 1. Juni 2021, mit einer allgemeinen Begründung versehen (GVBl. II Nr. 57 S. 26 ff.; allgemeine Begründungen der Ursprungsfassung der 7. SARS-CoV-2-EindV vom 6. März 2021 sowie aller weiteren Änderungsverordnungen auch abrufbar unter https://bravors.brandenburg.de/verordnungen/7__sars_cov_2_eindv/attachments/251512). Die Geltungsdauer der Ursprungsverordnung wahrte die Frist des § 28a Abs. 5 Satz 2 IfSG; entsprechendes gilt für die nachfolgenden Änderungen einschließlich der Änderungsverordnung vom 1. Juni 2021, mit der die Geltung bis zum 24. Juni 2021 verlängert worden ist (§ 28 der 7. SARS-CoV-2-EindV).

36. Auch die Bestimmtheit des hier in Rede stehenden § 17 Abs. 3 Satz 1 der 7. SARS-CoV-2-EindV begegnet keinen durchgreifenden Bedenken.

37. (4) Die sich aus § 32 Satz 1 IfSG i.V.m. §§ 28 Abs. 1, 28a Abs. 1 IfSG ergebenden materiellen Voraussetzungen für die Anordnung von Schutzmaßnahmen gem. § 28 Abs. 1 i.V.m.§ 28a IfSG im Wege der hier in Rede stehenden Verordnung waren und sind nach der hier nur möglichen summarischen Prüfung ebenfalls erfüllt.

38. Der Deutsche Bundestag hat die in § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG in der vom 28. März bis 18. November 2020 geltenden Fassung des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung (vom 27. März 2020, BGBl. I S. 587) vorgesehene Feststellung einer solchen epidemischen Lage von nationaler Tragweite mit Blick auf das Corona-Virus SARS-CoV-2 gleichzeitig mit der Verabschiedung dieses Gesetzes am 25. März 2020 getroffen (BT-PlPr 19/154, 19169C), und er hat diese Feststellung seither auch nicht – wie in § 5 Abs. 1 IfSG vorgesehen – aufgehoben und diese Aufhebung im Bundesgesetzblatt bekannt gemacht, sondern am 18. November 2020 und 4. März 2021 den Fortbestand einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG erneut festgestellt (vgl. BT-Drs. 19/24387 und BT-PlPr.19/191, 24109C; www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw09-de–824818: Annahme des Entschließungsantrags 19/2796).

39. Auch die sich aus § 28a Abs. 3 IfSG ergebenden weiteren Voraussetzungen sind nach summarischer Prüfung weiterhin erfüllt. Bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 (COVID-19) Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind gemäß § 28a Abs. 3 Satz 5 IfSG umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen, soweit und solange es für eine wirksame Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. Bei einer Überschreitung eines Schwellenwertes von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind gemäß § 28a Abs. 3 Satz 6 IfSG breit angelegte Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehen erwarten lassen. Unterhalb eines Schwellenwertes von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen kommen insbesondere Schutzmaßnahmen in Betracht, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützen. Gemäß § 28a Abs. 3 Satz 11 IfSG können jedoch auch noch nach Unterschreitung eines in den Sätzen 5 und 6 (des Abs. 3) genannten Schwellenwertes die in Bezug auf den jeweiligen Schwellenwert genannten Schutzmaßnahmen aufrechterhalten werden, soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erforderlich ist. Bei der Prüfung der Aufhebung oder Einschränkung der Schutzmaßnahmen nach den Sätzen 9 bis 11 sind gemäß § 28a Abs. 3 S. 12 IfSG insbesondere auch die Anzahl der gegen COVID-19 geimpften Personen und die zeitabhängige Reproduktionszahl zu berücksichtigen.

40. Diesen Vorgaben dürfte die angegriffene Verordnungsregelung entsprechen. Der Verordnungsgeber durfte die beanstandete Untersagung von Schulfahrten bei summarischer Prüfung noch als gemäß § 28 Abs. 1, § 28 Abs. 3 IfSG notwendig ansehen.

41. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind Grundrechtseingriffe nur zulässig, wenn sie durch hinreichende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden, wenn die gewählten Mittel zur Erreichung des verfolgten Zweckes geeignet und auch erforderlich sind und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) noch gewahrt wird (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22. Mai 2020 – OVG 11 S 51/20 –, juris Rn. 29 und vom 20. Mai 2020 – OVG 11 B 49/20 und OVG 11 B 52/20 –).

42. Die Regelungen einer Verordnung wie der hier in Rede stehenden dienen in Ansehung der aktuellen Coronavirus-Epidemie dem in § 1 Abs. 1 IfSG umschriebenen Zweck, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern, namentlich dem „Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit“, zu dem der Staat nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kraft seiner grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur berechtigt, sondern auch verfassungsrechtlich verpflichtet ist (vgl. z.B. BVerfG, Beschlüsse vom 13. Mai 2020 – 1 BvR 1021/20 -, juris Rn. 8, Beschluss vom 12. Mai 2020 -1 BvR 1027/20 -, juris Rn. 6, und vom 1. Mai 2020 – 1 BvR 1003/20 -, juris Rn. 7; konkret mit Blick auf Fitnessstudios auch BVerfG, Beschluss vom 28. April 2020 -1 BvR 899/20 -, juris Rn 13). Bei der Wahrnehmung seiner Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen sowie vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit zu schützen, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2020 – 1 BvR 1027/20 -, juris Rn. 6). Er verfügt in der Beurteilung, ob die gesetzliche Regelung geeignet ist, um ihr Ziel zu erreichen, über eine Einschätzungsprärogative, die sich sowohl auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse erstreckt als auch auf die etwa erforderliche Prognose und die Wahl der Mittel, um seine Ziele zu erreichen. Auch in der Beurteilung der Erforderlichkeit der Regelung kommt ihm ein Spielraum zu (BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 05. Mai 2021 – 1 BvR 781/21 –, Rn. 36, juris). Entsprechendes hat nach der Rechtsprechung des Senats bei der Ausfüllung der Ermächtigungen des § 28a IfSG auch für den Landesverordnungsgeber zu gelten.

43. Ziel der hier in Rede stehenden wie auch der weiteren, mit der aktuell erneut verlängerten Fassung der 7. SARS-CoV-2-EindV getroffenen Maßnahmen ist es, die anhaltend zu hohen Infektionszahlen in Brandenburg und die davon nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts (RKI) weiter ausgehende hohe Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung (siehe Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID 19), Stand: 9. Juni 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jun_2021/2021-06-09-de.pdf?__blob=publicationFile, Seite 18) durch Fortgeltung einiger der bisherigen Schutzmaßnahmen weiter einzudämmen. Die Einschätzung des Verordnungsgebers, dass die hier verfahrensgegenständliche Untersagung von Schulfahrten mit Ausnahme von Wandertagen und Exkursionen – die einen Baustein im Gesamtkonzept darstellt – weiterhin geeignet und mangels eines anderen, gleich geeigneten Mittels auch erforderlich ist, zu einer Reduzierung von Infektionen beizutragen, ist auf Grundlage der ausdrücklich auf momentan u.a. in Schulen zu verzeichnenden Ausbrüche verweisenden Lageeinschätzung des RKI voraussichtlich nicht zu beanstanden.

44. Die vom Verordnungsgeber angenommene Erforderlichkeit der Maßnahmen zur Kontaktreduzierung und damit auch zur Abschwächung des Infektionsgeschehens und dessen Kontrolle wird durch den Einwand des Antragstellers, dass seitens der Schule und des Reiseveranstalters Hygienekonzepte erstellt worden seien, die zur Begegnung der Infektionsgefahr ausreichend seien, nicht durchgreifend in Frage gestellt. Zwar trifft es zu, dass die Schulfahrt unter Beachtung strenger Hygienevorschriften ein milderes Mittel darstellte. Im Hinblick auf die einer Schulfahrt innewohnenden unvermeidlichen Beaufsichtigungslücken, insbesondere in den Abendstunden, wäre diese Maßnahme jedoch nicht in gleicher Weise geeignet wie die Unterbindung potentiell infektionsträchtiger Kontakte durch die Untersagung von Schulfahrten. Das gilt auch für die Richtlinien des Reiseveranstalters, die der Antragsteller vorgelegt hat, zumal diese die freiwillige Befolgung der Schüler voraussetzen, die auf einer mehrtägigen Schulfahrt nicht durchgängig gewährleistet werden kann.

45. Nach summarischer Prüfung durfte der Verordnungsgeber die in Rede stehende Untersagung von Schulfahrten auch noch für erforderlich und angemessen halten.

46. Nach den Erkenntnissen des RKI sinkt die Sieben-Tage-Inzidenz zwar seit Anfang der 17. Kalenderwoche. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Neunten Änderungsverordnung am 1. Juni 2021 lag sie für Deutschland bei 35 und für Brandenburg bei 18 Neuerkrankungen je 100.000 Einwohnern (Lagebericht v. 1. Juni 2021, S. 4, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jun_2021/2021-06-01-de.pdf?__blob=publication File; inzwischen liegt die Sieben-Tage-Inzidenz für Deutschland bei 19, für Brandenburg sogar nur noch bei 9, vgl. RKI, Fallzahlen, Stand Donnerstag 10. Juni 2021). Auch in Ansehung dieser positiven Entwicklung hält das RKI aber daran fest, dass die Rücknahme von Maßnahmen aus epidemiologischer Sicht unbedingt schrittweise und nicht zu schnell erfolgen solle (Lagebericht vom 9. Juni 2021, S. 2, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jun_2021/2021-06-09-de.pdf?__blob=publicationFile). Zwar halte auch der Rückgang der Meldeinzidenzen bei Kindern und Jugendlichen aktuell weiter an. Zur Gewährleistung eines möglichst kontinuierlichen Betriebs von Schulen und Kitas erfordere die aktuelle Situation aber den Einsatz aller organisatorischen und individuellen Maßnahmen zur Interventionsprävention (unter Verweis auf „Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen – Lebende Leitlinie“, https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-076.html), darüber hinaus müsse der Eintrag von SARS-CoV-2 in die Einrichtungen möglichst verhindert werden (Lagebericht v. 8. Juni 2021, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jun_2021/2021-06-08-de.pdf?__blob=publicationFile, S. 14).

47. Dem hat der Verordnungsgeber mit der Neunten Verordnung zur Änderung der 7. SARS-CoV-2-EindV Rechnung getragen und angesichts der insbesondere aus dem starken Rückgang der Zahl der Neuinfektionen sowie der Entspannung auf den Intensivstationen ersichtlichen günstigen Entwicklung des Pandemiegeschehens zahlreiche Einschränkungen zurückgenommen oder abgemildert. Insbesondere im Schulbereich sind infolge der Änderung des § 17 Abs. 2 der 7. SARS-CoV-2-EindV nunmehr der schulpraktische Sportunterricht in geschlossenen Räumen sowie im Rahmen des Musikunterrichts Gesangsunterricht und das Spielen von Blasinstrumenten unter freiem Himmel wieder möglich. Zuvor hatte der Verordnungsgeber mit der Achten Verordnung zur Änderung der 7. SARS-CoV-2-EindV (v. 25. Mai 2021, GVBl. II Nr. 54) bereits die Wiederaufnahme des vollständigen Präsenzunterrichts für alle Schüler und Schülerinnen in Landkreisen und kreisfreien Städten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz unter dem Schwellenwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner ermöglicht (§ 17 Abs. 4a der 7. SARS-CoV-2-EindV) sowie Wandertage und Exkursionen vom grundsätzlichen Verbot der Durchführung von Schulfahrten ausgenommen (§ 17 Abs. 3 Satz 2 der 7. SARS-CoV-2-EindV). Dass er die Aufrechterhaltung des sonstigen Verbots von Schulfahrten wie auch der weiteren, mit der aktuell erneut verlängerten Fassung der 7. SARS-CoV-2-EindV beibehaltenen Maßnahmen zunächst weiter als erforderlich angesehen hat, um die zuletzt günstige Entwicklung des Pandemiegeschehens nicht zu gefährden und einem im Fall sofortiger Aufhebung aller Schutzmaßnahmen zu befürchtenden erneuten starken Anstieg der Zahl der Neuinfektionen vorzubeugen, entspricht der Einschätzung des RKI. Dieses stuft die Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland trotz des Rückgangs von Fallzahlen und Hospitalisierungen wegen der noch immer hohen Fallzahlen und der Verbreitung besorgniserregender SARS-CoV-2-Varianten immer noch insgesamt als hoch ein und sieht angesichts der anhaltenden Viruszirkulation in der Bevölkerung mit zahlreichen Ausbrüchen in Privathaushalten, Kitas und auch in Schulen sowie dem beruflichen Umfeld die konsequente Umsetzung kontaktreduzierender Maßnahmen und Schutzmaßnahmen sowie massive Anstrengungen zur Eindämmung von Ausbrüchen und Infektionsketten weiter als erforderlich an (Lagebericht vom 9. Juni 2021, S. 16 f.; https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jun_2021/2021-06-09-de.pdf?__blob=publicationFile).

48. Vor dem Hintergrund, dass auf mehrtägigen Schulfahrten, wie der hier in Rede stehenden, der Kontakt unter den Schülern von längerer Dauer ist, dürfte es nicht zu beanstanden sein, dass der Verordnungsgeber die Untersagung dieser Fahrten auch gegenwärtig noch für erforderlich hält, um das Infektionsgeschehen hinreichend einzudämmen.

49. Bei der hier nur möglichen summarischen Prüfung drängt es sich auch nicht auf, dass die mit § 17 Abs. 3 der 7. SARS-CoV-2-EindV erfolgte Untersagung von Schulfahrten, mit Ausnahme von Wandertagen und Exkursionen, im engeren Sinne unverhältnismäßig wäre und der Verordnungsgeber den ihm insoweit zustehenden Spielraum überschritten hätte. Die beanstandete Verpflichtung begründet voraussichtlich bereits keinen ungerechtfertigten Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) der davon betroffenen Schüler, und auch nicht in deren Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), selbst wenn man den Schutzbereich trotz des schulischen Charakters der Fahrt annehmen würde.

50. Denn dem Eingriff steht das mit der Verordnung insgesamt – zuletzt in der Fassung der Neunten Verordnung zur Änderung der 7. SARS-CoV-2-EindV – wie auch mit der konkret beanstandeten Regelung verfolgte Ziel gegenüber, einer erneuten Beschleunigung des nach wie vor zu hohen Infektionsgeschehen mit einem exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen, einer starken, sich beschleunigenden Zunahme schwerer und auch tödlicher Krankheitsverläufe und letztlich einer Überlastung des Gesundheitssystems entgegenzuwirken. Dies ist vor dem Hintergrund der raschen Ausbreitung leichter übertragbarer besorgniserregender Varianten (VOC) von entscheidender Bedeutung, um die Zahl der neu Infizierten deutlich zu senken und schwere Krankheitsverläufe, intensivmedizinische Behandlungen und Todesfälle zu vermeiden . Zudem ist zu berücksichtigen, dass die zunehmende Zahl (vollständig) geimpfter Personen in der Schülerschaft geringer als in der Gesamtbevölkerung sein dürfte, da diesen eine Impfung erst seit dem 7. Juni 2021 möglich ist (siehe Freigabe der Corona-Impfungen – Impfwillige brauchen Geduld, abrufbar unter https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/freigabe-der-corona-impfungen-impfwillige-brauchen-geduld-17376477.html, Stand 07. Juni 2021) und das Infektionsrisiko in Schülergruppen, erst recht in klassenübergreifenden wie hier, damit nochmals erhöht ist. Vor diesem Hintergrund muss das Interesse der Schüler, an Schulfahrten teilzunehmen, zurückstehen, zumal die von dem Antragsteller angeführten, das Sozialverhalten stärkenden Ziele von Schulfahrten (Abschnitt 1, Ziffer 1.(2) VV-Schulfahrten) auch über die mittlerweile wieder zugelassenen Wandertage und Exkursionen gefördert werden können, wenn auch in geringerem Maße. Mit diesem stufenweisen Konzept der Lockerungen bringt der Antragsgegner die Interessen des Gesundheitsschutzes und der von den Beschränkungen Betroffenen in einen insgesamt angemessenen Ausgleich. Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine Schulfahrt in erster Linie schulischen Zwecken dient und die nicht stattfindende Schulfahrt nicht zu einer Nichtbeschulung, sondern lehrplanmäßigem (Präsenzunterricht) führt.

51. 2.2. Auch davon ausgehend, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache noch nicht abschließend beurteilt werden können, geht eine Folgenabwägung nach den eingangs dargestellten Maßstäben zulasten des Antragstellers aus. Denn die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm wiegen deutlich schwerer als die Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs. Diesbezüglich gelten die bereits zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne angestellten Erwägungen entsprechend. Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, dass nunmehr zwar Stornierungskosten anzufallen drohen, die konkret anstehende Reise aber zu einer Zeit gebucht wurde, als Schulfahrten bereits untersagt waren und nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden konnte, dass dieses Verbot kurz vor dem Schulferienbeginn entfallen würde.

52. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Verfahrenswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Da der Antragsteller die Durchführung einer bestimmten schulischen Aktivität begehrt ist der Senat vom Regelstreitwert ausgegangen. Von einer Halbierung des sich ergebenden Betrages wird abgesehen, da mit Blick auf den begrenzten Geltungszeitraum der angegriffenen Vorschrift vorliegend von einer Vorwegnahme der Hauptsache auszugehen ist.

53. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze

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