Begründete Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung eines Rehabilitierungsantrags wegen Einweisung in DDR-Kinderheime bei Anhaltspunkten für Ausreiseverhinderung und menschenunwürdige Disziplinierung

Gericht: Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin
Entscheidungsdatum: 16.06.2021
Aktenzeichen: 108/20
Dokumenttyp: Beschluss

Begründete Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung eines Rehabilitierungsantrags wegen Einweisung in DDR-Kinderheime bei Anhaltspunkten für Ausreiseverhinderung und menschenunwürdige Disziplinierung: Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz, des rechtlichen Gehörs und des Willkürverbots durch mangelnde Sachverhaltsaufklärung und Verkennung der gesetzlichen Vermutung sachfremder Gründe

Verfahrensgang …
Tenor

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 10. Dezember 2019 – 7 Ws 8 – 14/19 REHA – verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten auf willkürfreie Entscheidung (Art. 10 Abs. 1 VvB), rechtliches Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB) und effektiven Rechtsschutz (Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB).

2. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.

3. Damit ist der Beschluss des Kammergerichts vom 17. April 2020 – 7 Ws 8 – 14/19 REHA – gegenstandslos.

4. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

5. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

1. Der am 18. Juli 1953 geborene Beschwerdeführer wendet sich gegen die Zurückweisung seiner Beschwerde durch das Kammergericht, mit der dieses die Zurückweisung seines Antrags auf strafrechtliche Rehabilitierung wegen seiner Unterbringung in verschiedenen Kinder- und Jugendheimen der Deutschen Demokratischen Repu-blik (DDR) durch das Landgericht Berlin bestätigt hat.

2. Er lebte mit seiner Mutter und seiner zwei Jahre jüngeren Halbschwester in Ost-Berlin im Haushalt seiner Großeltern. Sein Vater war im Jahr 1959 nach West-Berlin ausgereist und hatte zunächst versucht, seinen Sohn nachzuholen. Da seine Mutter hiermit nicht einverstanden war, versuchte der Beschwerdeführer im Alter von neun Jahren, die Grenze zu übertreten, wurde aber von Grenzposten aufgegriffen und in ein Kinderheim verbracht. Nach ihrer Neuverheiratung im Jahre 1963 war die Mutter des Beschwerdeführers zu seiner Rücknahme in ihren Haushalt nicht (mehr) bereit.

3. Der Rat des Stadtbezirks Berlin-Prenzlauer Berg wies den Beschwerdeführer am 7. September 1962 in das Spezialkinderheim „Rankenheim“ in Groß-Köris ein und am 29. August 1966 in das Sonderkinderheim in Burgstädt. Dort hielt er sich bis zum 25. August 1968 mit einer Unterbrechung vom 9. bis 11. Juli 1968 auf, in der er sich im Durchgangsheim in Alt-Stralau befand. Am 26. August 1968 wurde er in das Jugendheim in der Berliner Ackerstraße eingewiesen, wo er bis zu seiner Unterbringung im Jugendwerkhof in Hennickendorf wohnte. Dort musste er sich vom 29. Juli 1969 bis zum 23.3.1971 aufhalten mit zwei Unterbrechungen vom 14. November 1969 bis zum 16. März 1970 und vom 9. Juni 1970 bis zum 3. Dezember 1970, in denen er sich im Jugendwerkhof Torgau befand. Für die Aufenthalte in Torgau rehabilitierte ihn das Landgericht Berlin mit Beschluss vom 10. August 2011 (551 Rh 368/11).

4. Mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 14. Juli 2017 beantragte der Beschwerdeführer seine strafrechtliche Rehabilitierung u. a. wegen der vorgenannten Aufenthalte in Erziehungsheimen.

5. Das Landgericht Berlin hat den Antrag des Beschwerdeführers vom 14. Juli 2017 auf Rehabilitation wegen haftähnlicher Heimeinweisungen mit Beschluss vom 11. Januar 2019 zurückgewiesen (551 Rh 419 bis 425/17). Zur Begründung hat es ausgeführt, eine Einweisung aus Gründen der politischen Verfolgung lasse sich mangels Archivierung der Akten ebenso wenig feststellen wie ein grobes Missverhältnis der angeordneten Rechtsfolgen zu dem Einweisungsgrund. Das Kammergericht hat die hiergegen gerichtete Beschwerde mit Beschluss vom 10. Dezember 2019 mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Beschwerdeführer aus Fürsorgegründen eingewiesen worden sei. Da er in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 12. Mai 2011 neben seinen Bestrebungen, als Kind zu seinem Vater in die Bundesrepublik Deutschland zu ziehen, und dem siebenmaligen Aufsuchen des Grenzbereichs Alkoholprobleme seiner 1974 an den Folgen des Alkoholkonsums verstorbenen Mutter und unentschuldigtes Fehlen in der Schule angegeben habe, sei die inzwischen in Kraft getretene gesetzliche Vermutung rechtsstaatswidriger Einweisungsgründe widerlegt. Dem entspreche die Tatsache, dass der Abschlussbericht des Sonderkinderheims in Burgstädt vom 6. Juli 1968 einen politisch oder sachfremd motivierten Aufnahmegrund nicht enthalte. In dem schweren individuellen Leid, das ihm widerfahren sei, seien systematische Menschenrechtsverletzungen im Rahmen eines Gesamtunrechtssystems nicht zu erblicken.

6. Mit Beschluss vom 17. April 2020, dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt am 4. Mai 2020, hat das Kammergericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers mit der Begründung fehlender Gehörsverletzungen zurückgewiesen.

7. Gegen den Beschluss vom 10. Dezember 2019, mit dem das Kammergericht die Beschwerde des Beschwerdeführers zurückgewiesen hatte, richtet sich dessen am 3. Juli 2020 eingegangene Verfassungsbeschwerde. Mit dieser macht der Beschwerdeführer die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Rechts auf Ehe und Familie geltend sowie einen Verstoß gegen das Willkürverbot und das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Das Kammergericht habe verkannt, dass die Unaufklärbarkeit des Sachverhalts gemäß § 10 Abs. 3 StrRehaG für das Vorliegen rechtsstaatswidriger Heimaufenthalte streite. Soweit es die Vermutung als widerlegt angesehen habe, habe es seine bereits in seiner Stellungnahme vom 12. Mai 2011 getätigten Angaben zu politisch motivierten Einweisungsgründen und die ihm während der Heimaufenthalte widerfahrene menschenunwürdige Behandlung nicht gehört und die gebotene Aufklärung des Sachverhalts unterlassen. Die Heimeinweisungen seien aufgrund seiner mehrfachen Bestrebungen erfolgt, im Alter von 9 Jahren die Grenze zu passieren und zu seinem in die Bundesrepublik Deutschland ausgereisten Vater zu ziehen. Dass seine (jüngere) Halbschwester von den Behörden bei der Mutter belassen worden und der Vater zu der Übernahme der elterlichen Sorge für ihn bereit gewesen sei, spreche gegen das Vorliegen von Fürsorgegründen für seine Inobhutnahme durch die Behörden. Hiergegen spreche auch, dass er zwecks Umerziehung in geschlossenen, haftähnlichen Heimen untergebracht und mit Essensentzug bis hin zu Unterernährung, schwersten körperlichen und seelischen Misshandlungen, nicht entlohnter Arbeit und Isolationshaft diszipliniert worden sei.

8. Die weiteren Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, aber hiervon keinen Gebrauch gemacht.

II.

9. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

10. 1. Die angegriffene Entscheidung verstößt gegen den Gleichheitssatz in der Ausprägung des Willkürverbots (Art. 10 Abs. 1 VvB), gegen den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes (Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB), und verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB).

11. Nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz – StrRehaG) ist ein Urteil für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben (sog. Rehabilitierung), soweit die Entscheidung der politischen Verfolgung gedient hat (§ 1 Satz 1 Abs. 1 Nr. 1 StrRehaG), die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Missverhältnis zu der zugrunde liegenden Tat stehen (§ 1 Satz 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG) oder die Entscheidung sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 718/08 -, Rn. 19, juris, wonach die Aufzählung nicht abschließend ist). Diese Vorschriften finden nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG auf eine außerhalb eines Strafverfahrens ergangene gerichtliche oder behördliche Entscheidung, mit der eine Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, entsprechende Anwendung, gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG insbesondere auf die Anordnung einer Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, die der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat. Dies gilt gemäß § 2 Abs. 2 StrRehaG auch für das Leben oder die Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen. § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG verpflichtet die Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Nach der am 29. November 2019 – kurz vor der verfahrensgegenständlichen Entscheidung des Kammergerichts vom 10. Dezember 2019 – in Kraft getretenen Vorschrift des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung stattfand, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte.

12. a) Indem das Kammergericht ohne hinreichende Ermittlungen entschieden hat, die Vermutung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG sei widerlegt, hat es die Rechte des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz verletzt.

13. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 15 Abs. 4 VvB muss grundsätzlich zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24. September 2014 – 2 BvR 2782/10 – Rn. 52 juris). Es ist verletzt, wenn die Gerichte die prozessrechtlichen Möglichkeiten zur Sachverhaltsfeststellung so eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung der ihnen vorgelegten Fragen nicht möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht werden kann (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 – 2 BvR 1023/94 – Rn. 19 juris). An die zur Amtsermittlung führende Darlegung durch den Antragsteller sind insoweit keine allzu hohen Anforderungen zu stellen (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2014, a. a. O., Rn. 51 bis 53 juris).

14. Der Beschwerdeführer hat einen rehabilitationsfähigen Sachverhalt dargelegt. Ein solcher ist auch anzunehmen, wenn durch eine Heimeinweisung die Ausreise eines Kindes zu einem aufnahmebereiten Elternteil außerhalb der DDR verhindert werden soll oder die eines Elternteils, der das Kind weiterhin besuchen möchte. Denn das Recht auf Ausreise gehört zu den grundlegenden Menschenrechten und damit zugleich zu den wesentlichen Grundsätzen jeder freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung (Beschluss vom 24. September 2013 – VerfGH 172/11 – Rn. 14 ff, abrufbar unter www.gesetze.berlin.de, unter Hinweis auf Art. 13 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 – AEMR -, Art. 2 Abs. 2 des 4. Zusatzprotokolls vom 16. September 1963 zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – und Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966; BGH, Urteil vom 3. November 1992 – 5 StR 370/92 – juris Rn. 40 ff). Der Beschwerdeführer hatte vorgetragen, Auslöser für seine Heimeinweisungen seien die Ausreise seines Vaters in die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1959 und seine zahlreichen Versuche gewesen, zu ihm zu gelangen. Dieser Vortrag hätte das Kammergericht veranlassen müssen, die näheren Umstände der Ausreise des Vaters des Beschwerdeführers sowie von dessen Heimeinweisungen und Fluchtversuchen abzuklären, etwa durch Vernehmung des Beschwerdeführers, seiner Halbschwester und seines namentlich bekannten Vaters. Es ist nicht ersichtlich, dass alle Möglichkeiten, den Vater ausfindig zu machen, ausgeschöpft worden sind.

15. Nach den oben genannten Maßstäben hat das Kammergericht seine Aufgabe zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verfehlt, indem es den von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Hinweisen auf sachfremde Gründe nicht unter Ausnutzung aller ihm zur Verfügung stehender Mittel nachgegangen ist, sondern den Grund der Einweisungen schon wegen der nicht mehr auffindbaren Unterlagen der Jugendhilfe und der Heime als nicht weiter aufklärbar angesehen hat. Damit hat es dem Beschwerdeführer die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen verweigert.

16. In Betracht kam auf der Basis des Vortrags des Beschwerdeführers zu der ihm in den Heimen widerfahrenen Behandlung und den Sanktionen auch ein sonstiges grobes Missverhältnis zwischen dem Anlass der Heimeinweisung und der angeordneten Unterbringung (OLG Dresden, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 1 Reha Ws 33/18 -, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 16. Juli 2018 – 22 Ws Reha 16/17 -, juris; KG, Beschluss vom 22. Mai 2017 – 4 Ws 47-48/17 REHA – juris) bzw. ihren tatsächlichen Folgen (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. Dezember 2019 – 2 Ws (Reha) 12/19 – juris; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26. Oktober 2017 – 2 Ws (Reh) 36/17 -, Rn. 10 juris). Auch dieses kann einen Rechtsstaatsverstoß im Sinne der Rehabilitierungsvorschriften begründen. Eine hinreichende Tatsachenfeststellung zu möglichen (systematischen) Misshandlungen und menschenunwürdigen Sanktionen hat das Kammergericht unterlassen. Der Vermerk des Beschwerdeführers aus dem Jahre 2011 konnte diese Ermittlungen nicht ersetzen. Im Gegenteil lieferte er Anhaltspunkte für eine weitere Aufklärung. Dem hätte das Kammergericht durch Vernehmung des Beschwerdeführers und – soweit erreichbar – der von ihm bezeichneten Heimmitarbeiter zu den Lebensbedingungen des Beschwerdeführers während seiner Heimaufenthalte nachgehen müssen. Die in § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG vorgesehene Amtsermittlungspflicht der Gerichte berücksichtigt die Nähe der Rehabilitierung zum Strafverfahren und ist eine Ausprägung der besonderen Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Antragstellern vor dem Hintergrund der Schwierigkeit, häufig in ferner Vergangenheit liegende Sachverhalte zu ermitteln. Das Gericht muss Hinweisen auf Rechtsstaatsverstöße unter Ausnutzung aller ihm im Freibeweisverfahren zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. September 2014, a. a. O., Rn. 53 juris und vom 3. Mai 1995, a. a. O., Rn. 20 juris; Herzler, in: Herzler/Ladner/Peifer/Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl. 1997, § 10 StrRehaG Rn. 5 und 8 a. E.).

17. Dem Erfordernis weiterer Ermittlungen steht nicht entgegen, dass die Mutter das Kind nach ihrer Neuverheiratung im Jahre 1963 nicht wieder aufnehmen wollte. Denn der Fürsorgebedarf stellt dann keinen Heimeinweisungsgrund dar, wenn ein anderer Elternteil bereit und in der Lage ist, das Kind bei sich aufzunehmen. Dem ist das Kammergericht ebenso wenig nachgegangen wie der Frage, ob die Verweigerung der Aufnahme des Kindes durch die Mutter zumindest auch durch die Angst vor Repressalien verursacht worden war oder sich sonst als kausale Folge der zwangsweisen Einweisung mit daran anknüpfender Entfremdung und der Angst darstellte, auch ihre Tochter könne ihr von Seiten des Ministeriums für Staatssicherheit weggenommen werden. Dies war angesichts der Vorgeschichte – insbesondere der sog. „Republikflucht“ des Vaters – nicht fernliegend. Der Beschwerdeführer hat zudem vorgetragen, der seit 1963 fehlende Rücknahmewille der Mutter habe auch an dem Einfluss seiner staatsnahen Großeltern gelegen (der Großvater war Volkspolizist, die Großmutter Schwester eines Staatsanwalts), bei denen seine Mutter gewohnt hatte und die seine Einweisung aufgrund seines ständigen Wunsches, zu dem „republikflüchtigen“ Vater zu ziehen, befürwortet hätten. Auch hierzu hätten der Beschwerdeführer und seine Halbschwester gehört werden müssen.

18. Erst wenn das Gericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, entscheidet es in freier Beweiswürdigung, wobei gemäß § 10 Abs. 2 StrRehaG die Glaubhaft-machung und damit die überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2014, a. a. O., Rn. 55 juris aus der Zeit vor Inkrafttreten des § 10 Abs. 3 StrRehaG n. F.). Erst nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten geht die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen zulasten des Antragstellers, dies allerdings nur, soweit nicht zu seinen Gunsten die am 29. November 2019 in Kraft getretene Vermutung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG eingreift.

19. b) Indem das Kammergericht allein auf der Basis des von ihm festgestellten Sachverhalts die gesetzliche Vermutung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG als widerlegt angesehen hat, hat es zudem gegen das Willkürverbot verstoßen.

20. Ein Richterspruch verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich aus diesem Grund nach objektiven Kriterien der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Eine fachgerichtliche Entscheidung ist danach nicht bereits wegen fehlerhafter Rechtsanwendung objektiv willkürlich, sondern erst dann in diesem Sinne schlechterdings unhaltbar, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder ihr Inhalt in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wurde (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2014, a. a. O., Rn. 29 juris).

21. Das ist bei dem Beschluss des Kammergerichts der Fall, weil die Annahme, die Vermutung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG sei widerlegt, auf der Basis des von ihm festgestellten Sachverhalts unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt nachvollziehbar ist.

22. Nach § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG wird ein sachfremder Zweck der Anordnung der Unterbringung in einem Kinderheim vermutet, wenn darin eine zwangsweise Umerziehung erfolgte. Eine die Vermutung begründende Heimeinweisung lag nach der Rechtsansicht des Kammergerichts – die verfassungsrechtlich unbedenklich ist – in Bezug auf jede der Heimunterbringungen des Beschwerdeführers vor. Das Kammergericht sieht diese Vermutung allerdings als widerlegt an, weil kein sachfremder Grund für die Heimeinweisungen vorliege. Die Annahme, die Vermutung sei widerlegt, stützt das Kammergericht auf ungünstige familiäre Verhältnisse des Beschwerdeführers, auf daraus resultierende Fürsorgegründe und auf das Fehlen von Anhaltspunkten für eine Einweisung wegen politischer Verfolgung. Dies genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

23. Ausweislich der Gesetzesbegründung soll sich die aufgrund des Zeitablaufs und des Fehlens archivierter Akten bestehende Beweisnot nicht zulasten des Betroffenen auswirken (BT-Drs. 12/4994, Seite 2, 26 bis 28). Diesem gesetzgeberischen Anliegen wird die Entscheidung des Kammergerichts in keiner Weise gerecht.

24. Das Kammergericht hat ausgeführt, die Angaben des Beschwerdeführers, dass maßgeblicher Grund für die Einweisungsanordnungen und Unterbringungen die sog. „Republikflucht“ seines Vater und der fortlaufende Wunsch, zu ihm nach West-Berlin zu ziehen, gewesen sei, würden durch die durchgeführten weiteren Ermittlungen nicht gestützt. Da er mit der Alkoholsucht der Mutter und seinen Schulproblemen auch Fürsorgeprobleme angegeben habe, sei die gesetzliche Vermutung widerlegt. Damit hat das Kammergericht unberücksichtigt gelassen, dass die Angaben des Beschwerdeführers Anhaltspunkte ergeben haben, wonach neben möglichen Fürsorgegründen zugleich in erheblicher Weise sachfremde politische Gründe vorgelegen haben können. Das Ergebnis der sonstigen Ermittlungen zum Grund der Einweisungen hat keine hinreichenden Erkenntnisse für den einen oder anderen Grund erbracht. Die durchgeführten Ermittlungen bei dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR, dem Bundesarchiv, der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder), der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, fünf weiteren Archiven, verschiedenen Landkreisen, Ämtern, Stadtverwaltungen und Bezirksämtern haben keinerlei Erkenntnisse zu Tage befördert, weil mit Ausnahme einzelner Meldebescheinigungen, des Abschlussberichts des Sonderheims in Burgstädt vom 6. Juli 1968 und seines Entlassungsscheins vom 27. August 1968 jegliche Akten und Unterlagen vernichtet worden waren oder aus sonstigen Gründen fehlten. Der Abschlussbericht enthält keinerlei Angaben zu dem Einweisungsgrund und setzt sich lediglich mit der Persönlichkeit, Entwicklung und dem schulischen Leistungsstand des Beschwerdeführers auseinander. Der Entlassungsschein erschöpft sich in Formalitäten. Für diese Situation der Unerweislichkeit hat der Gesetzgeber die Vermutungsregelung des § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG geschaffen.

25. Auch die sonstigen bisher festgestellten Umstände sprechen gegen eine Widerlegung des sachfremden Zwecks der Anordnungen und gegen die Annahme der Heimeinweisungen aus Kindeswohlgründen. Hierzu gehören insbesondere die Tatsachen, dass die 1955 geborene, zwei Jahre jüngere Halbschwester des Beschwerdeführers trotz angeblicher Kindesgefährdung bei der Mutter belassen wurde, dass die im selben Haushalt lebenden Großeltern auch für den Beschwerdeführer etwaige Erziehungsdefizite hätten ausgleichen können, dass einer Kindeswohlgefährdung bei der Mutter dadurch hätte begegnet werden können, dass das Kind von dem Vater aufgenommen worden wäre, dass der Beschwerdeführer nahezu ausnahmslos in der Umerziehung dienenden, teils geschlossenen Heimen untergebracht war und nicht in regulären, offenen Kinderheimen, dass er nach seinem Vortrag von Art, Ausmaß und Dauer her menschenverachtende Disziplinierungsmaßnahmen erleiden musste, die darauf gerichtet waren, seinen Willen zu brechen, und dass die Mehrzahl der Heime, in denen er sich aufhalten musste, auf Umerziehung ausgerichtet war.

26. Damit stellt sich die Wertung des Kammergerichts in diesem Punkt auf der Grundlage des von ihm festgestellten Sachverhalts als insgesamt nicht mehr vertretbar dar.

27. c) Soweit das Kammergericht die Argumente für eine sachfremde Einweisung – insbesondere das Vorbringen des Beschwerdeführers zu Ausreisebestrebungen von Vater und Sohn und einer alternativen Unterbringung bei seinem Vater in der Bundesrepublik Deutschland – nicht berücksichtigt hat, liegt hierin zugleich ein Verstoß gegen das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör gemäß Art. 15 Abs. 1 VvB, weil es diesen Vortrag von vornherein als unbeachtlich angesehen hat. Der Gehörsverstoß liegt darin, dass Anlass bestanden hätte, den behaupteten Einweisungsgrund im Rahmen der bestehenden Amtsermittlungspflicht weiter aufzuklären und den weiteren Beweisangeboten des Beschwerdeführers nachzukommen, und dies unterblieben ist. Das rechtliche Gehör gebietet nämlich, Argumente des Rechtsschutzsuchenden nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern in Betracht zu ziehen und ihnen gegebenenfalls nachzugehen.

28. 2. Die angegriffene Entscheidung beruht auf den Verfassungsverstößen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Kammergericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung kommen wird, zumal nach seiner Rechtsprechung die Unterbringung in Kinderheimen unter Ausschaltung aufnahmebereiter, in der DDR lebender Verwandter politische Verfolgung indiziert (Beschluss vom 24. September 2013, a. a. O., Rn. 1 bis 17 juris; KG, Beschluss vom 16. Juni 2011 – 2 Ws 351/09 REHA -, juris Rn. 42).

29. Auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Verletzung seines Grundrechts auf Ehe und Familie gemäß Art. 12 VvB kommt es danach nicht mehr an.

III.

30. Die angegriffene Entscheidung wird nach § 54 Abs. 3 VerfGHG aufgehoben und die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes an das Kammergericht zurückverwiesen.

31. Damit ist der Beschluss des Kammergerichts vom 17. April 2020 gegenstandslos.

32. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.

33. Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.

34. Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof abgeschlossen.

Zuletzt aktualisiert am Juli 19, 2021 von eurogesetze

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