RECHTSSACHE EROL ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 68250/11

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE E. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 68250/11)
URTEIL
STRASSBURG
7. September 2017

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache E. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Nona Tsotsoria,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov
und Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 4. Juli 2017

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 68250/11) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein türkischer Staatsangehöriger, E. („der Beschwerdeführer“), am 24. Oktober 2011 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Frau O., Rechtsanwältin in M., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 3. Dezember 2010, den Haftbefehl gegen ihn nicht außer Vollzug zu setzen, Artikel 5 Abs. 4 der Konvention verletze.

4. Am 4. März 2016 wurde die Artikel 5 Abs. 4 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.

5. Die türkische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren unterrichtet worden war (Artikel 36 Abs. 1 der Konvention und Artikel 44 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs), machte von diesem Recht keinen Gebrauch.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

6. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in A.

7. Am 20. April 2010 wurden die Räume, in denen der Beschwerdeführer ein Café betrieb, auf der Grundlage eines am 2. März 2010 vom Amtsgericht erlassenen Durchsuchungsbeschlusses durchsucht. Der Beschwerdeführer wurde in einem hinteren Raum des Cafés beim Verwiegen und Verpacken von rund 400 g Kokain angetroffen, wobei er einen Bargeldbetrag in Höhe von 2.325 EUR in seinen Hosentaschen hatte. Er wurde festgenommen.

8. Am darauffolgenden Tag erließ das Amtsgericht mit der Begründung, dass er dringend verdächtig sei, mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben, und dass Fluchtgefahr bestehe, Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Es war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer wegen der in Rede stehenden Straftaten mit einer empfindlichen Freiheitstrafe zu rechnen habe, dass er keine enge Bindung an Deutschland habe, dass er arbeitslos sei und von Sozialleistungen lebe und dass er sich ohne Weiteres in die Türkei absetzen könnte.

9. Bei einem am 5. Mai 2010 durchgeführten Haftprüfungstermin beantragte die Verteidigerin des Beschwerdeführers die Freilassung des Beschwerdeführers auf Kaution und wies darauf hin, dass Familienangehörige des Beschwerdeführers bereit und in der Lage seien, eine vom Gericht festzusetzende Kaution zu hinterlegen. Am darauffolgenden Tag zog die Verteidigerin des Beschwerdeführers den Antrag zurück, nachdem das Gericht angekündigt hatte, eine Freilassung auf Kaution abzulehnen.

10. Am 6. Juli 2010 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Beschwerdeführer und legte ihm gewerbsmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zur Last.

11. Am 6. August 2010 entschied das Amtsgericht, die Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer zu eröffnen.

12. Am 29. September 2010 befand das Amtsgericht den Beschwerdeführer in einem der drei Fälle des gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge für schuldig und sprach ihn in den anderen beiden Fällen frei. Es verurteilte ihn zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe und ordnete die Fortdauer seiner Haft an.

13. Am 30. September 2010 legten sowohl der Beschwerdeführer als auch die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts ein.

14. Am selben Tag legte der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss ein und beantragte dessen Aufhebung bzw. Außervollzugsetzung. Er brachte vor, dass es keinen Fluchtanreiz für ihn gebe. Aufgrund seiner starken Bindungen an Deutschland sei eine Flucht in die Türkei unwahrscheinlich. Er lebe seit 20 Jahren in Deutschland, sei seit 13 Jahren verheiratet und habe zwei Kinder, die acht Jahre und ein Jahr alt seien. Seine Eltern und sein Bruder lebten ebenfalls in Deutschland. Seine einzige Bindung zur Türkei bestehe hingegen in der Ferienwohnung seiner Eltern.

15. Am 1. Oktober 2010 beschloss das Amtsgericht, der Haftbeschwerde nicht abzuhelfen und die Sache dem Landgericht vorzulegen. Das Gericht hielt es für möglich, dass der Beschwerdeführer im Berufungsverfahren zu einer erheblichen Freiheitsstrafe verurteilt werden würde. Daher bestehe ein Fluchtanreiz für ihn, der durch seine vorhandenen sozialen Bindungen an Deutschland nicht ausgeräumt werde. In diesem Zusammenhang stellte es fest, dass der Beschwerdeführer und seine gesamte Familie seit 2001 von Sozialleistungen lebe und dass er mangelhaft Deutsch spreche und keine Berufsperspektiven habe. Da seine Frau ebenfalls türkische Staatsangehörige sei, seine Kinder noch klein seien und seine Eltern eine Ferienwohnung in der Türkei besäßen, bestehe die Befürchtung, dass der Beschwerdeführer sich mit seiner Familie in die Türkei absetze. Dieser Fluchtgefahr könne durch Meldeauflagen oder die Erbringung einer Sicherheitsleistung nicht hinreichend begegnet werden.

16. Am 7. Oktober 2010 wies das Landgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Es beschränkte den Haftbefehl auf den seiner Verurteilung zugrunde liegenden Fall und hob ihn hinsichtlich der zwei Fälle, von denen ihn das Amtsgericht freigesprochen hatte, auf. Unter Verweis auf die Begründung des Amtsgerichts und Hervorhebung der Tatsache, dass der Beschwerdeführer keiner rechtmäßigen Arbeit nachgehe, aber familiäre Bindungen an die Türkei habe, vertrat es die Auffassung, dass weiterhin die Gefahr der Flucht des Beschwerdeführers bestehe.

17. Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer am 26. Oktober 2010 weitere Beschwerde ein. Nachdem er im Wesentlichen erneut vortrug, warum keine Fluchtgefahr bestehe, brachte er vor, dass einer solchen Gefahr zumindest mit einer weniger einschneidenden Maßnahme begegnet werden könne. In diesem Zusammenhang bot er die Leistung einer Sicherheit in Höhe von 10.000 EUR durch Familienangehörige an.

18. Nachdem das Landgericht beschlossen hatte, die weitere Beschwerde des Beschwerdeführers zu verwerfen und die Sache dem Oberlandesgericht vorzulegen, teilte dieses dem Verteidiger des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 22. November 2010 mit, dass es eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls erwäge. Es bat den Beschwerdeführer um Konkretisierung des unterbreiteten Angebots und forderte, dass dem Beschwerdeführer die Kautionssumme durch die Familienangehörigen in einer Weise überlassen werde, dass er selbst darüber verfügen und die Kaution selbst stellen könne. Die legale Herkunft der Kautionssumme sei glaubhaft zu machen.

19. Am darauffolgenden Tag teilte der Verteidiger dem Oberlandesgericht mit, dass die Familienangehörigen des Beschwerdeführers weiterhin bereit und in der Lage seien, eine Kaution in Höhe von 10.000 EUR an das Gericht zu zahlen und deren legale Herkunft glaubhaft zu machen. Allerdings seien die Familienangehörigen nicht bereit, das Risiko einer Aufrechnung der Rückzahlungsforderung gegen mögliche zukünftige Forderungen der Behörden an den Beschwerdeführer zu tragen. Wenn der Beschwerdeführer davon auszugehen habe, dass die Kaution in jedem Fall – also auch ohne Flucht – verfalle, da die Rückzahlungsforderung gepfändet werden würde, könne die Sicherheitsleistung dem Verteidiger zufolge einer Fluchtgefahr nicht wirksam entgegenstehen.

20. Am 3. Dezember 2010 verwarf das Oberlandesgericht die weitere Beschwerde des Beschwerdeführers. Es schloss sich hinsichtlich der bei dem Beschwerdeführer bestehenden Fluchtgefahr den Bewertungen des Amtsgerichts und des Landgerichts an und stellte fest, dass die zu erwartende Strafe des Beschwerdeführers nicht auf zwei Jahre und sechs Monate begrenzt sei, da die Staatsanwaltschaft ebenfalls Berufung gegen das Urteil eingelegt habe, um eine Verurteilung auch in den beiden Fällen zu erreichen, in denen der Beschwerdeführer freigesprochen worden sei. Es gab an, eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls dennoch in Erwägung zu ziehen, sofern eine Sicherheitsleistung erbracht werde. Solange die Familienangehörigen des Beschwerdeführers nicht bereit seien, ihm die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, komme dies für das Gericht jedoch nicht in Betracht, da diese fehlende Bereitschaft darauf hindeute, dass die Angehörigen dem Beschwerdeführer kein ausreichendes Vertrauen entgegenbrächten, weshalb seine Bindung an seine Familie nicht hinreichend gefestigt scheine, um zu verhindern, dass er den Verfall der Sicherheit durch Flucht riskiere. Das Oberlandesgericht stellte ferner fest, dass die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung weitere Betäubungsmitteldelikte begehen würde, und begründete den Haftbefehl subsidiär mit Wiederholungsgefahr. Der Beschluss wurde dem Beschwerdeführer am 9. Dezember 2010 zugestellt.

21. Am 3. Januar 2011 wurde das Urteil des Amtsgerichts vom 29. September 2010 rechtskräftig, nachdem das Landgericht entschieden hatte, das Verfahren hinsichtlich eines der Anklagepunkte einzustellen, und der Beschwerdeführer und die Staatsanwaltschaft ihre Berufungen zurückgenommen hatten.

22. Am selben Tag setzte das Landgericht den Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer gegen eine Reihe von Auflagen, darunter die Zahlung einer Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000 EUR durch ihn oder durch Dritte, außer Vollzug. Nachdem dieser Betrag am selben Tag durch einen Dritten gezahlt wurde, wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen.

23. Am 14. April 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die am 10. Januar 2011 erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts, den Haftbefehl gegen ihn nicht außer Vollzug zu setzen, zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 155/11).

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Der Haftbefehl

24. Die §§ 112 ff Strafprozessordnung (StPO) behandeln die Untersuchungshaft. Nach § 112 Abs. 1 StPO darf die Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Ein Haftgrund liegt beispielsweise dann vor, wenn bestimmte Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2) oder Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1) besteht. Laut Artikel 112a Abs. 2 StPO und der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte kann ein Haftbefehl nicht mit Wiederholungsgefahr begründet werden, und zwar auch nicht subsidiär, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls wegen Fluchtgefahr erfüllt, die Voraussetzungen für die Außervollzugsetzung jedoch nicht erfüllt sind (siehe LG Gera, 1 Qs 11/00, Beschluss vom 3. April 2000; KG Berlin, (4) 1 HEs 199/99 (132/99), Beschluss vom 13. Oktober 1999; LG Bonn, 32 Qs 99/88, Beschluss vom 20. Juli 1988).

25. Wird ein Haftbefehl in einer vergleichbaren Situation dennoch mit Wiederholungsgefahr begründet, und sei es subsidiär, so bleibt der Haftgrund der Wiederholungsgefahr entweder außer Betracht (siehe KG Berlin, 5 Ws 12/16, Beschluss vom 8. Februar 2016) oder er wird in Wegfall gebracht (siehe OLG Hamm, 3 Ws 412/09, Beschluss vom 3. November 2009). Ein solcher Haftbefehl ist rechtsfehlerhaft, aber nicht unwirksam oder nichtig und stellt weiterhin eine tragfähige Grundlage für die Freiheitsentziehung dar (siehe dazu M. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11364/03, Rdnrn. 48 bis 49, 9. Juli 2009).

26. Nach dem innerstaatlichen Recht dauert die Untersuchungshaft bis zur rechtskräftigen Verurteilung einer Person an, also auch während des Rechtsmittelverfahrens. Nach § 117 Abs. 1 StPO können Untersuchungsgefangene jederzeit um Haftprüfung ersuchen oder die Außervollzugsetzung des Haftbefehls beantragen. Nach § 304 StPO können sie bei dem Gericht, das den betreffenden Beschluss erlassen hat, Haftbeschwerde gegen die Entscheidung einlegen, mit der ihre (fortdauernde) Unterbringung angeordnet wurde. Lässt das Gericht die Beschwerde nicht zu, verweist es sie an ein höherinstanzliches Gericht. Gegen den Beschluss dieses Gerichts kann nach § 310 Abs. 1 StPO weitere Beschwerde eingelegt werden.

B. Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Leistung einer angemessenen Sicherheit

27. § 116 StPO regelt die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls. Die Bestimmung sieht unter anderem vor, dass die Leistung einer angemessenen Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen Dritten als weniger einschneidende Maßnahme in Betracht kommt, wenn der einzige dem Haftbefehl zugrunde gelegte Haftgrund Fluchtgefahr ist. Der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte zufolge liegt es jedoch im Ermessen der Gerichte, die Stellung der Sicherheitsleistung durch Dritte auszuschließen, wenn zum Beispiel die Beziehung zwischen dem Beschuldigten und dem Dritten nicht von einer Art ist, die den Beschuldigten davon abhalten würde, durch Flucht den Verfall der Sicherheit zu verursachen (OLG Hamm, 1 Ws 595/08, Beschluss vom 9. September 2008).

28. Wurde ein Haftbefehl wegen Leistung einer angemessenen Sicherheit außer Vollzug gesetzt, verfällt die Sicherheit nach § 124 StPO bei Flucht des Beschuldigten, und zwar unabhängig davon, ob sie von dem Beschuldigten selbst oder einem Dritten geleistet wurde.

29. Nach der innerstaatlichen Rechtsprechung darf die nach § 116 StPO geleistete Sicherheit nicht gegen Forderungen aufgerechnet werden, die Behörden dem Beschuldigten gegenüber aus einem anderen Rechtsverhältnis zustehen könnten (BGH, III ZR 219/83, Urteil vom 24. Juni 1985, betreffend die Aufrechnung einer Forderung auf Rückzahlung einer Sicherheit gegen eine Steuerforderung). Das Verbot einer solchen Aufrechnung ist erforderlich, um zu gewährleisten, dass die Sicherheit ihren Zweck erfüllen kann. Der Beschuldigte hätte keinen Anreiz, vor Gericht zu erscheinen, wenn die Behörden seine Rückzahlungsforderung selbst im Falle seines Erscheinens zur Hauptverhandlung gegen Forderungen ihrerseits aufrechnen könnten. Allerdings können die Behörden zu einem späteren Zeitpunkt die zukünftigen Rückzahlungsforderungen pfänden, sollten sie Zahlungsansprüche gegen den Sicherheitsgeber haben (ebenda).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSATZ 4 DER KONVENTION

30. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 3. Dezember 2010, den Haftbefehl gegen ihn nicht außer Vollzug zu setzen, Artikel 5 Abs. 4 der Konvention verletze; dieser lautet wie folgt:

„(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“

31. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

32. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

33. Der Beschwerdeführer machte geltend, das Oberlandesgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass Fluchtgefahr bestehe. Er sei zu jener Zeit Mitte dreißig gewesen und habe rund 20 Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht, an das er auch starke familiäre Bindungen habe, da seine Frau, seine minderjährigen Kinder, sein Vater und sein Bruder dort lebten. Seine Bindungen an die Türkei seien auf seine Staatsangehörigkeit und darauf beschränkt, dass seine Eltern dort eine Ferienwohnung besäßen. Er brachte vor, dass die zu erwartende Freiheitsstrafe für ihn keinen Anreiz darstelle, Deutschland zu verlassen und in die Türkei zu gehen, wobei er insbesondere darauf abstellte, dass er bereits einige Zeit in Haft verbracht habe und die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten beantragt habe. Daher drohe ihm im Berufungsverfahren realistischerweise keine wesentlich längere Freiheitsstrafe als die vom Amtsgericht verhängte, auch wenn die Staatsanwaltschaft ebenfalls Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts eingelegt habe.

34. Selbst wenn man davon ausginge, dass Fluchtgefahr bestehe, sei der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 3. Dezember 2010 willkürlich. Dies zeige sich daran, dass das Landgericht den Haftbefehl gegen ihn einen Monat später gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 5.000 EUR außer Vollzug gesetzt habe. Es habe keinen Grund für das Oberlandesgericht gegeben, nur einen Monat vorher eine doppelt so hohe Summe anzusetzen und zu verlangen, dass der Beschwerdeführer diese selbst zu zahlen habe. Es sei ein Fehlschluss, anzunehmen, dass die fehlende Bereitschaft seiner Familienangehörigen, ihm die erforderlichen Mittel in Höhe von 10.000 EUR zur Verfügung zu stellen, darauf hindeute, dass es ihnen an Vertrauen in ihn fehle. Fehlte es seinen Familienangehörigen an Vertrauen in ihn, hätten sie nicht angeboten, die Sicherheitsleistung direkt an die Gerichte zu zahlen, da diese im Fall seiner Flucht nach § 124 StPO unabhängig davon, wer die Kaution an die Gerichte gezahlt habe, verfallen würde (siehe Rdnr. 28).

35. Vielmehr hätten seine Familienangehörigen einen guten Grund für ihren Standpunkt gehabt. Würden sie die Mittel dem Beschwerdeführer zur Verfügung stellen, müssten sie befürchten, dass die Behörden die Forderung des Beschwerdeführers auf Rückzahlung der Sicherheit gegen die Forderungen der Behörden nach Begleichung der Kosten für das Strafverfahren gegen ihn aufrechnen würden. Da der Beschwerdeführer verschuldet sei und von Sozialleistungen lebe, sei es nicht realistisch zu erwarten, dass er die Kosten für das Verfahren begleichen werde. Demnach würden die Familienangehörigen ihr Geld in diesem Szenario selbst dann nicht zurückbekommen, wenn er zur Hauptverhandlung und – im Falle seiner Verurteilung – zum Strafvollzug erschiene. Dies würde eine Flucht sogar noch wahrscheinlicher machen. Zahlten die Familienangehörigen die Kaution jedoch direkt an die Gerichte, bestünde keine Gefahr, dass ihre Rückzahlungsforderung gepfändet werden würde, da die Behörden den Familienangehörigen gegenüber keine Ansprüche hätten. Dies hätte ihm einen Anreiz gegeben, nicht zu fliehen. Die von den Familienangehörigen eingenommene Position spiegele lediglich ihre fehlende Bereitschaft wider, die Kosten für das Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer zu tragen. Der Beschwerdeführer trug vor, dass der Grund für die Forderung des Oberlandesgerichts, dass er die Kaution selbst zu zahlen habe, demnach darin bestanden habe, sicherzustellen, dass die Forderungen der Behörden hinsichtlich der Verfahrenskosten vollstreckt werden könnten. Derartige finanzielle Interessen der Behörden seien kein legitimer Grund dafür, die Bereitstellung einer Sicherheitsleistung durch Dritte, wie sie das innerstaatliche Recht vorsehe, zu verweigern.

36. Der Beschwerdeführer brachte auch vor, dass sein Fall nicht mit dem vom Oberlandesgericht X. beschiedenen Fall (siehe Rdnr. 27) vergleichbar sei, da der Beschuldigte in jenem Fall zuvor Straftaten gegen das Vermögen einer anderen Person begangen habe, weshalb es ihm nachweislich an Achtung vor derartigem Vermögen fehle, was ein Grund dafür sei, die Erbringung der Sicherheitsleistung durch einen Dritten zu verweigern. Darüber hinaus sei die Bezugnahme der Regierung auf die Fälle Neumeister ./. Österreich (27. Juni 1968, Reihe A Band 8) und Mangouras ./. Spanien [GK] (Individualbeschwerde Nr. 12050/04, ECHR 2010) nicht überzeugend. In diesen Fällen sei es um die Erbringung der Sicherheitsleistung durch eine Bank oder ein Versicherungsunternehmen gegangen, weshalb keine enge persönliche Beziehung zwischen den jeweiligen Sicherheitsgebern und Beschwerdeführern ersichtlich gewesen sei, was im Vergleich zum vorliegenden Fall einen erheblichen Unterschied darstelle.

37. Schließlich brachte der Beschwerdeführer vor, dass es gegen das innerstaatliche Recht verstoße, einen Haftbefehl subsidiär mit Wiederholungsgefahr zu begründen. Darüber hinaus sei die Feststellung, dass Wiederholungsgefahr bestehe, nicht hinreichend substantiiert.

b) Die Regierung

38. Die Regierung brachte vor, die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers sei sechsmal überprüft worden und die innerstaatlichen Gerichte hätten zu Recht festgestellt, dass der Beschwerdeführer des gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge dringend verdächtig sei und zudem Fluchtgefahr bestehe. Die Haftfortdauer sei außerdem verhältnismäßig gewesen.

39. Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 3. Dezember 2010, mit dem die Leistung der Sicherheit durch seine Familienangehörigen abgelehnt wurde, habe mit dem innerstaatlichen Recht im Einklang gestanden (siehe Rdnr. 27). Das Gericht verfüge diesbezüglich über einen Ermessensspielraum, den es nicht überschritten habe, als es entschieden habe, dass der Beschwerdeführer die Sicherheit selbst zu leisten habe, damit der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt werden könne. Unter Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer trotz schriftlicher Aufforderung durch das Oberlandesgericht zu keinem Zeitpunkt konkret angegeben habe, welche Familienangehörigen die Sicherheit leisten würden, brachte die Regierung vor, dass das Gericht zu dem vertretbaren Schluss gelangt sei, dass die fehlende Bereitschaft seiner Familienangehörigen, ihm die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen, darauf hindeute, dass diese ihm kein ausreichendes Vertrauen entgegenbrächten und dass demnach die Erbringung der Sicherheitsleistung durch Familienangehörige des Beschwerdeführers keine hinreichende Gewähr dafür biete, dass er nicht fliehen würde. Unter Bezugnahme auf die Fälle Smirnova ./. Russland (Individualbeschwerden Nrn. 46133/99 und 48183/99, Rdnr. 59, ECHR 2003‑IX (Auszüge)), Neumeister (a. a. O., Rdnr. 14) und Mangouras (a. a. O., Rdnr. 78), brachte sie vor, dass diese Bewertung auch mit Artikel 5 Abs. 4 der Konvention vereinbar sei.

40. Soweit der Beschwerdeführer angegeben habe, seine Familienangehörigen hätten ihm die notwendigen Mittel nicht zur Verfügung gestellt, weil sie eine Aufrechnung der Rückzahlungsforderung gegen die Forderungen der Behörden auf Begleichung der Verfahrenskosten befürchteten, wies die Regierung darauf hin, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts keine Anhaltspunkte hierfür enthalte und dass es nach der innerstaatlichen Rechtsprechung nicht erlaubt sei, eine Sicherheitsleistung mit etwaigen Forderungen der Behörden gegen den Beschuldigten zu verrechnen (siehe Rdnr. 29). Soweit die Behörden zu einem späteren Zeitpunkt einen zukünftigen Rückzahlungsanspruch des Beschwerdeführers gegen ihre Forderungen auf Begleichung der Verfahrenskosten aufrechnen könnten, käme dies nur unter zwei Bedingungen zum Tragen: Zunächst einmal müsse die Verurteilung des Beschwerdeführers Rechtskraft erlangen, was zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts noch nicht eindeutig absehbar gewesen sei, da sowohl der Beschwerdeführer als auch die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts eingelegt hätten und das Landgericht noch nicht über die Berufung entschieden habe. Und zweitens müsse der Beschwerdeführer es versäumen, die Verfahrenskosten zu bezahlen. Selbst im Falle seiner Verurteilung könne er daher die Pfändung seines Rückzahlungsanspruchs verhindern, indem er die Verfahrenskosten bezahle. Dass die Familienangehörigen des Beschwerdeführers befürchteten, dass er diese Kosten nicht tragen würde, spreche umso mehr dafür, dass es seinen Familienangehörigen an Vertrauen in ihn fehle.

41. Die Regierung fügte hinzu, dass keine anderslautenden Schlüsse daraus gezogen werden könnten, dass der Haftbefehl später doch gegen eine von Dritten geleistete Sicherheit in Höhe von 5.000 EUR außer Vollzug gesetzt worden sei. Dieser Entscheidung vom 3. Januar 2011 hätten andere Umstände zugrunde gelegen. Insbesondere sei die Verurteilung des Beschwerdeführers an jenem Tag rechtskräftig geworden und er habe keine höhere Freiheitsstrafe mehr erwarten müssen.

42. Im Hinblick auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts, den Haftbefehl subsidiär mit Wiederholungsgefahr zu begründen, erkannte die Regierung an, dass dies einen formalen Fehler darstelle. Allerdings werde der Haftbefehl durch diesen Fehler nach dem innerstaatlichen Recht zwar rechtsfehlerhaft, jedoch nicht unwirksam (siehe Rdnr. 25).

2. Würdigung durch den Gerichtshof

43. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 3. Dezember 2010 nach der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Urteil des Amtsgerichts vom 29. September 2010 ergangen ist. Die in Rede stehende Frage stellte sich demnach nach der Verurteilung, als Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c und Artikel 5 Abs. 3 der Konvention auf die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht mehr anwendbar waren (W. ./. Deutschland, 27. Juni 1968, Rdnr. 9, Reihe A Band 7). Vielmehr fiel die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention, auch wenn das Berufungsverfahren noch anhängig war (Belevitskiy ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 72967/01, Rdnr. 99, 1. März 2007). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention per se willkürlich gewesen wäre.

44. Der Gerichtshof erinnert daran, dass nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention Personen, die von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen sind, Anspruch darauf haben, ein Verfahren zur gerichtlichen Prüfung der verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen anzustrengen, die für die „Rechtmäßigkeit“ ihrer Freiheitsentziehung wesentlich sind (siehe Idalov ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 5826/03, Rdnr. 161, 22. Mai 2012). Der Begriff der „Rechtmäßigkeit“ nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention hat die gleiche Bedeutung wie nach Artikel 5 Abs. 1, so dass eine Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, Anspruch auf eine Überprüfung der „Rechtmäßigkeit“ ihrer Freiheitsentziehung im Lichte nicht nur der Erfordernisse nach dem innerstaatlichen Recht, sondern auch im Lichte der Konvention, der darin verankerten Grundsätze und des Ziels der nach Artikel 5 Abs. 1 zulässigen Beschränkungen hat (siehe E. ./. Norwegen, 29. August 1990, Rdnr. 49, Reihe A Band 181‑A). Artikel 5 Abs. 4 garantiert kein Recht auf eine gerichtliche Überprüfung in einem Umfang, der es dem Gericht im Hinblick auf alle Aspekte des Falls, auch auf reine Zweckmäßigkeitsfragen, ermöglichen würde, sein eigenes Ermessen über das der Entscheidungsfindungsinstanz zu stellen (ebenda, Rdnr. 50). Die Überprüfung sollte allerdings weitreichend genug sein, um die Bedingungen zu erfassen, die für die rechtmäßige Freiheitsentziehung einer Person nach Artikel 5 Abs. 1 wesentlich sind, auch in Fällen, bei denen die Freiheitsentziehung unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention fällt (ebenda, mit weiteren Verweisen).

45. Es ist festzuhalten, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention fiel und Artikel 5 Abs. 4 der Konvention im Hinblick auf Freiheitsentziehungen nach Verurteilung normalerweise nicht zum Tragen kommt, es sei denn, die Gründe für die Freiheitsentziehung einer Person können sich mit der Zeit verändern (siehe Kafkaris ./. Zypern (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 9644/09, Rdnr. 58, 21. Juni 2011) oder es kommen neue Fragen auf, die die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung betreffen (siehe Gavril Yosifov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 74012/01, Rdnr. 57, 6. November 2008). In der vorliegenden Rechtssache ist Artikel 5 Abs. 4 der Konvention anwendbar, da nach dem innerstaatlichen Recht die Untersuchungshaft bis zur rechtskräftigen Verurteilung einer Person andauert, also auch während des Rechtsmittelverfahrens, und allen Untersuchungsgefangenen die gleichen Verfahrensrechte zustehen (siehe Rdnr. 26). Sehen die Vertragsstaaten Verfahren vor, die über die Erfordernisse nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention hinausgehen, müssen die darin enthaltenen Garantien trotzdem auch in diesen Verfahren eingehalten werden. Allerdings ist es unter diesen Umständen nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, zu prüfen, ob das Oberlandesgericht die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers fehlerhaft beurteilt hat (siehe Rdnr. 33). Vielmehr liegt der Schwerpunkt seiner Prüfung darauf, ob die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die von den Familienangehörigen angebotene Zahlung direkt an das Gericht abzulehnen und für eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls auf einer Zahlung der Kaution durch den Beschwerdeführer selbst zu bestehen, willkürlich war.

46. Der Gerichtshof stellt einerseits fest, dass nach der einschlägigen Bestimmung des innerstaatlichen Rechts ein Haftbefehl nach Leistung einer Sicherheit durch den Beschuldigten oder einen Dritten außer Vollzug gesetzt werden konnte, und andererseits, dass es der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte zufolge im Ermessen des mit der Sache befassten Gerichts lag, die Leistung der Sicherheit durch Dritte auszuschließen, wenn zum Beispiel die Beziehung zwischen dem Beschuldigten und dem Dritten nicht von einer Art ist, die den Beschuldigten davon abhalten würde, durch Flucht den Verfall der Sicherheit zu verursachen (siehe Rdnr. 27).

47. Er weist erneut darauf hin, dass es nach der Rechtsprechung des EGMR vertretbar ist, eine Freilassung auf Kaution abzulehnen, wenn die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte nicht zur Hauptverhandlung erscheint (Smirnova, a. a. O., Rdnr. 59). Die Beurteilung, ob die Fluchtgefahr durch Leistung einer Sicherheit vermieden werden kann, muss grundsätzlich unter Bezugnahme auf den Beschuldigten, dessen Vermögensverhältnisse und sein Verhältnis zu den Personen, die die Sicherheit leisten sollen, erfolgen; mit anderen Worten: inwieweit darauf vertraut werden kann, dass im Falle seines Nichterscheinens in der Hauptverhandlung die Aussicht darauf, dass entweder die Sicherheit verfällt oder gegen den Sicherheitsgeber zur Beitreibung der Kaution vollstreckt wird, wahrscheinlich ausreicht, um ihn von jeglichem Fluchtgedanken abzuhalten (Mangouras, a. a. O., Rdnr. 78; Neumeister, a. a. O., Rdnr. 14).

48. Nach Ansicht des Gerichtshofs bezieht sich die Rüge des Beschwerdeführers im Wesentlichen auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das Angebot der Familienangehörigen, die Kaution in Höhe von 10.000 EUR direkt an das Gericht zu zahlen, abzulehnen und für eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls auf einer Zahlung durch den unbemittelten Beschwerdeführer selbst zu bestehen (siehe Rdnr. 20). Der Beschwerdeführer brachte vor, dass diese Entscheidung willkürlich gewesen sei und ihr Zweck nicht darin bestanden habe, sein Erscheinen bei der Hauptverhandlung oder, im Falle seiner Verurteilung, zum Strafvollzug sicherzustellen, sondern vielmehr die Möglichkeit der Behörden zum Ziel gehabt habe, später ihre Forderungen bezüglich der Verfahrenskosten gegen den unbemittelten Beschwerdeführer durchzusetzen.

49. Der Gerichtshof nimmt das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Begründung seiner Behauptung (siehe Rdnrn. 33 bis 36) zwar zu Kenntnis, ist aber erstens der Ansicht, dass es sowohl nach dem innerstaatlichen Recht als auch nach der Rechtsprechung des EGMR möglich war, die Sicherheitsleistung durch Dritte auszuschließen. Zweitens stellt er fest, dass die Beurteilung dessen, ob die Fluchtgefahr des Beschwerdeführers hätte vermieden werden können, wenn seine Familienangehörigen die Sicherheitsleistung erbracht hätten, unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Faktoren erfolgen musste und daher schon dem Grunde nach ein gewisses Maß an Ermessen mit sich brachte. Drittens stellt er fest, dass das Oberlandesgericht seine Entscheidung ausführlich begründet hat.

50. Das Oberlandesgericht, das sich den Begründungen des Amts- und des Landgerichts anschloss, befand, dass bei dem Beschwerdeführer Fluchtgefahr bestehe, da ihm im Berufungsverfahren eine erhebliche Freiheitsstrafe drohe, er mangelhaft Deutsch spreche, keiner rechtmäßigen Arbeit nachgehe und seit 2001 von Sozialleistungen lebe, da sowohl er als auch seine Frau türkische Staatsangehörige seien, ihre Kinder klein seien und seine Eltern eine Ferienwohnung in der Türkei besäßen (siehe Rdnrn. 15, 16 und 20). Im Hinblick auf die Frage, ob die Fluchtgefahr des Beschwerdeführers durch Verlangen einer Sicherheitsleistung vermieden werden könne, bestand das Oberlandesgericht darauf, dass die Kaution von ihm selbst und nicht von seinen Familienangehörigen gezahlt werde, und führte aus, dass die fehlende Bereitschaft der Familienangehörigen des Beschwerdeführers, ihm die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, darauf hindeute, dass es ihnen an Vertrauen in ihn fehle; es kam zu dem Schluss, dass seine Bindung an seine Familie nicht hinreichend gefestigt scheine, um zu verhindern, dass er den Verfall der Sicherheit durch Flucht riskiere (siehe Rdnr. 20).

51. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass weder die Bewertung der Fluchtgefahr durch das Oberlandesgericht, noch dessen Beurteilung der Frage, ob diese Gefahr vermieden werden könnte, wenn seine Familienangehörigen die Sicherheit leisten würden, Bösgläubigkeit seitens der Behörden erkennen lassen. Die angeführten Gründe sind zutreffend und ausreichend. Selbst wenn die Sicherheitsleistung – unter bestimmten Voraussetzungen – zu einem späteren Zeitpunkt verfallen könnte, kann die Bewertung des Verhältnisses zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Familienangehörigen, die die Behörden auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Informationen vorgenommen haben, nicht als willkürlich angesehen werden. Dies gilt umso mehr, als der Beschwerdeführer in der ersten Instanz bereits verurteilt worden war. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass keine anderslautenden Schlüsse daraus gezogen werden können, dass der Haftbefehl später doch außer Vollzug gesetzt wurde, da dieser Entscheidung andere Umstände zugrunde lagen. Insbesondere war die Verurteilung des Beschwerdeführers rechtskräftig geworden und er musste keine höhere Freiheitsstrafe mehr erwarten.

52. Was die zusätzliche Anführung des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr angeht, ist es unbestritten, dass es nach dem innerstaatlichen Recht ausdrücklich unzulässig war, einen Haftbefehl mit Wiederholungsgefahr zu begründen, wenn der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben war, die Voraussetzungen für die Außervollzugsetzung jedoch nicht erfüllt waren (siehe Rdnr. 24). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass nicht jeder in einem Haftbefehl festgestellte Fehler dazu führt, dass die zugrunde liegende Freiheitsentziehung an sich im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 unrechtmäßig wird (M., a. a. O., Rdnr. 74). Vielmehr sollte ein Haftbefehl lediglich dann als ex facie unwirksam angesehen werden – was wiederum die Unrechtmäßigkeit der auf der Grundlage dieses Haftbefehls gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 zur Folge hätte – wenn der Mangel des Haftbefehls einen „groben offensichtlichen“ Fehler im besonderen Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs darstellte (ebenda, Rdnr. 75). Um dies zu beurteilen, berücksichtigt der Gerichtshof alle Umstände des Falles, auch und insbesondere die Würdigung durch die innerstaatlichen Gerichte (ebenda, Rdnr. 86).

53. Er stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte einschließlich des Oberlandesgerichts in dessen in Rede stehender Entscheidung ausführlich begründet haben, warum der Beschwerdeführer dringend des gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verdächtig war und warum Fluchtgefahr bestand. Folglich waren die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers erfüllt und von den innerstaatlichen Gerichten sorgfältig geprüft worden. Unter Hinweis darauf, dass ein Haftbefehl, der wie im vorliegenden Fall mangelhaft war, nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte zwar rechtsfehlerhaft, aber nicht unwirksam war und weiterhin eine tragfähige Grundlage für eine Freiheitsentziehung darstellte (siehe Rdnr. 25), stellt der Gerichtshof fest, dass der in Rede stehende Mangel keinen „groben offensichtlichen Fehler“ darstellte.

54. Angesichts der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass weder die Tatsache, dass die von den Familienangehörigen angebotene Zahlung einer Kaution direkt an das Gericht abgelehnt wurde, noch der Umstand, dass die Untersuchungshaft zusätzlich mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr begründet wurde, dazu geführt hat, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 3. Dezember 2010 willkürlich gewesen wäre.

55. Folglich ist Artikel 5 Abs. 4 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 5 Abs. 4 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 7. September 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                        Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                          Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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