Flüchtlingsanerkennung; Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Vergangenheit; Fiktion erlaubten Aufenthalts; Niederlassungserlaubnis; Anrechnung; Dauer des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis; Untätigkeitsklage; zureichender Grund; Entscheidung über den Aufenthaltstitel; Aussetzung; Strafverfahren; Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 3. Senat
Entscheidungsdatum: 24.06.2021
Aktenzeichen: OVG 3 N 77.19
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0624.OVG3N77.19.00
Dokumenttyp: Beschluss

Flüchtlingsanerkennung; Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Vergangenheit; Fiktion erlaubten Aufenthalts; Niederlassungserlaubnis; Anrechnung; Dauer des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis; Untätigkeitsklage; zureichender Grund; Entscheidung über den Aufenthaltstitel; Aussetzung; Strafverfahren; Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft

Verfahrensgang …
Tenor

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 8. Januar 2019 wird abgelehnt.

Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt der Beklagte.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Das im Hinblick auf das Darlegungsgebot (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) allein maßgebliche Vorbringen des Beklagten ergibt keinen Zulassungsgrund.

2. 1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Derartige Zweifel bestehen dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und nicht nur die Begründung der angefochtenen Entscheidung oder nur einzelne Elemente dieser Begründung, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung derartigen Zweifeln unterliegt. Das ergibt das Zulassungsvorbringen nicht.

3. a) Ohne Erfolg wendet sich der Zulassungsantrag gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger habe ein schutzwürdiges Interesse an der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch für den in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 C 19.09 – juris Rn. 13).

4. Der Beklagte macht geltend, die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei für eine spätere Verfestigung des Aufenthalts des Klägers nicht von Bedeutung, da der Aufenthalt eines Ausländers, dem, wie dem Kläger, die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) zuerkannt wurde, nach § 25 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG als erlaubt gelte und die Zeit dieser Fiktionswirkung auf die für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erforderliche Dauer des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 1. Alt. AufenthG (vgl. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) anzurechnen sei.

5. Dagegen spricht, dass der eindeutige Gesetzeswortlaut des § 26 Abs. 3 AufenthG für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis den entweder fünf- (§ 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) oder dreijährigen (§ 26 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 AufenthG) Besitz einer Aufenthaltserlaubnis voraussetzt und daneben allein die Dauer des vorangegangenen Asylverfahrens für anrechenbar erklärt. § 25 Abs. 1 Satz 3 AufenthG fingiert aber allein die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, nicht jedoch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Mehrere Stimmen in der Literatur verneinen deshalb eine Anrechnung des fiktiv erlaubten Aufenthalts (vgl. Huber/Göbel-Zimmermann, Ausl- u. AsylR, 2. Aufl. 2008, Rn. 562; Maaßen/Kluth in: BeckOK AuslR, Stand: 1.1.2021, § 26 Rn. 18.1; Hailbronner, AuslR, Stand Mai 2021, § 26 Rn. 23).

6. Ein schutzwürdiges Interesse an der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Vergangenheit lässt sich auch nicht mit dem von der Gegenmeinung (vgl. Fränkel in: Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 26 Rn. 15) u.a. zugrunde gelegten Argument verneinen, der Kläger könne im späteren Verfahren auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis geltend machen, ihm habe ein solcher Anspruch bereits ab der Antragstellung zugestanden. Selbst wenn – was hier nicht entschieden werden muss – im Rahmen der späteren Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ein bestehender Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG dem Besitz eines solchen Aufenthaltstitels gleichzustellen und der Ausländer so zu behandeln wäre, als habe er die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG bereits ab Antragstellung besessen (so Hailbronner, AuslR, Stand Mai 2021, § 26 Rn. 23; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausl- u. AsylR, 2. Aufl. 2008, Rn. 562), steht dies einem schutzwürdigen Interesse des Klägers daran, bereits im vorliegenden Verfahren eine verbindliche Entscheidung hierüber herbeizuführen, nicht entgegen.

7. b) Ernstliche Richtigkeitszweifel legt der Zulassungsantrag auch nicht hinsichtlich der Annahme des Verwaltungsgerichts dar, die Verpflichtungsklage sei nach § 75 Satz 1 VwGO zulässig.

8. Das Verwaltungsgericht hat dazu ausgeführt, der Beklagte habe das Erteilungsverfahren nicht förmlich im Hinblick auf das gegen den Kläger wegen des Verdachts eines Urkundendelikts (Vorlage eines nicht von einer amtlichen Stelle ausgestellten syrischen Reisepasses im Asylverfahren) geführten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens ausgesetzt. Die Entscheidung über den Aufenthaltstitel sei außerdem weder wegen des Ermittlungsverfahrens nach § 79 Abs. 2 AufenthG auszusetzen noch sei die Aussetzung der Entscheidung geboten, weil das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens zu einer Aufhebung der Flüchtlingsanerkennung des Klägers durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führen könne.

9. Im Einzelnen hat das Verwaltungsgericht zunächst darauf hingewiesen, dass die Aussetzungspflicht nach § 79 Abs. 2 AufenthG nicht gilt, wenn über den Aufenthaltstitel ohne Rücksicht auf den Ausgang des Ermittlungsverfahrens entschieden werden kann. Dies sei hier der Fall, da die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an einen anerkannten Flüchtling gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht bereits wegen eines bestehenden Ausweisungsinteresses (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) versagt werden könne, sondern allein dann, wenn der als Flüchtling anerkannte Ausländer aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen worden sei (§ 25 Abs. 1 Satz 2 AufenthG in der bei der Entscheidung des Verwaltungsgerichts geltenden Fassung i.V.m. § 25 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Das sei aber nicht geschehen. Diese Erwägungen stellt der Zulassungsantrag nicht in Frage. Er wendet allein ein, das Ermittlungsverfahren könne zu einem Widerruf oder einer Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führen. Zu der Annahme, dass eine strafrechtliche Verurteilung und ein daraus abzuleitendes Ausweisungsinteresse allein eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis nicht rechtfertigen könne, verhält er sich nicht.

10. Ebenso wenig stellt der Zulassungsantrag die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts in erfolgreich in Frage, die Berufung des Beklagten darauf, dass die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen den Kläger zu dem Widerruf oder der Rücknahme seiner Flüchtlingsanerkennung durch das Bundesamt führen könnten, rechtfertigten keine Aussetzung des Verfahrens, da das Bundesamt ein solches Verfahren bisher nicht eingeleitet habe und die zugunsten des Klägers getroffene Statusentscheidung daher nach § 6 Satz 1 AsylG als verbindlich zugrunde zu legen sei.

11. Ohne Erfolg wendet der Beklagte hiergegen ein, wegen der nach dem Ausgang des Ermittlungsverfahrens möglicherweise gebotenen Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung könne über den Aufenthaltstitel nicht – wie dies § 79 Abs. 2 AufenthG für eine Ausnahme von der dort bestimmten Aussetzungspflicht voraussetze – ohne Rücksicht auf den Ausgang des Ermittlungsverfahrens entschieden werden. Dieser Einwand überspannt die Reichweite der Aussetzungspflicht nach § 79 Abs. 2 AufenthG, die auf das straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfahren begrenzt ist. Sinn der dort vorgeschriebenen Aussetzung ist es, die maßgebliche Sachverhaltsermittlung in Bezug auf den Vorwurf einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit den insoweit sachnäheren Verfolgungsorganen vorzubehalten, deren Entscheidung dann in der Regel auch der ausländerrechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden kann (vgl. VGH München, Beschluss vom 21. Juli 2015 – 10 CS 15.859 – juris Rn. 72). Dem entsprechend ordnet die Vorschrift eine Aussetzungspflicht bis zum Abschluss des Verfahrens, d.h. des Strafverfahrens oder Ordnungswidrigkeitenverfahrens, bzw. im Falle einer in diesem Verfahren getroffenen gerichtlichen Entscheidung bis zu deren Rechtskraft an. Die Regelung bezieht sich jedoch nicht auf ein an das Strafverfahren oder Ordnungswidrigkeitenverfahren anschließendes weiteres Verfahren, etwa über den Widerruf oder die Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft (§ 73 AsylG).

12. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht deshalb auf die in § 6 Satz 1 AsylG geregelte Verbindlichkeit der Entscheidung des Bundesamtes über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgestellt. Dem tritt der Zulassungsantrag nicht schlüssig entgegen. Soweit er darauf hinweist, dass dem Kläger bereits die Fiktionswirkung des § 25 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG zugute komme, liegt darin kein schlüssiger Einwand gegen den aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG folgenden weiter gehenden Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Eine verfahrensrechtliche Regelung außerhalb des § 79 Abs. 2 AufenthG, die den Beklagten berechtigen könnte, mit der Entscheidung über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis weiter zuzuwarten, legt der Zulassungsantrag ebenfalls nicht dar.

13. c) Ohne Erfolg beanstandet der Zulassungsantrag schließlich die vom Verwaltungsgericht getroffene Kostenentscheidung. Diese ist im Ergebnis nicht deshalb unrichtig, weil das Verwaltungsgericht statt des § 154 Abs. 1 VwGO die Vorschrift des § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO zitiert.

14. 2. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

15. Die von dem Beklagten für klärungsbedürftig gehaltene Rechtsfrage,

16. ob ein laufendes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts gefälschter Identitätsdokumente, welches im Falle einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung geeignet wäre, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Widerruf oder die Rücknahme der Zuerkennung internationalen Schutzes zu ermöglichen, die Aussetzung eines auf Erteilung einer aus Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG gerichteten Verfahrens nach § 79 Abs. 2 AufenthG rechtfertigt,

17. lässt sich bereits auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts nach allgemeinen Auslegungsregeln und auf der Grundlage der bereits vorliegenden Rechtsprechung ohne Weiteres beantworten. Wie oben ausgeführt, ergibt sich schon aus dem Gesetzeswortlaut des § 79 Abs. 2 AufenthG sowie dem mit dieser Vorschrift verfolgten Regelungszweck, dass die Reichweite der dort angeordneten Aussetzung des Verfahrens auf Erteilung eines Aufenthaltstitels sich allein auf ein gegen den Antragsteller anhängiges Straf- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren erstreckt, daraus aber nicht die Befugnis zur einer weitergehenden Aussetzung auch wegen eines etwa nachfolgenden Verfahrens zur Rücknahme oder zum Widerruf der Flüchtlingseigenschaft abgeleitet werden kann.

18. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 und Abs. 3 GKG.

19. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Zuletzt aktualisiert am Juli 19, 2021 von eurogesetze

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