EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE S. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 73607/13)
URTEIL
STRASSBURG
27. April 2017
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache S. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits,
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
nach nicht öffentlicher Beratung am 28. März 2017
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 73607/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, S. („der Beschwerdeführer“), am 25. November 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Unter Bezugnahme auf Artikel 8 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass die Staatsanwaltschaft in unverhältnismäßiger Weise Informationen über sein Geschäftskonto erhoben und aufbewahrt habe.
4. Am 3. Februar 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
5. Es ging eine schriftliche Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer ein, die vom Vizepräsidenten ermächtigt worden war, sich als Drittpartei am Verfahren zu beteiligen (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
6. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist in K. wohnhaft. Er ist als Strafverteidiger tätig.
7. Im Jahr 2009 verteidigte der Beschwerdeführer einen Mandanten in einem Strafverfahren. Nach dem Abschluss des Verfahrens und zu einem Zeitpunkt, als sich der Mandant bereits in Haft befand, überwies die Verlobte des Mandanten die Anwaltsgebühren des Beschwerdeführers (1.500 Euro) von ihrem privaten Bankkonto auf das Geschäftskonto des Beschwerdeführers. Der Betreff der Überweisung lautete: „S. Honorar (Nachname des Mandanten)“.
8. In den Jahren 2010 und 2011 ermittelte die Staatsanwaltschaft Bochum gegen mehrere Personen wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs. Bei einem der Verdächtigen handelte es sich um den vorgenannten Mandanten des Beschwerdeführers, der erneut den Beschwerdeführer mit seiner Verteidigung betraute. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurden die Bankkonten mehrerer Personen, darunter der Mandant des Beschwerdeführers und dessen Verlobte, eingesehen. Die Einsichtnahme ergab, dass die Verlobte des Mandanten Geld (7.400 Euro) erhalten hatte, das mutmaßlich aus rechtswidrigen Taten stammte, und dass sie 1.500 Euro an Anwaltsgebühren auf das Geschäftskonto des Beschwerdeführers überwiesen hatte.
9. Aufgrund der Honorarüberweisung der Verlobten an den Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem ersten Strafverfahren wandte sich die Staatsanwaltschaft Bochum auch an die Bank des Beschwerdeführers. Am 1. März 2011 erbat der Staatsanwalt eine Zusammenstellung aller Transaktionen im Zusammenhang mit dem Bankkonto des Beschwerdeführers vom 1. Januar 2009 bis dato. Er forderte die Bank auf, den Beschwerdeführer nicht über diese Anfrage zu informieren. Sein Auskunftsersuchen gründete er auf die §§ 161a, 51 und 70 Strafprozessordnung (im Folgenden „StPO“) i. V. m. § 95 StPO (siehe Rdnrn. 23-25).
10. Am 1. April 2011 ersuchte der Staatsanwalt um weitere Auskünfte und stellte folgende Fragen:
„a) Welche anderen Konten, Depots oder Schließfächer führen Sie zu der betreffenden Person?
b) Welche Verfügungsberechtigungen besitzt die betreffende Person?
c) Wer ist außer der genannten Person noch verfügungsberechtigt?
d) Bestehen andere Konten, bei denen die betreffende Person als wirtschaftlich Berechtigter eingetragen ist?
e) Wenn ja, wie sind die gegenwärtigen Kontostände dieser Konten?
f) Bei von der betreffenden Person aufgelösten Konten teilen Sie bitte mit, wann und mit welchem Saldo sie aufgelöst wurden und wohin anschließend ein Guthaben zur Verfügung gestellt wurde.
g) Welche Postanschriften kennen Sie für die betreffende Person?
h) Sind Ihnen Geldtransfers oder sonstige Transaktionen ins Ausland bekannt? Wenn ja, geben Sie bitte für jeden Transfer bzw. jede Transaktion Bank, Konto und Höhe an.
i) Für bestehende und gelöschte Konten bitten wir um Zusendung einer Zusammenstellung sämtlicher Transaktionen ab dem 1. Januar 2009.
j) Bestehen zu den jeweiligen Konten Kreditkarten?“
11. Die Bank kam beiden Auskunftsersuchen nach und legte der Staatsanwaltschaft die Informationen vor. In beiden Fällen hatte der Staatsanwalt die Bank nicht zur Herausgabe der Informationen verpflichtet, jedoch auf die in der StPO festgelegten Zeugenpflichten und möglichen Konsequenzen im Falle der Nichteinhaltung (siehe Rdnr. 23) hingewiesen.
12. Die erlangten Informationen wurden von der Polizei und dem Staatsanwalt ausgewertet, und eine Zusammenstellung von 53 als erheblich angesehenen Transaktionen wurde als Beweismittel zur Ermittlungsakte genommen. Folglich hatte jeder, dem Akteneinsicht gewährt wurde – etwa die Rechtsanwälte der Mitbeschuldigten – auch Zugang zu den Bankdaten des Beschwerdeführers, einschließlich der Namen seiner Mandanten, die Honorare überwiesen hatten.
13. Am 31. Januar 2012 erhielt der Beschwerdeführer als Verteidiger des Beschuldigten nach mehreren erfolglosen Anträgen Einsicht in die Ermittlungsakte. Aus den Verfahrensakten erfuhr er erstmals von den Ermittlungsmaßnahmen hinsichtlich seines eigenen Bankkontos.
14. Am 24. April 2012 forderte der Beschwerdeführer den Leitenden Oberstaatsanwalt auf, ihm sämtliche von der Bank erhaltenen Unterlagen zu übergeben und alle diesbezüglichen Daten bei der Staatsanwaltschaft zu vernichten. In seinem Antrag hob der Beschwerdeführer seine Rolle als Strafverteidiger hervor, die dem beteiligten Staatsanwalt bekannt gewesen sei, sowie die Folgen für seine Mandanten, deren Namen aus den Bankdaten ersichtlich seien. Er machte ferner geltend, dass es den Ermittlungsmaßnahmen an einer gesetzlichen Grundlage fehle.
15. Am 2. Mai 2012 lehnte der Leitende Oberstaatsanwalt in Bochum den Antrag des Beschwerdeführers ab. Es habe der Verdacht bestanden, dass das von der Verlobten des Mandanten überwiesene Geld aus rechtswidrigen Aktivitäten stamme. Folglich sei es legitim, dass der Staatsanwalt prüfe, ob weitere Geldtransfers zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Mandanten oder dessen Verlobter stattgefunden hätten. Da die Ermittlungsmaßnahmen demnach rechtmäßig gewesen seien, müssten die erlangten Informationen in der Ermittlungsakte verbleiben. Der Leitende Oberstaatsanwalt verwies ferner darauf, dass es keine Rechtsgrundlage für eine Rückgabe oder Entfernung dieser Unterlagen aus der Ermittlungsakte gebe. Als Rechtsgrundlage für das Auskunftsersuchen führte der Leitende Oberstaatsanwalt § 161 StPO an (siehe Rdnr. 22), da es sich bei der betreffenden Bank um ein öffentlich-rechtliches Kreditinstitut handele, das somit als Behörde zu betrachten sei.
16. Im Anschluss wurde die Akte an das Landgericht Bochum („das Landgericht“) weitergeleitet, da das Strafverfahren gegen den Mandanten des Beschwerdeführers begonnen hatte. Der Beschwerdeführer forderte daher das Landgericht auf, die Daten zurückzugeben.
17. Am 19. Juli 2012 lehnte das Landgericht den Antrag des Beschwerdeführers ab. Das Gericht stellte fest, dass die Ermittlungen rechtmäßig gewesen seien, dass die Bank die Unterlagen freiwillig zur Verfügung gestellt habe, dass diese daher auch nur an die Bank und nicht an den Beschwerdeführer zurückgegeben werden könnten, und dass auch das Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO (siehe Rdnr. 28) nicht anwendbar sei, da sich die Informationen nicht im Gewahrsam des Beschwerdeführers befunden hätten. Um gleichwohl dem Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant Rechnung zu tragen, beschloss das Gericht auch, hinsichtlich der in Rede stehenden Unterlagen einen Sonderband anzulegen und nur in begründeten Fällen Einblick in diesen zu gewähren.
18. Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein. Er wandte sich insbesondere gegen die Feststellung, dass die Bank freiwillig gehandelt habe und dass ein hinreichender Tatverdacht für eine derart umfassende Auswertung seiner Bankgeschäfte bestanden habe. Er verwies erneut darauf, dass aufgrund seiner Stellung als Verteidiger verschiedene Garantien in Bezug auf die Beschlagnahme von Unterlagen gegeben seien (siehe Rdnrn. 26 bis 29), die nicht deshalb hätten umgangen werden dürfen, weil ihn und seinen Mandanten betreffende personenbezogene Daten nicht in seinen Geschäftsräumen, sondern durch die Bank und bei der Bank aufbewahrt würden.
19. Am 13. September 2012 bestätigte das Oberlandesgericht Hamm den Beschluss des Landgerichts. Es stellte fest, dass der Beschluss verhältnismäßig sei und die Garantien nicht gelten würden, da die Bank insbesondere nicht als Hilfsperson oder Berufshelferin des Beschwerdeführers im Sinne des § 53a StPO (siehe Rdnr. 27) anzusehen sei.
20. Am 19. September 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2268/12).
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Rechtsgrundlage für die Auskunftsersuchen
21. § 160 StPO verpflichtet die Staatsanwaltschaft zur Sachverhaltsaufklärung, sobald sie von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält.
22. § 161 Abs. 1 StPO lautet, soweit maßgeblich:
„Zu dem in § 160 […] bezeichneten Zweck ist die Staatsanwaltschaft befugt, von allen Behörden Auskunft zu verlangen und Ermittlungen jeder Art entweder selbst vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen zu lassen, soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln.“
23. Nach § 161a sind Zeugen verpflichtet, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen und auszusagen. In den §§ 51 und 70 StPO ist festgelegt, dass den Zeugen, die ohne gesetzlichen Grund das Zeugnis verweigern, die durch die Weigerung verursachten Kosten auferlegt werden können und dass zur Erzwingung des Zeugnisses gegen sie Haft für die Dauer von bis zu sechs Monaten angeordnet werden kann.
24. § 94 StPO lautet, soweit maßgeblich:
„(1) Gegenstände, die als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können, sind in Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen.
(2) Befinden sich die Gegenstände in dem Gewahrsam einer Person und werden sie nicht freiwillig herausgegeben, so bedarf es der Beschlagnahme.“
25. § 95 StPO lautet:
„(1) Wer einen Gegenstand der vorbezeichneten [in § 94 StPO] Art in seinem Gewahrsam hat, ist verpflichtet, ihn auf Erfordern vorzulegen und auszuliefern.
(2) Im Falle der Weigerung können gegen ihn [denjenigen, der sich weigert] die in § 70 bestimmten Ordnungs- und Zwangsmittel festgesetzt werden. Das gilt nicht bei Personen, die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind.“
B. Der Schutz von Rechtsanwälten und das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant
26. § 53 StPO lautet, soweit maßgeblich:
„(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt
[…]
(2) Verteidiger des Beschuldigten über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
(3) Rechtsanwälte […] über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist. Sonstige Mitglieder einer Rechtsanwaltskammer stehen dabei Rechtsanwälten gleich;
[…]”
27. § 53a StPO weitet dieses Zeugnisverweigerungsrecht auf Gehilfen und Personen aus, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der berufsmäßigen Tätigkeit der in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 Genannten teilnehmen.
28. § 97 StPO erweitert das Zeugnisverweigerungsrecht um ein Beschlagnahmeverbot für bestimmte Gegenstände. Die Bestimmung lautet, soweit maßgeblich:
„(1) Der Beschlagnahme unterliegen nicht
1. schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den Personen, die nach § 52 oder § 53 Abs. 1 [Satz 1] Nr. 1 bis 3b das Zeugnis verweigern dürfen;
2. Aufzeichnungen, welche die in § 53 Abs. 1 [Satz 1] Nr. 1 bis 3b Genannten über die ihnen vom Beschuldigten anvertrauten Mitteilungen oder über andere Umstände gemacht haben, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt;
3. andere Gegenstände einschließlich der ärztlichen Untersuchungsbefunde, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der in § 53 Abs. 1 [Satz 1] Nr. 1 bis 3b Genannten erstreckt.
(2) Diese Beschränkungen gelten nur, wenn die Gegenstände im Gewahrsam der zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten sind […]. Die Beschränkungen der Beschlagnahme gelten nicht, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person an der Tat oder an einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist, oder wenn es sich um Gegenstände handelt, die durch eine Straftat hervorgebracht oder zur Begehung einer Straftat gebraucht oder bestimmt sind oder die aus einer Straftat herrühren.
(3) Die Absätze 1 und 2 sind entsprechend anzuwenden, soweit die Hilfspersonen (§ 53a) der in § 53 Abs. 1 [Satz 1] Nr. 1 bis 3b Genannten das Zeugnis verweigern dürfen.
[…]”
29. § 160a StPO lautet, soweit maßgeblich:
„(1) Eine Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen eine in § 53 Absatz 1 [Satz 1] Nummer 1, 2 oder Nummer 4 genannte Person, einen Rechtsanwalt […] richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die diese das Zeugnis verweigern dürfte, ist unzulässig. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht verwendet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsache ihrer Erlangung und der Löschung der Aufzeichnungen ist aktenkundig zu machen. Die Sätze 2 bis 4 gelten entsprechend, wenn durch eine Ermittlungsmaßnahme, die sich nicht gegen eine in Satz 1 in Bezug genommene Person richtet, von dieser Person Erkenntnisse erlangt werden, über die sie das Zeugnis verweigern dürfte.
[…]
(3) Die Absätze 1 und 2 sind entsprechend anzuwenden, soweit die in § 53a Genannten das Zeugnis verweigern dürften.
(4) Die Absätze 1 bis 3 sind nicht anzuwenden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person an der Tat oder an einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist. […]
(5) Die §§ 97 und 100c Abs. 6 bleiben unberührt.“
30. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu § 160a StPO wurde erörtert, ob in § 160a Abs. 4 StPO ein Formerfordernis aufgenommen werden sollte, wonach gegen die zeugnisverweigerungsberechtigte Person ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet sein muss. Letztlich entschied man sich jedoch für die weniger formalistische Voraussetzung, dass „bestimmte Tatsachen“ vorliegen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat (in dem Verfahren 2 BvR 2151/06, 30. April 2007) die Voraussetzung „bestimmte Tatsachen“ im Zusammenhang mit § 100a StPO so ausgelegt, dass die Verdachtsgründe über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen müssen.
C. Einsicht in die Verfahrensakten
31. § 147 StPO regelt die Akteneinsicht und lautet, soweit maßgeblich:
„(1) Der Verteidiger ist befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen sowie amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen.
[…]
(7) Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, sind auf seinen Antrag Auskünfte und Abschriften aus den Akten zu erteilen, soweit dies zu einer angemessenen Verteidigung erforderlich ist, der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, nicht gefährdet werden kann und nicht überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen. […]”
32. Gemäß § 406e StPO kann der Rechtsanwalt, der Verletzte vertritt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage vorzulegen wären, einsehen. Die Einsicht in die Akten ist jedoch zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen.
D. Gerichtliche Überprüfung von Ermittlungsmaßnahmen
33. Gemäß § 98 Abs. 2 StPO kann eine von einer ohne gerichtliche Beteiligung erfolgten Beschlagnahme eines Gegenstands betroffene Person jederzeit die gerichtliche Entscheidung beantragen.
34. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (siehe z. B. 5 ARs (VS) 1/97, 5. August 1998) bietet eine analoge Anwendung von § 98 Abs. 2 StPO die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung aller Ermittlungsmaßnahmen eines Staatsanwalts, wenn eine solche Maßnahme einen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Person darstellte.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION
35. Der Beschwerdeführer rügte, dass die deutschen Behörden ohne rechtfertigenden Grund Informationen über sein Geschäftskonto erhoben, aufbewahrt und zur Verfügung gestellt hätten und damit Informationen über seine Mandanten offengelegt hätten. Er berief sich auf Artikel 8 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat ein Recht auf Achtung ihres Privat(…)lebens (…)
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit […], zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, […].“
A. Zulässigkeit
36. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
37. Der Beschwerdeführer trug vor, dass das Vorgehen der Staatsanwaltschaft Bochum und der innerstaatlichen Gerichte in mehrfacher Hinsicht einen schwerwiegenden Eingriff in sein Privatleben dargestellt habe. Er führte aus, dass Informationen zu allen seinen geschäftlichen Banktransaktionen über einen Zeitraum von nahezu drei Jahren erhoben worden seien, dass diese Informationen anschließend ausgewertet und aufbewahrt worden seien und dass in der Ermittlungsakte eine Zusammenstellung von 53 Transaktionen offenbart worden sei. Insgesamt hätten die Informationen einen umfassenden Überblick über seine berufliche Tätigkeit ermöglicht und Aufschluss über seine Mandantschaft in Bezug auf den betreffenden Zeitraum gegeben. Das Vorgehen des Staatsanwalts habe nicht nur in das Vertrauensverhältnis zwischen ihm als Verteidiger und seinen Mandanten eingegriffen, sondern mit den Auskunftsersuchen an seine Bank sei auch seine Verschwiegenheitspflicht umgangen worden.
38. Der Beschwerdeführer trug vor, in Anbetracht der Schwere des Eingriffs sei § 161 StPO keine geeignete Rechtsgrundlage für die Ersuchen gewesen, weil diese Vorschrift nur geringfügige Eingriffe in die Grundrechte eines Verdächtigen gestatte. Ferner setze § 161 StPO ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen einen Verdächtigen voraus. Gegen ihn sei jedoch kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden und es habe auch kein hinreichender Verdacht bezüglich seiner Beteiligung an einer Straftat bestanden. Was letzteren Gesichtspunkt angeht, wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass die Einsichtnahme in sein Bankkonto allein darauf gestützt worden sei, dass die Verlobte seines Mandanten das Honorar für seine berufliche Tätigkeit als Verteidiger überwiesen habe. Ferner sei die gegen ihn als Rechtsanwalt gerichtete Ermittlungsmaßnahme nach § 160a StPO verboten.
39. Schließlich trug der Beschwerdeführer vor, dass der Eingriff selbst unter der Annahme, dass es eine Rechtsgrundlage für die Auskunftsersuchen gegeben hätte, unverhältnismäßig und nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen wäre. Es hätten keine vernünftigen Gründe für einen derart schwerwiegenden Eingriff vorgelegen und es habe auch keine Verfahrensgarantien zum Schutz seiner Verteidigerrolle, etwa eine richterliche Genehmigung der Auskunftsersuchen, gegeben. Ferner habe die später durch das Landgericht vorgenommene Beschränkung des Zugriffs auf die Zusammenstellung der Banktransaktionen lediglich die Schwere des bestehenden Eingriffs vermindern können, weil die Informationen bereits erhoben und einer unbekannten Anzahl an Personen bekannt geworden seien. Neben den Polizeibeamten, dem Staatsanwalt und den Richtern hätten auch die Verteidiger aller sechs Mitbeschuldigten seines Mandanten Einsicht in seine Banktransaktionen, die Namen seiner Mandanten und die von ihnen gezahlten Honorare nehmen können.
b) Die Regierung
40. Die Regierung erkannte an, dass die Erhebung und Offenbarung der Finanzdaten des Beschwerdeführers einen verhältnismäßig geringfügigen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens dargestellt habe. Sie wies darauf hin, dass es sich bei den betreffenden Informationen um rein finanzielle Informationen gehandelt habe, mit denen keine privaten oder intimen Details des Lebens des Beschwerdeführers preisgegeben worden seien. Ferner sei nur ein kleiner Teil der originären Informationen zu den Verfahrensakten genommen worden und nur ein sehr kleiner Personenkreis, im Wesentlichen die Verteidiger der Mitbeschuldigten, hätten Zugang zu den Verfahrensakten gehabt. Darüber hinaus habe das Landgericht den Zugang zu den Kontodaten auf Personen beschränkt, die ein begründetes Interesse nachweisen konnten.
41. Was die Rechtsgrundlage für die Erhebung und Aufbewahrung der Informationen angeht, trug die Regierung vor, dass § 161 StPO eine „Ermittlungsgeneralklausel“ für „Ermittlungsmaßnahmen von vergleichsweise geringer Eingriffsqualität“ enthalte. Ferner diene die staatsanwaltliche Ermittlungsmaßnahme der Verhütung von Straftaten, einem legitimen Ziel im Sinne des Artikels 8 Abs. 2 der Konvention.
42. Die Regierung brachte vor, der Eingriff sei angesichts der niedrigen Eingriffsintensität und der Schwere der aufzuklärenden Straftaten in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. Der besonderen Stellung des Beschwerdeführers als Rechtsanwalt sei angemessen Rechnung getragen worden, weil die StPO das Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant hinreichend schütze. Gemäß § 160a Abs. 4 StPO gelte dieser Schutz nur dann nicht, wenn ein Rechtsanwalt verdächtigt werde, selbst an einer Straftat oder einer Begünstigung beteiligt zu sein. In der vorliegenden Rechtssache hätten bestimmte Tatsachen diesen Verdacht begründet, denn der Beschwerdeführer habe Geld von der Verlobten des Beschwerdeführers [sic.] erhalten, die selbst unter dem Verdacht gestanden habe, aus Straftaten stammende Gelder erhalten zu haben. Die Regierung wies auch darauf hin, dass § 160a Abs. 4 StPO kein förmliches Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer voraussetze, was aus der Debatte im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens hervorgehe.
43. Die Regierung hob hervor, dass die Bank die Informationen zum Bankkonto des Beschwerdeführers freiwillig zur Verfügung gestellt habe. Der Staatsanwalt habe keine Zwangsmaßnahmen gegen die Bank angewendet, um die Informationen zu erlangen, sondern die Bank lediglich darauf hingewiesen, dass im Falle der Verweigerung der Auskunftserteilung eine mit Zwangsmitteln durchsetzbare Ladung zu einer förmlichen Vernehmung erfolgen könne. Dieser Hinweis an die Bank sei zutreffend gewesen, denn Bankangestellte gälten nicht als Berufshelfer im Sinne des § 53a StPO und hätten daher kein eigenes Zeugnisverweigerungsrecht.
44. Schließlich brachte die Regierung vor, das deutsche Recht sehe hinreichende Verfahrensgarantien vor, die es dem Beschwerdeführer ermöglicht hätten, eine gerichtliche Überprüfung der betreffenden Ermittlungsmaßnahme zu beantragen. Der Beschwerdeführer hätte die Ermittlungsmaßnahme in analoger Anwendung des § 98 Abs. 2 StPO überprüfen lassen können.
c) Die Bundesrechtsanwaltskammer
45. Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Michaud ./. Frankreich (Individualbeschwerde Nr. 12323/11, ECHR 2012) trug die Bundesrechtsanwaltskammer vor, die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zeige, dass vertrauliche Mitteilungen zwischen Rechtsanwälten und Mandanten nach Artikel 8 geschützt seien. Dieser Schutz finde sich auch in der deutschen Strafprozessordnung, denn § 160a StPO verbiete nicht nur Ermittlungsmaßnahmen gegen Berufsgeheimnisträger, sondern beinhalte auch ein absolutes Verbot der Erhebung von Beweisen. Dieses Verbot gelte nach § 160a Abs. 4 StPO nur dann nicht, wenn der Berufsgeheimnisträger verdächtigt werde, an der Straftat beteiligt gewesen zu sein.
46. Die Drittbeteiligte trug ferner vor, der wirksame Schutz vertraulicher Mitteilungen zwischen Rechtsanwälten und Mandanten erfordere eine Ausdehnung der §§ 53a und 97 StPO auf Banken, die über Informationen über die berufliche Tätigkeit eines Rechtsanwalts verfügten, weil Rechtsanwälte nicht nur auf Banktransaktionen angewiesen seien, sondern auch rechtlich verpflichtet seien, sich eines Anderkontos zu bedienen. Die Bundesrechtsanwaltskammer wies zudem darauf hin, dass ein Rechtsanwalt, der die Namen seiner Mandanten preisgebe, nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 wegen der Offenbarung vertraulicher Informationen strafrechtlich belangt und mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden könne.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Das Vorliegen eines Eingriffs in das Privatleben des Beschwerdeführers
47. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Regierung nicht bestritt, dass die Ermittlungshandlung einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens darstellte.
48. Im Hinblick auf die Rechtssachen M.N. u. a. ./. San Marino (Individualbeschwerde Nr. 28005/12, Rdnrn. 51 bis 55, 7. Juli 2015), Brito Ferrinho Bexiga Villa-Nova ./. Portugal (Individualbeschwerde Nr. 69436/10, Rdnr. 44, 1. Dezember 2015) und Michaud (a. a. O., Rdnrn. 90 bis 92) stimmt der Gerichtshof mit den Parteien überein und befindet, dass die Erhebung, Aufbewahrung und Zurverfügungstellung von Daten über die geschäftlichen Banktransaktionen des Beschwerdeführers eine Verletzung seines Rechts auf Achtung seiner beruflichen Verschwiegenheitspflicht und seines Privatleben darstellte.
b) Rechtfertigung des Eingriffs
49. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass ein Eingriff eine Verletzung von Artikel 8 darstellt, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt eines oder mehrere der in Absatz 2 genannten rechtmäßigen Ziele und ist darüber hinaus zur Erreichung dieser Ziele „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ (M. N. u. a. ./. San Marino, a. a. O., Rdnr. 71, m. w. N.).
(i) Gesetzlich vorgesehen
50. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet das Erfordernis, dass ein Eingriff „gesetzlich vorgesehen“ sein muss, nicht nur, dass die betreffende Maßnahme eine gewisse Grundlage im innerstaatlichen Recht haben muss, sondern auch, dass das Gesetz der betroffenen Person zugänglich sein muss und seine Folgen für sie absehbar sein müssen.
51. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Regierung § 161 StPO als Rechtsgrundlage für die Auskunftsersuchen anführte, der Beschwerdeführer hingegen vortrug, dass die Vorschrift keine geeignete Rechtsgrundlage in Bezug auf die vorliegende Rechtssache sei. Er stellt ferner fest, dass es keine konkrete Rechtsgrundlage für die Erhebung von Bankdaten gab, und dass die Regierung § 161 StPO als eine „Ermittlungsgeneralklausel“ für Ermittlungsmaßnahmen von vergleichsweise geringer Eingriffsqualität beschrieb.
52. Was den Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass § 160a Abs. 4 StPO kein förmliches Ermittlungsverfahren gegen den betroffenen Rechtsanwalt voraussetzt, sondern das Verbot von Ermittlungsmaßnahmen gegen Rechtsanwälte nach § 160a Abs. 1 bis 3 StPO außer Kraft gesetzt werden kann, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht der Beteiligung an einer Straftat begründen.
53. Nach Ansicht des Gerichtshofs sind die §§ 161 und 160a StPO eher allgemein formuliert. Er weist erneut darauf hin, dass es im Zusammenhang mit der verdeckten Gewinnung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse unerlässlich ist, über klare und detaillierte Regeln zum Umfang und zur Anwendung dieser Maßnahmen sowie über Mindestgarantien zu verfügen, u. a. hinsichtlich der Dauer, Aufbewahrung und Verwendung der Daten, des Zugangs Dritter, der Verfahren zur Wahrung der Unversehrtheit und Vertraulichkeit der Daten und der Verfahren zu ihrer Vernichtung, und damit hinreichende Garantien gegen Missbrauch und Willkür zu gewährleisten (siehe S. und Marper ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 30562/04 und 30566/04, Rdnr. 99, ECHR 2008, m. w. N.). Der Gerichtshof gelangt jedoch zu dem Schluss, dass diese wichtigen Fragestellungen im vorliegenden Fall eng mit der weitergehenden Frage nach der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft verbunden sind, und er wird sie daher im Rahmen dieser Frage prüfen (siehe Rdnrn. 55 bis 62).
(ii) Legitimes Ziel
54. Die Regierung trug vor, dass die Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft Verhütung von Straftaten gedient hätten, was von dem Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt werde. Der Gerichtshof erkennt an, dass der Eingriff die Ermittlung einer Straftat zum Ziel hatte und damit den legitimen Zielen der Verhütung von Straftaten, dem Schutz der Rechts und Freiheiten anderer und auch dem wirtschaftlichen Wohl des Landes diente (vgl. M.N. u. a. ./. San Marino, a. a. O., Rdnr. 75).
(iii) „In einer demokratischen Gesellschaft notwendig“
(α) Allgemeine Grundsätze
55. Was die Frage betrifft, ob ein Eingriff zur Verfolgung eines legitimes Ziels „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, setzt der Begriff der „Notwendigkeit“ nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs voraus, dass der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und insbesondere in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel verhältnismäßig ist (siehe B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 41604/98, Rdnr. 44, ECHR 2005‑IV, m. w. N.). Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen Überwachung einher, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, in denen sie angewendet wird (siehe u. v. a. Roman Zakharov ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 47143/06, Rdnr. 232, ECHR 2015). Die in Artikel 8 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen sind eng auszulegen, und ihre Notwendigkeit muss in einem konkreten Fall überzeugend nachgewiesen werden (siehe Crémieux ./. Frankreich, 25. Februar 1993, Rdnr. 38, Serie A Nr. 256‑B).
56. Bei der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs muss der Gerichtshof überzeugt sein, dass es hinreichende und angemessene Garantien gegen Willkür gab, einschließlich der Möglichkeit einer wirksamen Kontrolle der betreffenden Maßnahme (siehe M.N. u. a. ./. San Marino, a. a. O., Rdnr. 73, m. w. N.). Der Gerichtshof hat bereits in früheren Entscheidungen die Bedeutung spezifischer Verfahrensgarantien anerkannt, wenn es darum geht, die Vertraulichkeit von Mitteilungen zwischen Rechtsanwalt und Mandant und das Anwaltsgeheimnis zu schützen (siehe Michaud a. a. O., Rdnr. 130). Er hat hervorgehoben, dass es unter strenger Aufsicht möglich ist, Rechtsanwälten bestimmte Verpflichtungen in Bezug auf ihr Verhältnis zu ihren Mandanten aufzuerlegen, beispielsweise wenn es plausible Beweise für die Beteiligung des Rechtsanwalts an einer Straftat gibt und im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Geldwäsche. Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass die Konvention einer Regelung des innerstaatlichen Rechts, die die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei gestattet, nicht entgegensteht, solange geeignete Garantien vorgesehen sind, wie etwa die Anwesenheit eines Vertreters (oder Präsidenten) einer Rechtsanwaltskammer (siehe André u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 18603/03, 24. Juli 2008, und Roemen und Schmit ./. Luxemburg, Individualbeschwerde Nr. 51772/99, Rdnr. 69, ECHR 2003‑IV, in der keine Verletzung des Artikels 8 festgestellt wurde; und Xavier Da Silveira ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 43757/05, Rdnrn. 37, 43, 21. Januar 2010, in der wegen des Fehlens einer solchen Garantie eine Verletzung des Artikels 8 festgestellt wurde).
(β) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
57. Im Hinblick auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache nimmt der Gerichtshof zunächst den weitreichenden Umfang der Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis, die Informationen zu sämtlichen Transaktionen im Zusammenhang mit dem Geschäftskonto des Beschwerdeführers über einen Zeitraum von über zwei Jahren sowie Informationen über weitere, möglicherweise private Bankkonten des Beschwerdeführers betrafen. Er stimmt mit dem Beschwerdeführer darin überein, dass die von der Bank erteilten Auskünfte dem Staatsanwalt und der Polizei einen umfassenden Überblick über seine berufliche Tätigkeit in dem betreffenden Zeitraum ermöglichte und ihnen darüber hinaus Aufschluss über seine Mandanten gab. Er ist ebenfalls der Auffassung, dass der Eingriff dadurch schwerwiegender wurde, dass Auszüge der Informationen in die Verfahrensakten aufgenommen und anderen Personen zur Verfügung gestellt wurden. Die Tatsache, dass nur 53 Transaktionen als relevant angesehen und in die Verfahrensakten aufgenommen wurden und dass das Landgericht den Zugriff auf die entsprechenden Teile der Verfahrensakten später beschränkte, konnte dem bereits bestehenden Eingriff nicht abhelfen, sondern lediglich seine Schwere begrenzen. Zusammenfassend kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Auskunftsersuchen lediglich in Bezug auf den in Rede stehenden Zeitraum begrenzt waren, ansonsten aber sämtliche Informationen über das Bankkonto und die Banktransaktionen des Beschwerdeführers betrafen. Er wird daher prüfen, ob die Unzulänglichkeiten bei der Begrenzung der Auskunftsersuchen durch hinreichende Verfahrensgarantien ausgeglichen wurden, die den Beschwerdeführer gegen Missbrauch und Willkür schützen konnten (siehe sinngemäß Robathin ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 30457/06, Rdnr. 47, 3. Juli 2012).
58. Der Gerichtshof nimmt den Vortrag der Regierung zur Kenntnis, wonach § 161 StPO die Rechtsgrundlage für die Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft und die anschließende Erhebung und Aufbewahrung der Bankdaten gewesen sei. Er stellt ferner fest, dass § 161 StPO Eingriffe von vergleichsweise geringer Qualität gestattet, sobald der Verdacht einer Straftat besteht, und dass die Regierung die Vorschrift als „Ermittlungsgeneralklausel“ beschrieb. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Schwelle für Eingriffe nach § 161 StPO relativ niedrig ist und die Vorschrift keine besonderen Garantien vorsieht.
59. Die Regierung brachte ferner vor, dass die Bank die Informationen über das Bankkonto des Beschwerdeführers freiwillig zur Verfügung gestellt habe und der Staatsanwalt keine Zwangsmaßnahmen angewendet habe, um die Informationen zu erlangen. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass die Auskunftsersuchen Hinweise an die Bank enthielten, wonach im Falle der Verweigerung der Erteilung der erbetenen Auskünfte eine mit Zwangsmitteln durchsetzbare Ladung zu einer förmlichen Vernehmung erfolgen könne. Daher hat der Gerichtshof Zweifel, ob die Bank vollständig freiwillig handelte. Darüber hinaus weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Aufbewahrung oder Erhebung von Daten, die das „Privatleben“ einer Person betreffen, einen Eingriff im Sinne des Artikels 8 darstellt, ungeachtet dessen, wer im Besitz des Mediums ist, auf dem sich die Informationen befinden (siehe sinngemäß M.N. u. a. ./. San Marino, a. a. O., Rdnr. 53; Valentino Acatrinei ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 18540/04, Rdnr. 53, 25. Juni 2013; U. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 35623/05, Rdnr. 49, ECHR 2010 (Auszüge); und Lambert ./. Frankreich, 24. August 1998, Rdnr. 21, Reports of Judgments and Decisions 1998‑V).
60. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof auch fest, dass der Regierung und den innerstaatlichen Behörden zufolge Banken und Bankangestellte nicht als Berufshelfer im Sinne des § 53a StPO gelten und daher kein eigenes Zeugnisverweigerungsrecht haben. Da der Beschwerdeführer und die Drittbeteiligte diese Auslegung des § 53a StPO bestritten, hält es der Gerichtshof für erforderlich, erneut darauf hinzuweisen, dass es in erster Linie den innerstaatlichen Behörden, insbesondere den Gerichten, obliegt, Probleme der Auslegung innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu lösen, und die Aufgabe des Gerichtshofs darin besteht zu prüfen, ob die Auswirkungen dieser Auslegung mit der Konvention vereinbar sind (siehe M.N. u. a. ./. San Marino, a. a. O., Rdnr. 80, m. w. N.). Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die von den innerstaatlichen Behörden vorgenommene Auslegung des § 53a StPO in der vorliegenden Rechtssache wirkungslos war, weil die innerstaatlichen Behörden und Gerichte zu dem Ergebnis gelangten, dass § 160a Abs. 4 StPO Ermittlungsmaßnahmen gegen den Beschwerdeführer gestatte. Folglich hätten auch etwaige in § 53a StPO vorgesehene Garantien nicht gegriffen.
61. Der Gerichtshof stellt fest, dass § 160a StPO eine spezifische Garantie für Rechtsanwälte und das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant vorsieht. Er stellt jedoch auch fest, dass dieser Schutz nach § 160a Abs. 4 StPO ausgesetzt werden kann, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht der Beteiligung an einer Straftat begründen. Der Regierung zufolge, die auf die Debatte im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens verwies, setzt § 160a Abs. 4 StPO nicht voraus, dass ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen einen Rechtsanwalt eingeleitet sein muss, bevor der Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht ausgesetzt wird. Nach Ansicht der innerstaatlichen Behörden und Gerichte war der Verdacht gegen den Beschwerdeführer hinreichend dadurch begründet, dass die Verlobte des Mandanten des Beschwerdeführers Honorare an den Beschwerdeführer überwiesen hatte, und der Verdacht bestand, dass aus Straftaten stammende Gelder auf das Bankkonto der Verlobten überwiesen worden waren. Auf der Grundlage der von den Parteien vorgelegten Informationen und Unterlagen vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass der Verdacht gegen den Beschwerdeführer eher vage und unbestimmt war.
62. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Einsichtnahme in das Bankkonto des Beschwerdeführers nicht von einer Justizbehörde angeordnet worden war und dass keine „spezifischen Verfahrensgarantien“ (siehe Rdnr. 56) angewendet wurden, um das Anwaltsgeheimnis zu schützen. Soweit die Regierung vortrug, dass der Beschwerdeführer in analoger Anwendung des § 98 Abs. 2 StPO die Maßnahmen hätte gerichtlich überprüfen lassen können, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung einen hinreichenden Schutz bieten kann, wenn ein Überprüfungsverfahren zu einem früheren Zeitpunkt den Zweck einer Untersuchung oder Überwachung gefährden würde. Allerdings ist die Wirksamkeit einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung untrennbar mit der Frage der nachträglichen Benachrichtigung über die Überwachungsmaßnahmen verbunden. Grundsätzlich gibt es für die Anrufung der Gerichte durch eine betroffene Person nur wenig Raum, sofern sie nicht von den Maßnahmen, die ohne ihr Wissen ergriffen wurden, unterrichtet wird und so deren Rechtmäßigkeit nachträglich anfechten kann (siehe Roman Zakharov, a. a. O., Rdnr. 234; K. u. a. ./. Deutschland, 6. September 1978, Rdnr. 57, Serie A Individualbeschwerde Nr. 28; W. und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 54934/00, Rdnr. 135, 29. Juni 2006; und U. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 72). Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass der Staatsanwalt die Bank bat, dem Beschwerdeführer gegenüber nichts von seinen Auskunftsersuchen zu erwähnen, dass der Beschwerdeführer über die Einsichtnahme in sein Geschäftskonto durch den Staatsanwalt nicht informiert war und dass er von den Ermittlungsmaßnahmen bezüglich seines eigenen Bankkontos erst aus den Verfahrensakten erfuhr. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass eine Benachrichtigung des Beschwerdeführers zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben war, er aber dennoch durch Zufall von den Ermittlungsmaßnahmen erfuhr und Zugang zu einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung der Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft hatte.
63. Im Hinblick auf die niedrige Schwelle für die Einsichtnahme in das Bankkonto des Beschwerdeführers, den weitreichenden Umfang der Auskunftsersuchen, der anschließenden Offenlegung und fortdauernden Aufbewahrung der personenbezogenen Daten des Beschwerdeführers und der Unzulänglichkeit der Verfahrensgarantien kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Eingriff nicht verhältnismäßig und damit nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Folglich ist Artikel 8 der Konvention verletzt worden.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
64. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
65. Der Beschwerdeführer forderte 4.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden.
66. Die Regierung hat sich zu der Forderung des Beschwerdeführers nicht geäußert.
67. Der Gerichtshof entscheidet nach Billigkeit und spricht dem Beschwerdeführer 4.000 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden zu.
B. Kosten und Auslagen
68. Der Beschwerdeführer hat keine Forderung bezüglich der Kosten und Auslagen gestellt. Nach Auffassung des Gerichtshofs besteht daher keine Veranlassung, ihm diesbezüglich einen Geldbetrag zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
69. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 8 der Konvention ist verletzt worden;
3.
a) der beklagte Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig wird, 4.000 Euro (viertausend Euro) zuzüglich der gegebenenfalls zu berechnenden Steuer als Entschädigung für den immateriellen Schaden zu zahlen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 27. April 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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