PERELMAN ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 32745/17

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 32745/17
X. P. und Y. P.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 13. Juni 2017 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Nona Tsotsoria,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer und
Lәtif Hüseynov,
sowie Milan Blaško, stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 28. April 2017 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die 19.. geborenen Beschwerdeführer, X. P. und Y. P., sind französische Staatsangehörige und in F. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof werden sie von Herrn S., Rechtsanwalt in B., vertreten.

2. Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Im November 2002 zogen die Beschwerdeführer von Frankreich nach F. in Deutschland. Am 11. November 2002 reichten sie bei der örtlichen Meldebehörde ein Anmeldeformular ein, um die Behörde über ihren neuen Wohnsitz zu unterrichten. In dem Formular war die Religionszugehörigkeit anzugeben und die Beschwerdeführer gaben diese in der entsprechenden Rubrik übereinstimmend als „mosaisch“ an.

4. Die Beschwerdeführer blieben Mitglieder ihrer liberal ausgerichteten jüdischen Gemeinde in Frankreich.

5. Mit Schreiben vom 12. Mai 2003 begrüßte die jüdische Gemeinde F. die Beschwerdeführer als neue Mitglieder. Dem Schreiben war eine Kopie der Satzung beigefügt. Gemäß dieser Satzung waren alle Personen jüdischen Glaubens, die in F. ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten, Mitglieder der Gemeinde, sofern sie dem nicht binnen drei Monaten nach ihrem Zuzug gegenüber dem Gemeindevorstand schriftlich widersprachen.

6. Mit Schreiben vom 11. Juni 2003 widersprachen die Beschwerdeführer ihrer Mitgliedschaft. Ferner beantragten sie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und wiesen darauf hin, dass sie die Satzung der Gemeinde erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist erhalten hätten.

7. Da die Gemeinde ihren Widerspruch nicht akzeptierte, traten die Beschwerdeführer mit Wirkung zu Ende Oktober 2003 vorsorglich aus der Gemeinde aus. Dies wurde von der Gemeinde akzeptiert.

8. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts erhebt die Jüdische Gemeinde F. von ihren Mitgliedern eine von den staatlichen Finanzbehörden eingezogene Kirchensteuer auf der Grundlage des individuellen Einkommens. Für den Zeitraum von November 2002 bis Oktober 2003 erhob das Finanzamt F. von den Beschwerdeführern Kirchensteuer. In einem gesonderten Verfahren, das nicht Gegenstand des vorliegenden Individualbeschwerdeverfahrens ist, wendeten sich die Beschwerdeführer gegen die Zahlung der Kirchensteuer.

9. Am 9. Juni 2005 erhoben die Beschwerdeführer gegen das Verwaltungsgericht Klage auf Feststellung, dass sie zwischen November 2002 und Oktober 2003 nicht Mitglieder der Gemeinde gewesen seien.

10. Am 20. September 2005 wies das Verwaltungsgericht die Klage als unzulässig ab, da kein berechtigtes Interesse an solch einem Urteil bestehe.

11. Die Beschwerdeführerinnen legten Berufung ein; der Verwaltungsgerichtshof des betroffenen Bundeslandes wies diese am 19. Mai 2009 zurück. Der Verwaltungsgerichtshof befand, dass die Klage der Beschwerdeführer zulässig, aber unbegründet sei, da ihre Mitgliedschaft auf innerreligionsgemeinschaftlichem Recht beruhe, welches in Anbetracht des Grundsatzes der Autonomie religiöser Organisationen von den staatlichen Behörden anzuerkennen sei.

12. Am 23. September 2010 hob das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs auf. Es stellte fest, dass die Mitgliedschaft der Beschwerdeführer keine Rechtswirkung im staatlichen Bereich entfalten könne. Zur Begründung führte das Bundesverwaltungsgericht an, dass der Staat ungeachtet des Selbstbestimmungsrechts religiöser Organisationen die Pflicht habe, die negative Religionsfreiheit zu wahren. Daher müsse festgestellt werden, ob die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft auf einer freiwilligen Entscheidung beruhe. Unter den Umständen des vorliegenden Falles könne die in dem Anmeldeformular gemachte Angabe, die Beschwerdeführer gehörten der „mosaischen“ Religion an, nicht als Bekundung der Bereitschaft angesehen werden, Mitglied der örtlichen jüdischen Gemeinde zu werden.

13. Nachdem die Jüdische Gemeinde F. am 17. Dezember 2014 Verfassungsbeschwerde erhoben hatte (2 BvR 278/11) hob eine aus drei Richtern bestehende Kammer des Bundesverfassungsgerichts das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass das Recht der Gemeinde aus Artikel 4 Absätze 1 und 2 in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes und Artikel 137 Absatz 3 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 verletzt worden sei. Das Gericht befand, dass das Bundesverwaltungsgericht den Umfang und die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts, das religiösen Gemeinschaften durch die genannten grundgesetzlichen Bestimmungen verbürgt werde, nicht zutreffend beurteilt habe. Mitgliedschaftliche Regelungen seien Angelegenheiten, über welche die Religionsgemeinschaften in eigenem Ermessen frei zu entscheiden hätten. Die Pflicht des Staates, das Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften für den säkularen Bereich anzuerkennen, werde durch die negative Religionsfreiheit potenzieller Mitglieder beschränkt. Die von Religionsgemeinschaften vorgenommen Eingliederung als Mitglied sei anzuerkennen, wenn sie durch eine positive – wenn auch möglicherweise nur konkludente – Erklärung legitimiert sei. Der Wille, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, könne auf verschiedene Weise zum Ausdruck gebracht werden. Er müsse nicht notwendigerweise gegenüber der Religionsgemeinschaft selbst bekundet werden. Aus den von den Beschwerdeführern gegenüber dem Einwohnermeldeamt in Frankfurt am Main gemachten Angaben sei nach dem objektivierten Empfängerhorizont erkennbar, dass die Beschwerdeführer ihren Willen bekundet hätten, der Jüdischen Gemeinde F. anzugehören.

14. Am 21. September 2016 wies das Bundesverwaltungsgericht, an das die Rechtssache zurückverwiesen worden war, die Revision der Beschwerdeführer zurück. Es wies darauf hin, dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus verfahrensrechtlichen Gründen bindend sei. Jedoch äußerte es Zweifel an der Vereinbarkeit der Entscheidung mit Artikel 9 der Konvention. Es stellte insbesondere fest, dass das Bundesverfassungsgericht der Tatsache, dass die Beschwerdeführer in dem in Rede stehenden Anmeldeformular nicht nach ihrer rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, sondern nach ihrer Religion gefragt worden seien, keine Bedeutung beigemessen habe. Obwohl sich die jüdische Gemeinde F. selbst als Einheitsgemeinde verstehe, stehe es jeder Person, die in ihrem Gemeindegebiet lebe, frei, sich einer anderen jüdischen Gemeinschaft anzuschließen. Aufgrund der Bindungswirkung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts sah sich das Bundesverwaltungsgericht daran gehindert, seine Entscheidung auf diese Aspekte zu stützen.

15. Am 23. November 2016 erhoben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (2 BvR 2595/16). Die Beschwerde ist noch anhängig. Unter Berufung auf Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes und Artikel 9 der Konvention und unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshof rügten sie insbesondere, dass ihre Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde F. nicht auf ihrem Einverständnis beruhe.

RÜGE

16. Nach den Artikeln 9 und 11 der Konvention rügten die Beschwerdeführer, die Anerkennung ihrer nicht auf ihrem Einverständnis beruhenden Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft durch die innerstaatlichen Gerichte. Sie betonten, sie hätten nicht erklärt, Mitglied der Jüdischen Gemeinde F. werden zu wollen, die orthodox ausgerichtet sei und nicht ihre liberalen und fortschrittlichen Einstellungen vertrete. Aus ihrer Sicht sei nicht vorhersehbar gewesen, dass die in dem Anmeldeformular gemachte Angabe als entsprechende Willenserklärung angesehen würde, insbesondere, da sie nicht nach nicht nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, sondern nach ihrer Religion gefragt worden seien.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

17. Nach den Artikeln 9 und 11 der Konvention rügten die Beschwerdeführer die Anerkennung ihrer nicht auf ihrem Einverständnis beruhenden Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft durch die innerstaatlichen Gerichte.

18. Die Artikel 9 und 11 der Konvention lauten, soweit maßgeblich, wie folgt:

Artikel 9

„1. Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

[…]“

Artikel 11

„1. Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen […]“

19. Der Gerichtshof hält es in der vorliegenden Rechtssache jedoch nicht für erforderlich, darüber zu entscheiden, ob der Sachverhalt, so wie er von den Beschwerdeführern vorgebracht wurde, Anzeichen für eine Verletzung der Konvention erkennen lässt.

20. Gemäß Artikel 35 Absatz 1 der Konvention kann sich der Gerichtshof gemäß den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe befassen. Der Gerichtshof soll gegenüber den nationalen Systemen zum Schutz der Menschenrechte nur eine subsidiäre Rolle einnehmen und es ist sachgerecht, zunächst den nationalen Gerichten die Möglichkeit zu geben, Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit des innerstaatlichen Rechts mit der Konvention zu entscheiden. In einem Rechtssystem, das einen verfassungsmäßigen Grundrechtsschutz bietet, obliegt es der geschädigten Person, den Umfang dieses Schutzes zu testen (A, B und C ./. Irland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25579/05, Rdnr. 142, ECHR 2010). Der Grundsatz, dass Beschwerdeführer, bevor sie ein internationales Gericht anrufen dürfen, zunächst von den nach der nationalen Rechtsordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen Gebrauch machen müssen, ist ein wichtiger Aspekt des auf der Konvention basierenden Kontrollsystems. Der Gerichtshof sollte von den Ansichten der nationalen Gerichte profitieren können, da diese direkten und ständigen Kontakt zu den in ihren Ländern wirkenden Kräften haben (Burden ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13378/05, Rdnr. 42, ECHR 2008).

21. Jedoch muss Artikel 35 Absatz 1 relativ flexibel und ohne übermäßigen Formalismus angewandt werden (D.H. u. a. ./. Tschechische Republik [GK], Individualbeschwerde Nr. 57325/00, Rdnr. 116, ECHR 2007‑IV). Beschwerdeführer sind nicht verpflichtet, innerstaatliche Rechtsbehelfe zu verfolgen, die keine angemessene Aussicht auf Erfolg bieten (Aksoy ./. Türkei, 18. Dezember 1996, Rdnr. 52, Reports of Judgments and Decisions 1996-VI). Es kann nicht von einer mangelnden Rechtswegerschöpfung ausgegangen werden, wenn ein Beschwerdeführer anhand maßgeblicher innerstaatlicher Rechtsprechung oder anderer geeigneter Beweise belegen kann, dass ein verfügbarer Rechtsbehelf, von dem er keinen Gebrauch gemacht hat, keine Aussicht auf Erfolg hatte (M. ./. Deutschland [Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 22448/07, 19. Januar 2010). Bloße Zweifel hinsichtlich der Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde entbinden einen Beschwerdeführer nicht von der Verpflichtung, diesen Rechtsbehelf auszuschöpfen (siehe A. u. a. ./. Deutschland [Entsch.], Individualbeschwerde Nr. 44911/98, 19. Januar 1999).

22. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache gegen das zweite Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Verfassungsbeschwerde erhoben und diese noch anhängig ist. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass sie die Verfassungsbeschwerde nur vorsorglich für den Fall eingelegt hätten, dass der Gerichtshof sie als einen zu erschöpfenden innerstaatlichen Rechtsbehelf ansehe. Sie machen geltend, dass die Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unter den gegenwärtigen Umständen keine Erhebung einer Verfassungsbeschwerde erfordere, da das Bundesverfassungsgericht bereits über den Fall entschieden und dabei die Wahrung der negativen Religionsfreiheit der Beschwerdeführer, die bereits eine Stellungnahme eingereicht hätten, berücksichtigt habe.

23. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht in der Regel ein wirksamer und zugänglicher Rechtsbehelf ist, es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, aufgrund derer der Gerichtshof zu dem Schluss gelangen muss, dass die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte (M. ./. Deutschland [Entsch.], a. a. O.). Eine Verfassungsbeschwerde kann nicht alleine deshalb als aussichtslos betrachtet werden, weil das Bundesverfassungsgericht aufgrund einer früheren Verfassungsbeschwerde bereits einmal in dem Fall entschieden hat (vgl. S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 78944/12, 25. August 2015). Welche Schlussfolgerungen aus einer ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gezogen werden können, hängt von den konkreten Umständen des Falles ab.

24. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinem zweiten Urteil ernsthafte Zweifel daran äußerte, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit Artikel 9 der Konvention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar sei. Dabei berücksichtigte es verschiedene Aspekte, die weder in seinem ersten Urteil noch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts behandelt worden waren. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs rügten die Beschwerdeführer in ihrer noch anhängigen Verfassungsbeschwerde, dass die Anerkennung ihrer Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde F. durch die innerstaatlichen Gerichte gegen Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes und Artikel 9 der Konvention verstoßen habe.

25. In Anbetracht dieser Umstände ist der Gerichtshof nicht in der Lage, die Möglichkeit auszuschließen, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zur Entscheidung annehmen und den Fall erneut prüfen könnte. Daher kann der Gerichtshof nicht zu dem Schluss gelangen, dass die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat.

26. Unter diesen Umständen und in Anbetracht des subsidiären Charakters des Kontrollmechanismus der Konvention gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Beschwerde verfrüht ist. Sie ist daher nach Artikel 35 Absätze 1 und 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 6. Juli 2017.

Milan Blaško                                                   Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                     Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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