RECHTSSACHE BECHT ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 79457/13

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE B. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 79457/13)
URTEIL
STRASSBURG
6. Juli 2017

Dieses Urteil ist endgültig, kann aber redaktionell noch überarbeitet werden.

In der Rechtssache B. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Ausschuss mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Yonko Grozev und
Gabriele Kucsko-Stadlmayer
sowie Anne-Marie Dougin, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 13. Juni 2017

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 79457/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, B. („der Beschwerdeführer“), am 10. Dezember 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn S., Rechtsanwalt in M., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Am 6. März 2014 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

4. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist derzeit in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt S. untergebracht.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

5. Am 6. Oktober 1987 sprach das Landgericht Landshut den Beschwerdeführer u. a. der Vergewaltigung in zwei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung in einem Fall, der versuchten Vergewaltigung und des schweren Raubes schuldig. Es verurteilte den Beschwerdeführer, der bei seinen Taten uneingeschränkt schuldfähig war, zu einer Freiheitsstrafe von dreizehn Jahren. Darüber hinaus ordnete das Landgericht, nachdem eine in diesem Urteil erstmalig erfolgte Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Beschwerdeführer durch den Bundesgerichtshof aufgehoben worden war, am 25. Juli 1988 erneut nach § 66 Abs. 2 und 1 StGB die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an (siehe Rdnr. 24).

6. Das Landgericht stellte fest, der Beschwerdeführer habe einen Hafturlaub zur Flucht aus der Justizvollzugsanstalt (JVA), wo er eine Freiheitsstrafe wegen Vergewaltigung verbüßte, genutzt und habe zwischen Juni und August 1986 erneut eine zweiundzwanzigjährige Frau und ein sechzehnjähriges Mädchen auf einem Feldweg vergewaltigt sowie versucht, eine weitere zufällig ausgewählte Frau zu vergewaltigen, und habe unter Anwendung von Gewalt oder Drohungen zwei Pkw entwendet. Es schloss sich den Erkenntnissen des medizinischen Sachverständigen W. an, der bei dem Beschwerdeführer eine nicht krankheitswertige und daher die Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers nicht beeinträchtigende seelische Abartigkeit mit schizoiden und psychopatischen Zügen und einen Hang zur Begehung schwerwiegender Sexualstraftaten und Eigentumsdelikte festgestellt hatte.

7. Am 10. April 2002 wurde der Beschwerdeführer nach vollständiger Verbüßung seiner Freiheitsstrafen erstmals in der Sicherungsverwahrung untergebracht.

B. Das erste in Rede stehende Verfahren

8. Am 13. Dezember 2011 ordnete das Landgericht Marburg die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers auch über den 9. April 2012 hinaus, an dem der Beschwerdeführer zehn Jahre in dieser Form der Unterbringung verbracht haben würde, an.

9. Das Landgericht war der Auffassung, dass die nach § 67d Abs. 3 StGB erforderlichen und nach Maßgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 geänderten Bedingungen für eine Verlängerung dieser Unterbringung über den Zehnjahreszeitraum hinaus gegeben seien (siehe Rdnr. 24).

10. Nach Anhörung des Beschwerdeführers, seines Rechtsanwalts, der Staatsanwaltschaft, des psychiatrischen Sachverständigen J. und eines Vertreters der JVA S. befand das Landgericht, dass weiterhin die hochgradige Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer aufgrund konkreter Umstände in seiner Person und seinem Verhalten im Falle seiner Entlassung schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten begehen würde. Es verwies in dieser Hinsicht auf die früheren Verurteilungen des Beschwerdeführers wegen zahlreicher Vergewaltigungen zufällig ausgewählter Opfer, die schwerste seelische Schäden davongetragen hätten, sowie wegen Raubes unter Zufügung potenziell tödlicher Stiche in die Brust. Ferner habe der Beschwerdeführer keine der ihm zur Auseinandersetzung mit seinen Taten angebotenen Therapien abgeschlossen.

11. Das Landgericht stellte außerdem fest, dass der Beschwerdeführer an einer psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 ThUG leide (siehe Rdnr. 24). Der Sachverständige J. habe bei dem Beschwerdeführer in seinem Gutachten vom 15. September 2011 unter Bezugnahme auf das maßgebliche Diagnoseklassifikationssystem lCD-10[1] eine dissoziale und schizoide Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, die als psychische Störung im Sinne des genannten Gesetzes einzustufen sei. Darüber hinaus berücksichtigte das Gericht auch das in einem früheren Verfahren von der psychiatrischen Sachverständigen B. vorgelegte Gutachten vom 27. Dezember 2004, in dem diese bei dem Beschwerdeführer bereits eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und psychopatischen Anteilen festgestellt hatte.

12. Am 13. März 2012 verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers, wobei es sich den vom Landgericht angeführten Gründen anschloss.

13. Am 13. Juni 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe zu bewilligen und die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 963/13).

C. Das zweite in Rede stehende Verfahren

14. Am 23. Januar 2013 ordnete das Landgericht Marburg nach persönlicher Anhörung des Beschwerdeführers sowie nach Anhörung seines Rechtsanwalts, der Staatsanwaltschaft und eines Vertreters der JVA S. sowie unter Berücksichtigung des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen J. vom 15. September 2011 erneut die Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers an.

15. Das Landgericht verwies auf die vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main und die von ihm selbst in dem vorausgegangenen Verfahren angeführten Gründe. Ferner nahm es insbesondere zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer sich bei mehreren begleiteten Ausführungen verlässlich gezeigt und Arbeit in der Justizvollzugsanstalt aufgenommen habe. Er habe allerdings nach wie vor keine für eine Rückfallprävention erforderliche Therapie abgeschlossen.

16. Am 14. März 2013 wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Unter Bezugnahme auf die Erwägungen in seinem Beschluss vom 13. März 2012 stellte es fest, dass die in dieser Entscheidung vorgenommene Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach wie vor zutreffe. Insbesondere verweigere sich der Beschwerdeführer weiterhin einer notwendigen Therapie.

17. Am 13. Juni 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, dem Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe zu bewilligen und die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1055/13).

D. Die Bedingungen der Unterbringung des Beschwerdeführers während der Vollstreckung der Sicherungsverwahrungsanordnung

18. Während der Vollstreckung der Sicherungsverwahrungsanordnung war der Beschwerdeführer anfänglich in einer gesonderten Abteilung für Sicherungsverwahrte der JVA S. untergebracht. Seit Januar 2013 ist er in einem separaten Gebäude für Sicherungsverwahrte auf dem Gelände der JVA W. untergebracht. In diesem Gebäude standen den Untergebrachten nunmehr zwei jeweils etwa 11 Quadratmeter große Räume zur Verfügung und sie konnten tagsüber den Außenbereich nutzen. Ab Frühjahr 2013 wurde die Mitarbeiterzahl des für die Sicherungsverwahrten zuständigen psychologischen Dienstes erhöht und ein spezielles Therapieangebot bereitgestellt, darunter insbesondere ein Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter. Am 20. Dezember 2014 wurde der Beschwerdeführer in die neu errichtete Einrichtung für Sicherungsverwahrte auf dem Gelände der JVA S. verlegt.

19. Dem von dem Beschwerdeführer nicht bestrittenen Vortrag der Regierung zufolge wurden sowohl in der JVA S. als auch in der JVA W. in der Übergangszeit zwischen September 2011 und dem Inkrafttreten der Neuregelung der Sicherungsverwahrung am 1. Juni 2013 (insb. Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, siehe Rdnr. 24) Maßnahmen ergriffen, durch die sich die Unterbringungsbedingungen der Sicherungsverwahrten und das Therapieangebot schrittweise verbesserten. Die Regierung führte aus, dass mit diesen Maßnahmen dem verfassungsrechtlichen Gebot, zwischen Sicherungsverwahrung und Strafhaft zu unterscheiden, Rechnung getragen wurde.

20. Der Beschwerdeführer habe sich jedoch jeder konkret auf die Auseinandersetzung mit seinen Straftaten abzielenden Therapie verweigert. In der in Rede stehenden Zeitspanne habe er an einer wöchentlichen Gesprächsgruppe für Sicherungsverwahrte teilgenommen. Im Mai 2013 sei dem Beschwerdeführer mehrfach die Teilnahme an dem zu dem Zeitpunkt in W. bereitgestellten Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter angeboten worden, die er abgelehnt habe. Er habe in der JVA eine Arbeit aufgenommen und ihm würden regelmäßig begleitete Ausführungen gewährt.

E. Sonstige Entwicklungen

21. Mit Beschluss vom 26. April 2012 lehnte das Landgericht Marburg den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Überweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus zum weiteren Vollzug seiner Sicherungsverwahrung nach § 67a Abs. 2 StGB (siehe Rdnr. 24) ab.

22. Am 18. November 2013 verlängerte das Landgericht Marburg die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers erneut.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

23. Ein umfassender Überblick über die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung zur Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung, insbesondere der Sicherungsverwahrung, sowie zum Erlass, zur Überprüfung und zur praktischen Umsetzung von Sicherungsverwahrungsanordnungen ist in den Urteilen des Gerichtshofs in den Rechtssachen M. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 45 bis 68, ECHR 2009), G. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 7345/12, Rdnrn. 32 bis 52, 28. November 2013) und B. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 23279/14, Rdnrn. 42 bis 76, 7. Januar 2016) enthalten.

24. Die im vorliegenden Fall in Bezug genommenen Bestimmungen in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung finden sich an den folgenden Stellen: Die Bestimmung über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht (§ 66 Abs. 1 und 2 StGB) ist in der Rechtssache G. (a. a. O., Rdnrn. 33 bis 34) dargestellt. Die maßgeblichen Bestimmungen über die gerichtliche Überprüfung und Dauer der Sicherungsverwahrung (§ 67e Abs. 1 und 2 StGB, § 67d Abs. 1 und 3 StGB in der vor dem 31. Januar 1998 geltenden Fassung und § 67d Abs. 3 StGB in der geänderten Fassung) sind in der Rechtssache G. (a. a. O., Rdnrn. 35 bis 37) enthalten. Die Vorschriften über die Unterbringung psychisch kranker Personen (§ 63 StGB und § 1 ThUG) werden gleichermaßen in der Rechtssache G. (a. a. O., Rndrn. 38 bis 39) genannt. Die maßgebliche Bestimmung über die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel der Besserung und Sicherung (§ 67a StGB) ist ebenfalls in der Rechtssache G. (a. a. O., Rdnr. 41) dargestellt. Informationen zum Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung sind in der Rechtssache B. (a. a. O., Rdnrn. 43f) aufgeführt. Eine Zusammenfassung des Leiturteils des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 findet sich schließlich in der Rechtssache B. (a. a. O., Rdnrn. 66 bis 72).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSATZ 1 DER KONVENTION

25. Der Beschwerdeführer rügte, dass er durch seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über die frühere gesetzliche Höchstdauer von zehn Jahren hinaus in seinem Recht auf Freiheit nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt worden sei, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

[…]

e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;

[…]“

26. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

27. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

28. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass seine in Rede stehende Sicherungsverwahrung Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt habe. Insbesondere sei seine Sicherungsverwahrung nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e gerechtfertigt gewesen. Die Persönlichkeitsstörung, die bei ihm angeblich vorliege und die bei 80 bis 90 % der Strafgefangenen festgestellt werden könne, sei jedenfalls nicht krankheitswertig und nicht schwerwiegend genug, um ihn als „psychisch Kranken“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen. Überdies seien die JVAs S. und W., in denen er untergebracht worden sei, keine für psychisch kranke Personen geeigneten Einrichtungen gewesen. Ihm seien keine geeigneten, auf die Bedürfnisse psychisch Kranker zugeschnittenen Therapieangebote gemacht worden und er sei zu keiner Zeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden.

29. Die Regierung brachte vor, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e gerechtfertigt gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei „psychisch krank“ im Sinne dieser Bestimmung. Die innerstaatlichen Gerichte hätten in den zwei in Rede stehenden Verfahren unter Bezugnahme auf ein aktuelles psychiatrisches Sachverständigengutachten festgestellt, dass der Beschwerdeführer an einer hinreichend schwerwiegenden und folglich tatsächlichen psychischen Störung leide, und zwar an einer dissozialen und schizoiden Persönlichkeitsstörung. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer in dem in Rede stehenden Zeitraum insbesondere dank der ihm unterbreiteten Therapieangebote (siehe Rdnrn. 18 bis 20) in Einrichtungen untergebracht gewesen, die für die Behandlung seiner psychischen Störung geeignet gewesen seien.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

30. Bezüglich eines Überblicks über die einschlägigen Grundsätze im Hinblick auf Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e verweist der Gerichtshof auf seine Zusammenfassung dieser Grundsätze im Urteil B. (a. a. O., Rdnrn. 95 bis 99).

31. In der Frage, ob die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e als Freiheitsentziehung bei einem „psychisch Kranken“ gerechtfertigt war, ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Faktoren davon überzeugt, dass vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten auf der Grundlage objektiver ärztlicher Gutachten festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer an einer tatsächlichen psychischen Störung im Sinne dieser Bestimmung litt. Er stellt insbesondere fest, dass sich die innerstaatlichen Gerichte den Erkenntnissen des psychiatrischen Sachverständigen J. angeschlossen haben, der in Übereinstimmung mit einem früheren psychiatrischen Sachverständigengutachten festgestellt hatte, dass der Beschwerdeführer an einer dissozialen und schizoiden Persönlichkeitsstörung im Sinne des lCD-10 leide. Diese Störung war hinreichend schwerwiegend, hat sich in den von ihm begangenen schweren Straftaten einschließlich der Vergewaltigung zufällig ausgewählter Opfer manifestiert und erforderte eine spezielle therapeutische Behandlung. Überdies war angesichts der hochgradigen Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung weitere vergleichbare schwerwiegende Straftaten begehen würde, die psychische Störung des Beschwerdeführers nachweislich von einer solchen Art oder Schwere, dass eine Zwangsunterbringung, die außerdem vom Fortbestehen dieser Störung abhing, gerechtfertigt war. Folglich war der Beschwerdeführer „psychisch krank“ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e.

32. Im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der nach § 67d Abs. 3 StGB i. V. m. dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 angeordneten in Rede stehenden Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers muss der Gerichtshof unter Berücksichtigung der Anforderungen, die er in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat (siehe Rdnr. 30), prüfen, ob diese Freiheitsentziehung in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen für psychisch Kranke geeigneten Einrichtung erfolgte. Er stellt fest, dass der Beschwerdeführer während des hier in Rede stehenden Zeitraums zunächst ab dem 9. April 2012 (nach zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung) bis zum Januar 2013 in einer gesonderten Abteilung für Sicherungsverwahrte der JVA S. untergebracht war. Unter Bezugnahme auf seine diesbezügliche Rechtsprechung (siehe u. a. O. H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 4646/08, Rdnrn. 87 bis 92, 24. November 2011; K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 21906/09, Rdnrn. 80 bis 85, 19. Januar 2012; und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 7345/12, Rdnrn. 92f, 28. November 2013) stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer während seiner Unterbringung in der genannten Abteilung der JVA S. nicht in einer zur Unterbringung psychisch Kranker geeigneten Einrichtung untergebracht war.

33. Von Januar 2013 an war der Beschwerdeführer – bis am 18. November 2013 im Rahmen der regelmäßigen Überprüfung erneut die Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers beschlossen wurde – in einem separaten Gebäude für Sicherungsverwahrte auf dem Gelände der JVA W. untergebracht. In dieser Einrichtung wurden die Unterbringungsbedingungen der Sicherungsverwahrten und das Therapieangebot schrittweise verbessert, um den Anforderungen des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung Rechnung zu tragen. Unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Unterlagen stellt der Gerichtshof fest, dass im Fall des Beschwerdeführers im institutionellen Umfeld, bei der allgemeinen Personalausstattung insbesondere im psychologischen Dienst und hinsichtlich der speziellen Therapieangebote, die dem Beschwerdeführer zur Behandlung seiner psychischen Störung unterbreitet wurden, erhebliche Veränderungen stattfanden. Insbesondere wurde dem Beschwerdeführer im Mai 2013 mehrfach die Teilnahme an einem Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter angeboten. Der Gerichtshof kann deshalb anerkennen, dass dem Beschwerdeführer in dem Gebäude auf dem Gelände der JVA W. ab Mai 2013 ein für eine wegen psychischer Krankheit untergebrachte Person geeignetes Therapieumfeld geboten wurde und er demnach in einer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e geeigneten Einrichtung untergebracht war (vgl. auch B., a. a. O., Rdnrn. 118 bis 128).

34. Folglich war die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in dem Zeitraum von Mai 2013 bis zum 18. November 2013 nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e gerechtfertigt. Im Gegensatz dazu war sie in dem Zeitraum vom 9. April 2012 bis Mai 2013 nicht als rechtmäßige Freiheitsentziehung bei einem „psychisch Kranken“ nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e, und auch nach keinem anderen der Buchstaben von Artikel 5 Abs. 1, gerechtfertigt.

35. Folglich wurde Artikel 5 Abs. 1 der Konvention (nur) hinsichtlich der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung vom 9. April 2012 bis Mai 2013 verletzt.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 7 ABSATZ 1 DER KONVENTION

36. Der Beschwerdeführer rügte, dass die nachträgliche Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung – einer Strafe – über die frühere zehnjährige Höchstdauer hinaus gegen Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verstoße, der wie folgt lautet:

„(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“

37. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

38. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

39. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass durch die Anordnung der Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung unter Verstoß gegen Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 der Konvention nachträglich eine schwerere Strafe gegen ihn verhängt worden sei. Er trug, gestützt insbesondere auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a. a. O.), vor, dass die Sicherungsverwahrung, so wie sie in den JVAs S. und W. vollzogen werde, eine „Strafe“ im Sinne dieser Bestimmung darstelle.

40. Dem Vorbringen der Regierung zufolge war es mit Artikel 7 Abs. 1 der Konvention vereinbar, die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers über den 9. April 2012 hinaus – den Zeitpunkt, als er die frühere gesetzliche Höchstdauer von zehn Jahren in dieser Unterbringungsform absolviert hatte – zu verlängern. Zu diesem Zeitpunkt sei die Freiheitsentziehung angesichts der Bedingungen, unter denen die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers vollzogen worden sei, und insbesondere angesichts der ihm unterbreiteten Therapieangebote (siehe Rdnrn. 18 bis 20) nicht mehr als Strafe einzustufen gewesen.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

41. Bezüglich eines Überblicks über die einschlägigen Grundsätze im Hinblick auf Artikel 7 Abs. 1 verweist der Gerichtshof auf seine Zusammenfassung dieser Grundsätze im Urteil B. (a. a. O., Rdnrn. 149 bis 150).

42. In der Frage, ob in der vorliegenden Rechtssache die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers eine „Strafe“ im Sinne von Artikel 7 Abs. 1, Satz 2 darstellte, verweist der Gerichtshof auf seine Feststellungen in den Rechtssachen G. (a. a. O., Rdnrn. 120 bis 130) und B. (a. a. O., Rdnrn. 153 bis 183) sowie auf seine vorstehenden Feststellungen in Bezug auf Artikel 5. Er stellt fest, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers genau wie in der Rechtssache B. nur angeordnet wurde und auch nur angeordnet werden konnte, weil bei ihm eine psychische Störung festgestellt wurde (siehe insbesondere Rdnrn. 9, 11 und 24).

43. Was den Charakter der Sicherungsverwahrungsmaßnahme im vorliegenden Fall anbelangt, merkt der Gerichtshof unter Verweis auf seine vorstehenden Feststellungen (siehe Rdnrn. 32 bis 33) an, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zwischen 9. April 2012 und Mai 2013 in einer Justizvollzugsanstalt unter Bedingungen vollzogen wurde, die noch nicht den Schluss erlaubten, dass der Schwerpunkt der Maßnahme auf der medizinischen und therapeutischen Behandlung des Beschwerdeführers als psychisch Krankem lag. Ab Mai 2013 war der Beschwerdeführer hingegen in W. in einem institutionellen Umfeld und unter Bedingungen untergebracht, die ihm eine hinreichend individuelle Betreuung und eine konkrete und umfassende Therapie zur Behandlung seiner psychischen Störung boten, darunter ein Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter.

44. Angesichts dieser Umstände kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die aus den angefochtenen Entscheidungen resultierende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zwischen 9. April 2012 und Mai 2013 noch als „Strafe“ im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 einzustufen war. Von Mai 2013 bis zum 18. November 2013 hatten sich sowohl das Wesen als auch der Zweck seiner Sicherungsverwahrung grundlegend geändert und der strafende Charakter und der Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verurteilung waren soweit in den Hintergrund getreten, dass seine Freiheitsentziehung nicht länger als eine Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 eingestuft werden konnte.

45. Folglich wurde Artikel 7 Abs. 1 der Konvention (nur) hinsichtlich der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung vom 9. April 2012 bis Mai 2013 verletzt.

III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

46. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

47. Der Beschwerdeführer forderte 33.750 Euro in Bezug auf den immateriellen Schaden und trug vor, dass es billig wäre, ihm für jeden Tag konventionswidriger Unterbringung in der Sicherungsverwahrung 25 Euro zuzusprechen.

48. Die Regierung hielt die von dem Beschwerdeführer geforderte Summe für unangemessen hoch.

49. Der Gerichtshof stellt fest, dass dem Beschwerdeführer vom 9. April 2012 bis Mai 2013 unter Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention die Freiheit entzogen war, was bei ihm Kummer und Frustration ausgelöst haben muss. Unter Berücksichtigung der Umstände der Rechtssache setzt der Gerichtshof die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer in Bezug auf den immateriellen Schaden 7.000 Euro zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.

B. Kosten und Auslagen

50. Der Beschwerdeführer, dem in dem Verfahren vor dem Gerichtshof Prozesskostenhilfe gewährt worden ist, hat keine vor den innerstaatlichen Gerichten und dem Gerichtshof entstandenen Kosten und Auslagen geltend gemacht. Folglich spricht der Gerichtshof unter dieser Rubrik keine Entschädigung zu.

C. Verzugszinsen

51. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention wurde (nur) hinsichtlich der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung vom 9. April 2012 bis Mai 2013 verletzt;

3. Artikel 7 Abs. 1 der Konvention wurde (nur) hinsichtlich der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung vom 9. April 2012 bis Mai 2013 verletzt;

4. a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten in Bezug auf den immateriellen Schaden 7.000 (siebentausend) Euro zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu zahlen;

b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

5. Im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 6. Juli 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Anne-Marie Dougin                                                          Erik Møse
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin                  Präsident

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[1] International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme), aktuelle Fassung.

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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