RECHTSSACHE D.J. ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 45953/10

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE D. J. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 45953/10)
URTEIL
STRASSBURG
7. September 2017

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache D. J. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Nona Tsotsoria,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits und
Lәtif Hüseynov
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 4. Juli 2017

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 45953/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, D. J. („der Beschwerdeführer“), am 9. Dezember 2009 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte. Der Präsident der Sektion hat dem Antrag des Beschwerdeführers, seinen Namen nicht offenzulegen (Artikel 47 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs), am 11. Juni 2015 stattgegeben.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn L., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer behauptete insbesondere, dass die Anordnung der fortdauernden Vollstreckung seiner Sicherungsverwahrung gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe, da die Unterbringungsanordnung auf ein veraltetes und unzureichendes psychiatrisches Sachverständigengutachten gestützt und ihm die erforderliche Therapie bei einer externen Psychologin verweigert worden sei.

4. Am 11. Juni 2015 wurde die Rüge bezüglich der fortdauernden Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers auf der Grundlage des angeblich unzureichenden Sachverständigengutachtens und trotz versagter Genehmigung zur Fortsetzung der externen Therapie nach Artikel 5 Abs. 1 und 4 der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Einlegung seiner Individualbeschwerde war er in der Justizvollzugsanstalt B. inhaftiert. Derzeit lebt er in B.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

1. Die Verurteilung des Beschwerdeführers

6. Am 1. Oktober 1998 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen gefährlicher Körperverletzung zu sechs Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe und ordnete nach § 66 Abs. 1 StGB (siehe Rdnr. 36) seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Das Gericht stellte fest, der Beschwerdeführer habe seiner früheren Freundin nachgestellt, habe sie und ihre Familie mit Telefonanrufen, unangekündigten Besuchen und Drohungen gegen Leib und Leben terrorisiert und habe ihr schließlich vor ihrer Arbeitsstätte aufgelauert und ihr mit Tötungsvorsatz zweimal mit einer Schere in den Hals gestochen. Er habe erst von seinem Opfer abgelassen, nachdem er es fast erstochen hätte. Das Gericht folgte den Ausführungen aus dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen A. und vertrat die Auffassung, dass der Beschwerdeführer im Zustand verminderter Schuldfähigkeit gehandelt habe, da er sich zum Tatzeitpunkt in einem affektiven Erregungszustand befunden und an einem neurasthenischen Syndrom gelitten habe. Es befand, dass der Beschwerdeführer, der bereits 1975, 1977, 1981, 1983 und 1988 wegen vergleichbarer, zumeist am Ende der Beziehungen gegen frühere Freundinnen begangener Straftaten einschließlich gefährlicher Körperverletzung, sexueller Nötigung und Vergewaltigung verurteilt worden war, einen Hang zur Begehung erheblicher Gewaltdelikte habe und für die Allgemeinheit gefährlich sei.

7. Am 27. Februar 2005 endete die vollständig und im Wesentlichen in der Justizvollzugsanstalt B. verbüßte Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers.

2. Die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers

8. Nach dem Ende seiner Freiheitsstrafe wurde der Beschwerdeführer nicht entlassen, sondern verblieb aufgrund einer Verfahrensverzögerung ohne eine förmliche Entscheidung der für die Vollstreckung der Sicherungsverwahrungsanordnung nach § 67c StGB (siehe Rdnr. 36) zuständigen Gerichte in faktischer Sicherungsverwahrung.

9. Am 15. Juni 2007 entschied das Kammergericht, dass eine weitere Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ohne gerichtliche Anordnung ihrer Vollstreckung unzulässig sei, und ordnete ihre Unterbrechung an. Der Beschwerdeführer wurde am selben Tag entlassen.

10. Am 9. Juli 2007 ordnete das Landgericht die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nach § 67c Abs. 1 StGB an, da nicht zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen würde. Es nahm in diesem Zusammenhang Bezug auf die von dem psychotherapeutischen Sachverständigen B. vertretene Ansicht, der zufolge das impulsive und ausfällige Verhalten des Beschwerdeführers in den Anhörungen im Juni 2007 seine Einschätzung aus dem Gutachten vom 15. September 2005 bestätigt habe, dass der Beschwerdeführer weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

11. Gegen diesen Beschluss legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein. Solange das Beschwerdeverfahren anhängig war, blieb er in Freiheit.

12. Während der Zeit in Freiheit fand er eine Wohnung und eine Arbeit und begann freiwillig eine psychotherapeutische Behandlung bei der Psychologin So. Er nahm regelmäßig die wöchentlichen Behandlungstermine bei So. wahr und beging während seiner Zeit in Freiheit keine Straftaten.

13. Am 27. Mai 2008 bestätigte das Kammergericht die Entscheidung des Landgerichts. Wie das Landgericht stützte es sich bei seiner Entscheidung auf ein zu einem früheren Zeitpunkt von dem psychotherapeutischen Sachverständigen B. und dem Psychologen S. angefertigtes medizinisches Sachverständigengutachten. Der Sachverständige B. hatte den Beschwerdeführer zwischen Februar und September 2005 viermal untersucht. S. hatte im März 2005 psychologische Tests bei dem Beschwerdeführer durchgeführt. Die beiden Sachverständigen hatten am 15. September 2005 ihr gemeinsames Sachverständigengutachten vorgelegt und dieses am 20. April 2006 um eine weitere ärztliche Stellungnahme ergänzt, in der sie auf Fragen des Rechtsbeistands des Beschwerdeführers eingingen. Das ursprüngliche Gutachten basierte darüber hinaus auf der Auswertung der Gefangenenpersonalakte des Beschwerdeführers und einer Vielzahl von Ermittlungsakten sowie auf der Befragung eines seiner Mithäftlinge.

14. Die Sachverständigen gelangten in ihrem Gutachten zu der Einschätzung, bei dem Beschwerdeführer liege eine narzisstische und antisoziale Persönlichkeitsstörung vor. Sie vertraten die Auffassung, dass angesichts der Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers ein sehr hohes Rückfallrisiko vorliege und davon auszugehen sei, dass er schwere Straftaten begehen werde, die sich hauptsächlich gegen die körperliche und sexuelle Integrität möglicher weiblicher Opfer richten würden. Der Beschwerdeführer habe während seiner Bewährungszeit kontinuierlich neue Straftaten begangen, so dass seine Bewährung fünfmal widerrufen worden sei. Er habe hauptsächlich Straftaten gegen die körperliche und sexuelle Integrität von Frauen begangen, und zwar zumeist am Ende seiner Beziehungen, als er nicht in der Lage gewesen sei zu akzeptieren, dass seine Freundinnen ihn verlassen hätten. Die therapeutische Behandlung sei bisher nicht erfolgreich gewesen.

15. Das Gericht schloss sich der Einschätzung der psychiatrischen Sachverständigen an. Es befand, dass der Beschwerdeführer während seines Jahres in Freiheit zwar keine Straftaten begangen und sich in dieser Zeit freiwillig und regelmäßig einer psychologischen Behandlung unterzogen habe, es jedoch keinen Grund für die Annahme gebe, dass er nicht rückfällig werden würde. Bereits in der Vergangenheit habe es längere Zeiträume gegeben, in denen der Beschwerdeführer keine Straftaten begangen habe. Es sei damit zu rechnen, dass es wieder zu Situationen wie denjenigen, in denen der Beschwerdeführer am Ende von Beziehungen Straftaten, insbesondere gegen die körperliche und sexuelle Integrität seiner Partnerinnen begangen habe, kommen würde und dass diese, genau wie in der Vergangenheit, eskalieren würden.

16. Am 30. Mai 2008 kehrte der Beschwerdeführer freiwillig zum Wiederantritt der Sicherungsverwahrung in die Justizvollzugsanstalt B. zurück.

17. Am 2. September 2008 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die von dem Beschwerdeführer erhobene Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Landgerichts und des Kammergerichts hinsichtlich der Vollstreckung der Sicherungsverwahrungsanordnung zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1612/08).

18. Am 20. Dezember 2012 wurde eine diesbezüglich beim Gerichtshof eingelegte Individualbeschwerde (Nr. 12132/09) in einem Verfahren nach Artikel 27 der Konvention von einem Einzelrichter für unzulässig erklärt.

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Der Beschluss des Landgerichts

19. Am 12. Oktober 2009 entschied das Landgericht in seinem ersten regelmäßigen Überprüfungsverfahren nach §§ 67d Abs. 2 und 67e Abs. 1 und 2 StGB in der damals geltenden Fassung (siehe Rdnr. 36), dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung fortgesetzt werden müsse. Es befand, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen würde.

20. Das Gericht hörte die Vollzugsbehörde an, die in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 6. März 2009 angab, dass der Beschwerdeführer nicht zur Auseinandersetzung mit seinen Problemen bereit sei, und jede therapeutische Behandlung in der Vollzugsanstalt ablehne. Am 25. September 2009 hörte das Gericht auch den Beschwerdeführer an. Ferner stützte es sich bei seiner Entscheidung, die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zu verlängern, auf die Einschätzung des psychotherapeutischen Sachverständigen B. und des Psychologen S. vom 15. September 2005, das am 20. April 2006 ergänzt worden war (siehe Rdnr. 13). Es berücksichtigte, dass der Beschwerdeführer seit 1971 fünfzehnmal verurteilt worden war, davon zehnmal wegen Gewaltdelikten.

21. Das Landgericht wies ferner den Antrag des Beschwerdeführers auf ein neues psychiatrisches Sachverständigengutachten zurück. Es befand, dass nach § 454 Abs. 2 i. V. m. § 463 Abs. 3 StPO (siehe Rdnr. 37) ein neues Sachverständigengutachten nur dann als Grundlage für die regelmäßige Überprüfungsentscheidung eingeholt werden müsse, wenn das Gericht die Aussetzung der Unterbringung eines Sicherungsverwahrten zur Bewährung erwäge, damit sichergestellt sei, dass er keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstelle. Andernfalls liege die Entscheidung, ob ein neues Sachverständigengutachten erforderlich sei, gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe Beschluss vom 3. Februar 2003, 2 BvR 1512/02) und des Verfassungsgerichtshofs (siehe Beschluss vom 4. März 2009, VerfGH 104/07) im Ermessen des die Notwendigkeit der Verlängerung der Sicherungsverwahrungsanordnung prüfenden Gerichts. In der Regel sei die Einholung eines Sachverständigengutachtens notwendig, wenn der Untergebrachte an psychiatrischen Anomalien leide, die zur Einschätzung seiner Gefährlichkeit für die Allgemeinheit eine Bewertung durch einen psychiatrischen Sachverständigen erforderten. Andernfalls sei ein neues psychiatrisches Sachverständigengutachten grundsätzlich nicht notwendig, wenn nicht besondere neue Umstände eine erneute Begutachtung des Untergebrachten erforderlich machten.

22. Das Gericht stellte fest, dass entsprechend den dargestellten rechtlichen Maßstäben die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens nicht notwendig sei. Es verwies auf die Ausführungen in dem Kammergerichtsbeschluss vom 27. Mai 2008 und merkte an, dass es seitdem keine wesentlichen Veränderungen gegeben habe. Der Beschwerdeführer habe es seit seiner Rückkehr in die Sicherungsverwahrung abgelehnt, sich in der Justizvollzugsanstalt einer therapeutischen Behandlung zu unterziehen. Dass er 57 Jahre alt sei, führe aufgrund der Umstände seines Falles im Ergebnis nicht zu einer anderen Bewertung der von ihm ausgehenden Gefahr. Das Sachverständigengutachten von B. und S. vom 15. September 2015, das am 20. April 2006 ergänzt und von B. im Juni 2007 vor dem Landgericht in zwei Anhörungsterminen über eine Dauer von insgesamt sechs Stunden erläutert worden sei, sei somit noch ausreichend aktuell.

23. Das Gericht vertrat jedoch die Auffassung, dass dem Beschwerdeführer die Fortsetzung seiner Therapie bei der externen Psychologin So. gestattet werden solle, was ihm seit seiner erneuten Unterbringung untersagt gewesen sei. Die Vollzugsbehörde solle ihm die Fortsetzung genehmigen und Ausführungen zu Behandlungsterminen bei seiner Psychologin außerhalb der Anstalt organisieren.

2. Der Beschluss des Kammergerichts

24. Am 24. März 2010 verwarf das Kammergericht die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass es nicht zu verantworten sei, den Beschwerdeführer mit der Auflage, dass er sich außerhalb der Justizvollzugsanstalt einer Therapie unterziehe, auf Bewährung zu entlassen. Es lägen keine überzeugenden und nachprüfbaren Hinweise dafür vor, dass der Beschwerdeführer sich mit seinen Taten oder den charakterlichen Mängeln, die zu den Taten geführt hätten, auseinandergesetzt habe. Das Jahr, das er während der Unterbrechung seiner Sicherungsverwahrung in Freiheit verbracht habe, beweise nicht das Gegenteil, auch wenn er während dieser Zeit nicht erneut straffällig geworden sei. Der Beschwerdeführer sei auch in der Vergangenheit über längere Zeiträume straffrei geblieben, habe aber dennoch wiederholt schwere Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit seiner Partnerinnen begangen, wenn diese ihre Beziehungen zu ihm beendeten. Auch unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsstörungen, die seine Gefährlichkeit bedingten, sei der Zeitraum von einem Jahr in Freiheit daher zu kurz, um zu beweisen, dass der Beschwerdeführer nicht mehr gefährlich sei. Das Gericht verwies in diesem Zusammenhang auf die Begründung in seinem Beschluss vom 27. Mai 2008 sowie auf das Sachverständigengutachten von B. und S., auf das diese Entscheidung gestützt worden sei (siehe Rdnr. 13-15).

25. Das Gericht erkannte ferner an, dass sich der Beschwerdeführer während seiner Zeit in Freiheit einmal wöchentlich freiwillig einer psychologischen Behandlung bei der Psychologin So. unterzogen habe. Es war allerdings der Auffassung, dass ein Erfolg dieser Behandlung nicht nachgewiesen sei. Vielmehr zeige das impulsive und ausfällige Verhalten des Beschwerdeführers gegenüber anderen Menschen, insbesondere den Mitarbeitern der Justizvollzugsanstalt, dass sich seine Einstellung und sein Charakter nicht verändert hätten und er weiterhin nicht zur Mitarbeit bereit sei.

26. Darüber hinaus befand das Gericht, dass die Vollzugsbehörde dem Beschwerdeführer zwar ohne hinreichende Begründung Ausführungen, insbesondere Ausführungen zur Wahrnehmung von Terminen bei seiner externen Therapeutin So., verweigert habe, dass derartige Mängel im Vollzug der Sicherungsverwahrung jedoch nicht die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Sicherungsverwahrung rechtfertigen würden. Das Gericht erkannte an, dass Ausgänge notwendig seien, damit der Beschwerdeführer langfristig beweisen könne, dass er zu einem straffreien Leben in Freiheit in der Lage sei. Allerdings war das Gericht der Auffassung, dass selbst dann, wenn dem Beschwerdeführer nach seiner erneuten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung die erforderlichen Ausgänge gewährt worden wären, die seitdem verstrichene Zeit zu kurz gewesen wäre, um zu beweisen, dass er nicht mehr gefährlich sei. Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers sei daher noch nicht unverhältnismäßig.

27. Das Kammergericht war außerdem der Ansicht, die Entscheidung des Landgerichts, kein neues ärztliches Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben, sei rechtmäßig gewesen und habe nicht dessen Aufklärungspflicht verletzt. Wie bereits ausgeführt, hätte ein neuer psychiatrischer Sachverständiger keine wesentlich andere Situation vorgefunden als B. und S. bei ihrer Gutachtenerstellung. Die Weigerung des Beschwerdeführers, mitzuarbeiten und eine weitere psychologische Behandlung innerhalb der Justizvollzugsanstalt zu akzeptieren, zeige, dass die Therapie bei So. seinen Charakter und sein Verhalten nicht wesentlich verändert habe.

3. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

28. Am 16. Juni 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die gegen die Beschlüsse des Landgerichts und des Kammergerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers, in der er eine Verletzung seiner Grundrechte auf Freiheit und auf ein faires Verfahren geltend gemacht hatte, zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 903/10).

C. Sonstige Entwicklungen

1. Das Verfahren betreffend den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Ausführungen zum Zweck der externen psychologischen Behandlung

29. Am 24. März 2010 hob das Kammergericht auf Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers hin durch gesonderten Beschluss die Entscheidungen der Vollzugsbehörde und des Landgerichts, mit denen dem Beschwerdeführer Ausgänge zum Zweck der Fortführung seiner psychologischen Behandlung bei So. seit Oktober 2008 versagt worden waren, auf. Das Gericht verpflichtete die Vollzugsbehörde, dem Beschwerdeführer mindestens zweiwöchentlich Ausführungen zu gewähren, damit er sich einer weiteren psychotherapeutischen Behandlung bei der externen Psychologin So. unterziehen könne.

30. Der Beschwerdeführer konnte psychotherapeutische Behandlungstermine bei So. wahrnehmen, bis sein Vertrauensverhältnis zu der Psychologin im September/Oktober 2010 endete. Die Vollzugsbehörde setzte daraufhin am 9. Dezember 2010 die für den Beschwerdeführer geltende Ausgangsregelung aus, wobei sie feststellte, der Beschwerdeführer habe So. wiederholt bedroht. Am 29. April 2011 bestätigte das Kammergericht diese Entscheidung. Es stellte fest, dass zu befürchten sei, der Beschwerdeführer werde die Außenmaßnahmen zur Begehung weiterer Straftaten nutzen, da sein Konflikt mit So. den Situationen in seinen früheren Beziehungen zu Frauen ähnlich sei, bevor er schwere Straftaten gegen diese begangen habe.

31. Die daraufhin von dem Beschwerdeführer gestellten Anträge auf Genehmigung einer Behandlung durch den externen psychiatrischen Sachverständigen Dr. P. in einer Klinik wurden von der Vollzugsbehörde abschlägig beschieden; dies wurde vom Landgericht bestätigt. Das Kammergericht hob diese Entscheidungen am 3. November 2011 und am 4. Mai 2012 auf und wies die Vollzugsbehörde an, die Anträge des Beschwerdeführers unter Beachtung der Feststellungen des Gerichts neu zu bescheiden. Mit Beschluss vom 4. Mai 2012 befand das Kammergericht, wie es bereits in seinem Beschluss vom 24. März 2012 ausgeführt hatte, dass der Beschwerdeführer nicht zu einer anstaltsinternen Therapie verpflichtet werden könne. Im September 2012 setzte der Beschwerdeführer die externe Psychotherapie fort.

2. Weitere Überprüfung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers

32. Am 22. Mai 2012 erging die Entscheidung des Landgerichts im Rahmen des neuerlichen regelmäßigen Überprüfungsverfahrens. Es stellte fest, dass die Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ab dem 20. November 2013 zur Bewährung auszusetzen sei, ordnete für fünf Jahre Führungsaufsicht an und wies den Beschwerdeführer u. a. an, sich von seiner früheren externen Psychologin So. und deren Familie fernzuhalten, da er begonnen habe, sie mit E-Mails und Telefonanrufen zu verfolgen und zu bedrohen.

33. Das Gericht, das sich den Ergebnissen eines von P. erstellten, neuen externen psychiatrischen Sachverständigengutachtens anschloss, befand, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer in Freiheit rückfällig werden würde, zwar weiterhin als hoch anzusehen sei, es jedoch möglich sei, den Beschwerdeführer nach einer Vorlaufzeit von etwa einem Jahr auf Bewährung zu entlassen, sofern er diese Vorlaufzeit ohne weitere Komplikationen absolviere. Da die Vollzugsbehörde die gerichtlichen Anordnungen, dem Beschwerdeführer Zugang zu einer externen psychologischen Behandlung zu gewähren, über Jahre ignoriert und boykottiert habe, und zwar in einer von dem Gericht bisher nicht gekannten und als verfassungswidrig angesehenen Weise, habe das Freiheitsinteresse des Beschwerdeführers nunmehr Vorrang vor dem Interesse der Allgemeinheit.

34. Am 12. Oktober 2012 bestätigte das Kammergericht diese Entscheidung in der Beschwerdeinstanz. Es stellte fest, dass eine sofortige Freilassung des Beschwerdeführers angesichts der von ihm ausgehenden Gefahr nicht angeordnet werden könne. Unter Bezugnahme auf ein von dem Sachverständigen D. im Jahr 2010 erstelltes Gutachten betonte es in diesem Zusammenhang, dass die Deliktfreiheit des Beschwerdeführers während seiner 2007/2008 in Freiheit verbrachten Zeit nicht darauf schließen lasse, dass er nicht mehr gefährlich sei. Der Beschwerdeführer habe seine früheren Taten im Zusammenhang mit Beziehungen zu Frauen begangen. Während seiner Zeit in Freiheit habe er aber keine solche Beziehung geführt. Überdies habe er nicht das Recht, seinen Therapeuten frei zu wählen.

35. Der Beschwerdeführer wurde am 20. November 2013 auf Bewährung entlassen.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

A. Bestimmungen über die Anordnung und gerichtliche Überprüfung der Sicherungsverwahrung

36. Die in der vorliegenden Rechtssache in Bezug genommenen Bestimmungen über die Anordnung und gerichtliche Überprüfung der Sicherungsverwahrung in ihrer zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung finden sich an folgenden Stellen: Die Bestimmung über die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht (§ 66 Abs. 1 StGB) ist in der Rechtssache M. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 49-50, ECHR 2009) dargestellt. Die maßgebliche Bestimmung über die Anordnung der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung (§ 67c StGB) findet sich in der Rechtssache S. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 48038/06, Rdnr. 48, 24. November 2011). Die Bestimmungen über die gerichtliche Überprüfung und Dauer der Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 2 sowie § 67e Abs. 1 und 2 StGB) sind in der Rechtssache H. W. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 17167/11, Rdnrn. 41 und 42, 19. September 2013) enthalten.

B. Bestimmungen über Sachverständigengutachten

37. Die einschlägigen Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO) über Sachverständigengutachten in Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung von Sicherungsverwahrungsanordnungen lauten wie folgt:

§ 454

„[…]

(2) Das Gericht holt das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten ein, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes

1. der lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen oder

2. einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren […] auszusetzen und nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen.

Das Gutachten hat sich namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht.

[…]“

§ 463

„(1) Die Vorschriften über die Strafvollstreckung gelten für die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung sinngemäß, soweit nichts anderes bestimmt ist.

[…]

(3) […] § 454 Abs. 2 findet in den Fällen des § 67d Absatz 2 […] entsprechende Anwendung, soweit das Gericht über die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden hat. […]“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 DER KONVENTION

38. Der Beschwerdeführer rügte die Anordnung der fortdauernden Vollstreckung seiner Sicherungsverwahrung in dem in Rede stehenden Verfahren. Er machte insbesondere geltend, dass das Verfahren und seine sich daraus ergebende Unterbringung gegen Artikel 6 Abs. 1 und Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen hätten, da seine Unterbringung auf ein veraltetes und unzureichendes psychiatrisches Sachverständigengutachten gestützt worden sei. Überdies sei ihm nicht gestattet worden, die Therapie bei der externen Psychologin So., zu der er ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut habe, fortzusetzen.

39. Der Gerichtshof merkt an, dass in dem in Rede stehenden Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nicht mehr „über eine gegen [ihn] erhobene strafrechtliche Anklage“ im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verhandelt wurde (vgl. sinngemäß H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 12788/04, 9. Mai 2007; und P. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 1241/06, 24. März 2009).

40. Daher ist die Rüge des Beschwerdeführers allein nach Artikel 5 der Konvention zu prüfen. Unter Berücksichtigung der von dem Beschwerdeführer bei seiner Rüge gewählten Formulierungsweise und des vom Gerichtshof in ähnlich gelagerten Fällen gewählten Ansatzes (siehe bspw. D. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 2894/08, 22. Januar 2013; und H. W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnrn. 92-93) wird der Gerichtshof die vorliegende Beschwerde allein nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention prüfen ist, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;

[…]“

41. Die Regierung trat dem Vorbringen des Beschwerdeführers entgegen.

A. Zulässigkeit

42. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

43. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass seine in Rede stehende Sicherungsverwahrung Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt habe. Seine Unterbringung sei rechtswidrig und könne nicht mehr nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a gerechtfertigt werden, da kein hinreichender Kausalzusammenhang mehr zwischen seiner Verurteilung und der Freiheitsentziehung nach seiner erneuten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im Mai 2008 bestehe.

44. Der Beschwerdeführer trug zunächst vor, dass die Anordnung seiner fortdauernden Sicherungsverwahrung mittlerweile nicht mehr mit den Zielen der von dem erkennenden Gericht erlassenen Unterbringungsanordnung vereinbar und willkürlich sei. Nach seiner Rückkehr in die Sicherungsverwahrung sei ihm nicht gestattet worden, die von ihm in Freiheit begonnene Therapie bei der externen Psychologin So., zu der er ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut habe, fortzusetzen. Er sei also weiterhin in der Sicherungsverwahrung untergebracht worden, weil er eine Gefahr für die Allgemeinheit dargestellt habe, gleichzeitig seien ihm jedoch die erforderlichen Mittel, namentlich eine geeignete Therapie, mit denen er hätte zeigen können, dass er nicht mehr gefährlich sei, vorenthalten worden.

45. Der Beschwerdeführer bestritt, alle Beratungs- und Therapieangebote der Vollzugsbehörde zurückgewiesen zu haben; er habe lediglich darauf bestanden, dass die Therapie auf seine Bedürfnisse zugeschnitten werde. Er betritt außerdem, So. nach dem Ende seiner Therapie bedroht zu haben.

46. Ferner brachte der Beschwerdeführer vor, seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sei auf ein veraltetes und unzureichendes psychiatrisches Sachverständigengutachten gestützt worden, das erstellt worden sei, bevor er beinahe ein Jahr in Freiheit verbracht habe. Das letzte medizinische Sachverständigengutachten über seine Gefährlichkeit liege eine erhebliche Zeit zurück. Insbesondere habe der Sachverständige B. bei seiner Anhörung im Juni 2007 lediglich seine früheren, 2005 erstellten und 2006 ergänzten Stellungnahmen verteidigt.

47. Überdies sei angesichts seiner guten Führung in Freiheit, als er sich freiwillig in Therapie begeben habe und nicht straffällig geworden sei, sowie angesichts seines fortschreitenden Alters ein neues Gutachten erforderlich, damit im Hinblick auf die Anordnung der Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung eine hinreichende Sachaufklärung als Grundlage einer verlässlichen Prognose der im Jahr 2009 von ihm ausgehenden Gefährlichkeit erfolgen könne. Eine Beurteilung seiner Gefährlichkeit, die für Personen ohne medizinische Fachkenntnisse schwierig sei, müsse den aus den dargelegten Sachverhalten resultierenden positiven Veränderungen seiner Umstände Rechnung tragen. Der Umstand, dass er seine externe Therapie zu dem Zeitpunkt, als seine Sicherungsverwahrung durch die angegriffenen Entscheidungen verlängert worden sei, noch nicht abgeschlossen habe, könne nicht zu seinen Ungunsten ausgelegt werden, da ihm die Vollzugsbehörde die Fortsetzung dieser Therapie ab dem Zeitpunkt seiner erneuten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im Mai 2008 versagt habe.

48. Der Beschwerdeführer trug weiter vor, dass das Überprüfungsverfahren, bei dem die Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei, aus den vorstehend erläuterten Gründen unfair gewesen sei und folglich nicht mit Artikel 5 Abs. 4 in Einklang gestanden habe.

b) Die Regierung

49. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung aufgrund der Anordnung des Landgerichts vom 12. Oktober 2009 mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei. Die Unterbringung des Beschwerdeführers habe eine „rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht“ nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a dargestellt.

50. Sie führte aus, es habe nach wie vor ein Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Landgericht am 1. Oktober 1998 und der von ebendiesem Gericht am 12. Oktober 2009 angeordneten Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung bestanden. Die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers habe weiterhin dem Zweck gedient, die Allgemeinheit vor möglichen weiteren schweren Straftaten des Beschwerdeführers zu schützen.

51. Zunächst machte die Regierung geltend, dass der besagte Kausalzusammenhang insbesondere nicht dadurch durchbrochen worden sei, dass dem Beschwerdeführer zeitweise die Fortsetzung der von ihm in Freiheit begonnenen externen Therapie versagt worden sei. Vom Zeitpunkt seiner Rückkehr in die Sicherungsverwahrung im Mai 2008 bis zu der angegriffenen Entscheidung vom 24. März 2010 habe der Beschwerdeführer sämtliche ihm von der Vollzugsbehörde angebotenen geeigneten internen Therapien abgelehnt, insbesondere psychologische Beratungstermine innerhalb der Justizvollzugsanstalt oder eine psychotherapeutische Behandlung in der sozialtherapeutischen Abteilung der Anstalt.

52. Außerdem habe der anschließende Verlauf der externen Therapie, die dem Beschwerdeführer schließlich gestattet worden sei und die wenige Monate später bereits im Konflikt geendet habe, gezeigt, dass die von der Vollzugsbehörde von Anfang an gehegten Zweifel bezüglich der Eignung der Therapie bei So. berechtigt gewesen seien.

53. Die Regierung führte weiter aus, dass sich die innerstaatlichen Gerichte mit ihrer Weigerung, ein neues Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Beschwerdeführers einzuholen, innerhalb ihres Ermessensspielraums bewegt hätten und dadurch die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 unrechtmäßig geworden sei. Die innerstaatlichen Gerichte seien nach den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts (§ 463 Abs. 3 i. V. m. § 454 Abs. 2 StPO, siehe Rdnr. 37) nicht zur Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens verpflichtet gewesen, da sie nicht beabsichtigt hätten, die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zur Bewährung auszusetzen.

54. Überdies hätten die innerstaatlichen Gerichte ausführlich und überzeugend begründet, warum kein erneutes Sachverständigengutachten erforderlich sei, um hinreichend zu ergründen, ob der Beschwerdeführer noch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Die Einschätzung der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers aus dem Sachverständigengutachten von 2005/2006 sei im Juni 2007 von dem Sachverständigen B. bei der Anhörung vor dem Landgericht auf der Grundlage des Eindrucks, den dieser bei der Verhandlung von dem Beschwerdeführer und insbesondere von dessen impulsivem und ausfälligem Verhalten gewonnen habe, aktualisiert worden, und sei demnach nur etwa zwei Jahre und sechs Monate alt gewesen.

55. Außerdem hätten die innerstaatlichen Gerichte dargelegt, warum der Umstand, dass der Beschwerdeführer kurzzeitig in Freiheit gewesen sei und sich währenddessen freiwillig einer Therapie unterzogen habe, angesichts seiner vorausgegangenen zahlreichen Gewaltdelikte und der tiefgreifenden Natur seiner Persönlichkeitsstörung nichts an seiner Gefährlichkeitsprognose ändere. Insbesondere habe sich die Tatsachengrundlage, auf die die Gefährlichkeitsprognose des Beschwerdeführers zu stützen gewesen wäre, nicht verändert. Der Beschwerdeführer neige bei Konflikten in den Beziehungen zu Frauen zur Begehung von Gewaltdelikten. Da er in dem Zeitraum, in dem er sich 2007/2008 in Freiheit befunden habe, keine Beziehung geführt habe, belege der Umstand, dass er nicht straffällig geworden sei, nicht die Bewältigung seiner Persönlichkeitsstörung. Überdies hätten die wöchentlichen externen Behandlungstermine, die er begonnen habe, keine Resultate hinsichtlich der Behandlung seiner Persönlichkeitsstörung – die auch in der Justizvollzugsanstalt nicht erfolgreich behandelt worden sei – gezeigt, sondern hätten in eine Situation gemündet, die der Situation in früheren Beziehungen des Beschwerdeführers zu Frauen geähnelt habe, bevor er schwere Straftaten gegen diese begangen habe.

56. Aus denselben Gründen sei das Verfahren der innerstaatlichen Gerichte zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der fortdauernden Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers fair gewesen und habe in Einklang mit Artikel 5 Abs. 4 der Konvention gestanden.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

57. Freiheitsentziehung „nach“ Verurteilung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a bedeutet, dass zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang bestehen muss (siehe u. a. Kafkaris ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Rdnr. 117, ECHR 2008). Jedoch wird die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und der weiteren Freiheitsentziehung mit zunehmendem Zeitablauf allmählich schwächer. Der nach Buchst. a erforderliche Kausalzusammenhang könnte schließlich durchbrochen werden, wenn erstens eine Position erreicht würde, in der die Entscheidung, keine Freilassung anzuordnen, sich auf Gründe stützte, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung (durch ein erkennendes Gericht) unvereinbar wären, oder zweitens auf eine Einschätzung, die im Hinblick auf diese Ziele unangemessen wäre. Unter diesen Umständen würde sich eine Freiheitsentziehung, die zu Beginn rechtmäßig war, in eine willkürliche Freiheitsentziehung verwandeln, die folglich mit Artikel 5 nicht mehr vereinbar wäre (siehe M. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 88, m. w. N.).

58. Die Entscheidung, einen Untergebrachten nicht zu entlassen, kann mit den Zielen der von dem erkennenden Gericht für diese Person erlassenen Unterbringungsanordnung nicht mehr vereinbar sein, wenn die betreffende Person untergebracht und diese Unterbringung später verlängert wird, weil die Gefahr gegeben ist, dass die Person weitere Straftaten begeht, ihr aber zugleich die erforderlichen Mittel, wie geeignete Therapien, vorenthalten werden, mit denen sie beweisen könnte, dass sie nicht mehr gefährlich ist (siehe im Zusammenhang mit Sicherungsverwahrung O. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 36035/04, Rdnr. 74, 22. März 2012; und H. W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 112; sowie im Kontext der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 53157/11, Rdnr. 47, 25. Februar 2016).

59. Die Verhältnismäßigkeit der Entscheidung, die Unterbringung einer Person zu verlängern, um die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dieser Person zu schützen, wird insbesondere infrage gestellt, wenn die innerstaatlichen Gerichte offensichtlich über unzureichendes Material verfügten, welches die Schlussfolgerung nahelegte, dass die betreffende Person weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, vornehmlich, weil die Gerichte es unterließen, unabdingbare und hinlänglich aktuelle Sachverständigengutachten einzuholen (siehe im Zusammenhang mit Sicherungsverwahrung D ./. Deutschland a. a. O. und H. W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 107; vgl. sinngemäß im Kontext von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e und Artikel 5 Abs. 4: Ruiz Rivera ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 8300/06, Rdnr. 60, 18. Februar 2014).

60. Die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt, dass die Frage, ob eine ärztliche Fachkompetenz hinlänglich aktuell war, vom Gerichtshof nicht statisch beantwortet wird, sondern von den konkreten Umständen des ihm vorliegenden Falles abhängt (siehe sinngemäß A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 36356/10, Rdnrn. 34-37, 21. Oktober 2014, m. w. N.). Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob es seit der letzten Begutachtung durch einen Sachverständigen möglicherweise wesentliche Änderungen in der Situation des Beschwerdeführers gegeben hat.

61. Der Gerichtshof hat folglich zusätzlich zum Zeitpunkt der Erstellung des Sachverständigengutachtens auch der Frage Bedeutung beigemessen, ob dieses in einem veränderten Sachzusammenhang erstellt wurde. In H. W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 109 beispielsweise haben die innerstaatlichen Gerichte ihre Einschätzung der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers, gegen den eine Sicherungsverwahrungsanordnung vollstreckt wurde, auf ein Sachverständigengutachten gestützt, das über zwölf Jahre alt und in einem anderen Zusammenhang erstellt worden war, zu einem Zeitpunkt, als das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer noch anhängig war. Im Gegensatz dazu war der Gerichtshof in den Rechtssachen D., a. a. O., und W. P. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 55594/13, Rdnrn. 52-53, 6. Oktober 2016, der Auffassung, dass es im Verlauf des Vollzugs der Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer seit der Erstellung des letzten Sachverständigengutachtens vor sechs bzw. zweieinhalb Jahren keine wesentlichen Änderungen ihrer persönlichen oder therapeutischen Situation gegeben habe.

62. Der Gerichtshof berücksichtigte außerdem, inwiefern Gesichtspunkten nachzugehen war, die für die Persönlichkeitsentwicklung des Beschwerdeführers maßgeblich waren, insbesondere Veränderungen infolge einer von ihm aufgenommenen Therapie (vgl. H. W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 111). Außerdem wurde wiederholt betont, wie wichtig es in verfahrenen Situationen ist, in denen für einen längeren Zeitraum kein Weg für die Zusammenarbeit zwischen dem Untergebrachten und der Vollzugsbehörde gefunden werden konnte, einen externen Sachverständigen zu konsultieren, um neue Perspektiven zur Anbahnung der erforderlichen therapeutischen Behandlung zu gewinnen (vgl. sinngemäß im Kontext von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 4 Ruiz Rivera, a. a. O., Rdnr. 64, wo es um ein weniger als vier Jahre altes Sachverständigengutachten ging, und Vogt ./. Schweiz (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45553/06, 3. Juni 2014, sowie auch H. W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 112).

b) Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

63. In der Frage, ob die vom Landgericht am 12. Oktober 2009 angeordnete und in der Rechtsmittelinstanz bestätigte fortdauernde Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers mit Artikel 5 Abs. 1 in Einklang gestanden hat, stellt der Gerichtshof fest, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers vom Landgericht am 1. Oktober 1998 zusammen mit seiner Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung angeordnet worden war. Es ist daher möglich, dass die Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a gerechtfertigt war, wenn sie „nach Verurteilung“ erfolgte, das heißt, wenn zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers 1998 und der 2009/2010 angeordneten Fortdauer seiner Freiheitsentziehung noch immer ein hinreichender Kausalzusammenhang bestand.

64. Zur Aufrechterhaltung dieses Kausalzusammenhangs muss erstens die Entscheidung, den Beschwerdeführer nicht zu entlassen, mit den Zielen der von dem erkennenden Gericht gegen ihn erlassenen Unterbringungsanordnung in Einklang gestanden haben. In dieser Hinsicht stellt der Gerichtshof fest, dass die angegriffene Anordnung der fortdauernden Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers erfolgte, da die Gerichte die Auffassung vertraten, es bestehe die hochgradige Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung weitere schwere Straftaten, insbesondere gegen die körperliche Unversehrtheit von Frauen, begehen würde (siehe Rdnrn. 19-20, 24 und 14). Diese Gründe als solche standen in Einklang mit den Zielen, die das erkennende Landgericht 1998 mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers verfolgt hatte. Das genannte Gericht hatte festgestellt, dass der Beschwerdeführer angesichts der wiederholt von ihm begangenen Straftaten einschließlich gefährlicher Körperverletzung, sexueller Nötigung und Vergewaltigung, die er zumeist am Ende der Beziehungen gegen seine früheren Partnerinnen begangen hatte, einen Hang zur Begehung erheblicher Gewaltdelikte habe und für die Allgemeinheit gefährlich sei (siehe Rdnr. 6).

65. Der Gerichtshof nimmt ferner das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Kenntnis, wonach die Entscheidung, seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zu verlängern, mittlerweile nicht mehr mit den Zielen der von dem erkennenden Gericht erlassenen Unterbringungsanordnung vereinbar sei, weil ihm die Möglichkeit zur Weiterführung der Therapie bei der externen Psychologin So. verwehrt worden sei.

66. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer vom Zeitpunkt seiner erneuten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ab 30. Mai 2008 bis zur Entscheidung des Kammergerichts im März 2010 die Möglichkeit zur Weiterführung der externen Therapie bei der Psychologin So., die er in Freiheit freiwillig begonnen hatte, versagt worden war. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte selbst der Ansicht waren, dass es wichtig sei, dem Beschwerdeführer Ausführungen speziell zu den Behandlungsterminen zu gewähren, damit er beweisen könne, dass er zu einem straffreien Leben in Freiheit in der Lage sei (siehe Rdnrn. 23 und 26). Daher war dem Beschwerdeführer schließlich gestattet worden, seine Therapie bei So. fortzusetzen; er nahm diese Therapie auch kurz nach den angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts und des Kammergerichts wieder auf, bis sie aus Gründen endete, die nicht dem Einfluss- und Verantwortungsbereich der Behörden zuzurechnen sind (siehe Rdnrn. 29-30).

67. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Behörden dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall eine zur Minderung seiner Gefährlichkeit erforderliche Therapie nicht versagt haben. Zwar trifft es zu, dass dem Beschwerdeführer die Möglichkeit der Weiterführung der externen Therapie bei So. für geraume Zeit verweigert worden war, dennoch ist unbestritten, dass ihm in der Justizvollzugsanstalt wiederholt Therapieangebote gemacht wurden, und es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Therapieangebote der Vollzugsbehörde bei objektiver Betrachtung nicht gleichermaßen geeignet gewesen wären, die von dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr zu verringern. Offenbar bestand im innerstaatlichen Recht auch keine Rechtsgrundlage dafür, dass der Beschwerdeführer darauf bestehen konnte, die externe Therapeutin, für die er sich ursprünglich ausgesprochen hatte, in Anspruch zu nehmen. Die fortgesetzte Weigerung des Beschwerdeführers, sich mit der ihm zur Verfügung stehenden Therapie abzufinden, wirkte sich auch auf die von der Vollzugsbehörde abgegebene Negativprognose aus und wurde vom Kammergericht bei seiner angegriffenen Entscheidung als Faktor herangezogen.

68. Da dem Beschwerdeführer folglich nicht die geeignete Therapie und damit das erforderliche Mittel vorenthalten worden ist, mit dem er hätte beweisen können, dass er nicht mehr für die Allgemeinheit gefährlich ist, standen die angegriffenen Entscheidungen zur Verlängerung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung mit den Zielen der von dem erkennenden Gericht gegen ihn erlassenen Unterbringungsanordnung, namentlich einen gefährlichen Verurteilten von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten, in Einklang.

69. Wir vorstehend dargelegt (siehe Rdnrn. 59-62) ist es für das Fortbestehen des Kausalzusammenhangs zwischen der ursprünglichen Verurteilung und der fortdauernden Freiheitsentziehung nicht nur erforderlich, dass die Entscheidung, den Untergebrachten nicht zu entlassen, weiterhin mit den Zielen der von dem erkennenden Gericht für diese Person erlassenen Unterbringungsanordnung vereinbar ist. Auch muss die Entscheidung, den Untergebrachten nicht zu entlassen, auf einer Bewertung beruhen, die im Hinblick auf die von dem erkennenden Gericht mit dieser Maßnahme verfolgten Ziele angemessen ist. Diese Angemessenheit kann insbesondere dann infrage gestellt werden, wenn, wie von dem Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache behauptet, die innerstaatlichen Gerichte es unterließen, unabdingbare und hinlänglich aktuelle Sachverständigengutachten einzuholen, und folglich offensichtlich über unzureichendes Material verfügten, welches die Schlussfolgerung nahelegte, dass der Beschwerdeführer weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

70. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Entscheidung, die Unterbringung des Beschwerdeführers zu verlängern, im März 2010 vom Kammergericht bestätigt wurde. Diese Entscheidung stützte sich unter anderem auf ein von B. und S. erstelltes Sachverständigengutachten zur Gefährlichkeit des Beschwerdeführers. Der Sachverständige B. hatte den Beschwerdeführer zwischen Februar und September 2005 viermal persönlich untersucht. Beide Sachverständige hatten anschließend im September 2005 ihr gemeinsames schriftliches Gutachten zur Gefährlichkeit des Beschwerdeführers vorgelegt. Dieses hatten sie im April 2006 um eine weitere ärztliche Stellungnahme ergänzt, in der sie auf Fragen des Rechtsbeistands des Beschwerdeführers eingegangen waren. Das Gutachten basierte nicht nur auf einer individuellen Begutachtung des Beschwerdeführers, sondern auch auf einer Auswertung seiner Gefangenenpersonalakte, auf Ermittlungsakten sowie auf der Befragung eines Mithäftlings. Ferner hatte B. das ärztliche Sachverständigengutachten im Juni 2007 in zwei, insgesamt sechs Stunden dauernden Anhörungsterminen vor dem Landgericht erläutert. Er hatte damals angegeben, dass er seine Bestätigung der Einschätzung des Beschwerdeführers auch auf dessen Verhalten in der Verhandlung gestützt habe, welches er als impulsiv und ausfällig wahrgenommen habe, und dass er den Beschwerdeführer weiterhin für gefährlich halte (siehe Rdnrn. 10, 13, 20, 22 und 24).

71. Eine Grundlage der ursprünglichen Einschätzung des Beschwerdeführers war demnach die über mehrere Monate hinweg vorgenommene persönliche Begutachtung aus dem Jahr 2005, viereinhalb Jahre vor der angegriffenen Entscheidung des Kammergerichts zur Verlängerung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung im März 2010. Die beiden genannten schriftlichen Stellungnahmen waren ebenfalls viereinhalb Jahre bzw. drei Jahre und elf Monate vor dieser Entscheidung erstellt worden. Daher merkt der Gerichtshof an, dass das Sachverständigengutachten schon eine gewisse Zeit zurückdatierte und es seit den Untersuchungen 2005/2006 in der persönlichen und der therapeutischen Situation des Beschwerdeführers Veränderungen gegeben hatte. Diese Veränderungen – unter anderem seine nahezu ein Jahr währende Entlassung aus der Unterbringung und die von ihm wahrgenommene externe therapeutische Behandlung – waren möglicherweise wesentliche Elemente für die Einschätzung der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers zum maßgeblichen Zeitpunkt.

72. Außerdem war in der Vergangenheit offenbar kein Weg für eine auf die erhebliche Verringerung seiner Gefährlichkeit abzielende Zusammenarbeit zwischen dem Beschwerdeführer und dem Vollzugspersonal gefunden worden und scheinbar sind von dem Beschwerdeführer in der Justizvollzugsanstalt seit langem keine wesentlichen Fortschritte erzielt worden, wohingegen er außerhalb der Anstalt nachweislich bereit und in der Lage war, sich einer Therapie zu unterziehen.

73. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die innerstaatlichen Gerichte, die unter den Umständen des Falles des Beschwerdeführers nach dem innerstaatlichen Recht (§ 454 Abs. 2 i. V. m. § 463 Abs. 3 StPO, siehe Rdnr. 37) nicht verpflichtet waren, ein neues Sachverständigengutachten einzuholen, umfassend begründeten, warum sie der Auffassung waren, dass sie über ausreichendes Material, einschließlich der unabdingbaren und hinlänglich aktuellen Sachverständigengutachten verfügten, welches die Schlussfolgerung nahelegte, dass der Beschwerdeführer weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte und die Fortdauer seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gerechtfertigt sei. Sie führten aus, dass das von dem Beschwerdeführer in Freiheit verbrachte Jahr zu kurz gewesen sei, um zu beweisen, dass er nicht mehr gefährlich sei, und zwar aus den folgenden Gründen: Der Beschwerdeführer leide an einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung, die in der Vergangenheit nicht erfolgreich behandelt worden sei, und es gebe keine Belege dafür, dass sie im Rahmen der Therapie bei So. erfolgreich behandelt wurde. Der Beschwerdeführer, der seit 1971 fünfzehnmal verurteilt worden sei, davon zehnmal wegen Gewaltdelikten (siehe Rdnr. 20), von denen mehrere jeweils am Ende der Beziehungen zu einer Partnerin begangen worden seien, habe während seiner Zeit in Freiheit keine Beziehung geführt. Die innerstaatlichen Gerichte, die sowohl die Vollzugsbehörde als auch den Beschwerdeführers angehört hatten, nahmen auch das nach wie vor impulsive und ausfällige Verhalten des Beschwerdeführers gegenüber anderen Menschen, insbesondere in der Justizvollzugsanstalt, zur Kenntnis. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der ihnen vorliegenden Rechtssache und nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens erforderlich war, gelangten die innerstaatlichen Gerichte zu dem Schluss, dass sich die Einstellung und der Charakter des Beschwerdeführers trotz der verstrichenen Zeit, seiner vorübergehenden Freilassung und der zeitweiligen Wahrnehmung einer externen Therapie nicht verändert hatten.

74. Angesichts dieser Umstände ist der Gerichtshof der Ansicht, dass das von dem Beschwerdeführer vor den innerstaatlichen Gerichten und dem Gerichtshof geltend gemachte Vorbringen, wonach das zugrunde gelegte Sachverständigengutachten unzureichend und veraltet war, zurückzuweisen ist. Wie oben unter Rdnr. 70 ausgeführt, stammte das Sachverständigengutachten aus dem Jahr 2005 und ist unter Bezugnahme auf eine erhebliche Materialfülle aus seiner Gefangenenpersonalakte sowie aus den Ermittlungsakten und auf der Grundlage einer Befragung sowie einer Beurteilung seiner Führung in der Vollzugsanstalt erstellt und anschließend bestätigt, ergänzt und unter Verweis auf weitere unmittelbare Beobachtung des Beschwerdeführers geprüft worden. Nach alledem ist der Gerichtshof überzeugt, dass unter den konkreten Umständen des Falles, insbesondere angesichts des besonderen Kontexts, in dem der Beschwerdeführer wiederholt erhebliche Gewaltdelikte begangen hat, der komplexen therapeutischen Bedarfslage des Beschwerdeführers, des Umstands, dass wegen der mangelnden Zusammenarbeit zwischen dem Beschwerdeführer und der Vollzugsbehörde kein Behandlungsfortschritt feststellbar ist, sowie angesichts der Tatsache, dass das als Grundlage herangezogene medizinische Sachverständigengutachten der Überprüfung standgehalten hat, die innerstaatlichen Behörden berechtigterweise davon ausgehen konnten, dass das Gutachten noch immer hinlänglich aktuell und relevant war. Ihre Entscheidung, den Beschwerdeführer nicht zu entlassen, beruhte auf einer Bewertung, die im Hinblick auf die Ziele, die das erkennende Landgericht bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers verfolgt hatte, vertretbar war.

75. Folglich bestand zwischen der strafrechtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers durch das erkennende Landgericht im Jahr 1998 und seiner von diesem Gericht am 12. Oktober 2009 angeordneten und vom Kammergericht im März 2010 bestätigten Freiheitsentziehung durch fortdauernde Unterbringung in der Sicherungsverwahrung noch immer ein hinreichender Kausalzusammenhang im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention.

76. Die nach § 67d Abs. 2 StGB angeordnete Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers war ferner rechtmäßig im Sinne von Artikel 5 Abs. 1.

77. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist insoweit folglich nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 7. September 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                      Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                       Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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