RECHTSSACHE STOLLENWERK ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 8844/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE S. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 8844/12)
URTEIL
STRASSBURG
7. September 2017

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache S. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Nona Tsotsoria,
Yonko Grozev,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov,
und Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler

nach nicht öffentlicher Beratung am 4. Juli 2017

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 8844/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, S. („der Beschwerdeführer“), am 9. Februar 2012 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn H., Rechtsanwalt in M., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte unter Berufung auf Artikel 5 Abs. 4 der Konvention eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit geltend, weil das Oberlandesgericht am 3. bzw. 25. Februar 2011 über die Fortdauer seiner Haft und über seinen Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs entschieden habe, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich zu der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft zu äußern.

4. Am 16. März 2016 wurde die Artikel 5 Abs. 4 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES

5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist in D. wohnhaft.

6. Am 27. August 2010 erließ das Amtsgericht Haftbefehl gegen ihn wegen des dringenden Verdachts des Handels mit Betäubungsmitteln. Er war zuvor an diesem Tag mit 15,8 Gramm Heroin angetroffen worden, das er mutmaßlich verkaufen wollte. Davor war er bereits zweimal an der deutschen Grenze mit 11 bzw. 12,5 Heroin angetroffen worden. Begründet wurde der Haftbefehl mit Fluchtgefahr, da er eine empfindliche Strafe für die betreffenden Straftaten zu erwarten habe, keine sozialen Bindungen habe und ferner arbeitslos und drogenabhängig sowie charakterlich labil sei. Er wurde noch am selben Tag in Untersuchungshaft genommen.

7. Zwischen dem 30. August 2010 und dem 11. November 2010 wurde die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers acht Mal durch das Amtsgericht oder das Landgericht geprüft.

8. Mit Urteil vom 6. Dezember 2010 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen, in zwei Fällen tateinheitlich mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln, jeweils in nicht geringer Menge, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten. Am selben Tag ordnete das Amtsgericht durch gesonderten Beschluss die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers an.

9. Am 8. Dezember 2010 legte der Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss Beschwerde ein. Im Wesentlichen nahm er dabei auf sein früheres Vorbringen Bezug. Am 13. Dezember 2010 legte er Berufung gegen das Urteil ein.

10. Das Amtsgericht half der Haftbeschwerde vom 8. Dezember 2010 nicht ab und verwies sie an das Landgericht, das sie am 15. Dezember 2010 verwarf und feststellte, dass bei dem Beschwerdeführer immer noch Fluchtgefahr bestehe.

11. Am 5. Januar 2011 legte der Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss eine weitere Beschwerde ein. Im Wesentlichen nahm er dabei erneut auf sein früheres Vorbringen Bezug. Er bat ausdrücklich um Übermittlung der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft, um sich dazu äußern zu können.

12. Am 28. Januar 2011 legte die Generalstaatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht eine Stellungnahme vor und beantragte, die Beschwerde des Beschwerdeführers vom 5. Januar 2011 zu verwerfen.

13. Die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft ging am 3. Februar 2011 beim Verteidiger des Beschwerdeführers ein, der dem Oberlandesgericht am 10. Februar 2011 eine Erwiderung vorlegte.

14. Bei einer telefonischen Anfrage beim Oberlandesgericht am 10. Februar 2011 erfuhr der Verteidiger des Beschwerdeführers, dass das Gericht bereits am 3. Februar 2011 über die Beschwerde des Beschwerdeführers vom 5. Januar 2011 entschieden und diese verworfen hatte. Der Beschwerdeführer hatte sich somit vor der Entscheidung des Gerichts nicht zu der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 28. Januar 2011 äußern können.

15. Am selben Tag stellte der Verteidiger des Beschwerdeführers einen Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs nach § 33a Strafprozessordnung (StPO).

16. Am 14. Februar 2011 wurde dem Beschwerdeführer die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 3. Februar 2011 zugestellt.

17. An einem nicht näher bekannten Datum legte die Generalstaatsanwaltschaft eine schriftliche Stellungnahme zu dem Antrag des Beschwerdeführers auf Nachholung des rechtlichen Gehörs vor.

18. Am 25. Februar 2011 verwarf das Oberlandesgericht den Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs als unzulässig und stellte fest, dass der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nicht verletzt worden sei, dass die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 28. Januar 2011 keine ihm nicht bekannten Tatsachen enthalten habe und dass sie ihm daher nicht habe zugestellt werden müssen. Soweit seine Eingabe vom 10. Februar 2011 als Gegenvorstellung zu werten sei, verwarf das Gericht diese mit der Begründung, dass es in seiner Entscheidung vom 3. Februar 2011 nicht von unzutreffenden tatsächlichen oder prozessualen Voraussetzungen ausgegangen sei. Vor der Entscheidung vom 25. Februar 2011 war die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft zu dem Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs dem Beschwerdeführer nicht zugestellt worden, so dass dieser keine Gelegenheit hatte, sich dazu zu äußern. Das Oberlandesgericht zitierte diese Stellungnahme aber dennoch in seiner Entscheidung und schloss sich ihr an.

19. Am 7. April 2011 erhob der Beschwerdeführer Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er machte insbesondere geltend, dass sein durch Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz garantierter Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei, weil das Oberlandesgericht seine Entscheidungen vom 3. und 25. Februar 2011 erlassen habe, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich zu der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft zu äußern.

20. Am 28. Juli 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 805/11). Die Entscheidung wurde ihm am 10. August 2011 zugestellt.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

21. Nach dem innerstaatlichen Recht bleibt eine Person nach ihrer Verurteilung bis zur Rechtskraft der Verteilung in Untersuchungshaft statt in Strafhaft genommen zu werden, was auch in der Rechtsmittelinstanz gilt. Nach § 117 Abs. 1 StPO können Beschuldigte in Untersuchungshaft jederzeit die Prüfung ihrer Haft oder die Aussetzung des Vollzugs beantragen (Haftprüfung). Sie können nach § 304 StPO Beschwerde gegen die Entscheidung über die Fortdauer der Haft einlegen (Haftbeschwerde), und zwar bei dem Gericht, das die Entscheidung erlassen hat. Wenn das Gericht der Beschwerde nicht abhilft, legt es sie einem höherinstanzlichen Gericht vor. Die Entscheidung dieses Gerichts kann nach § 310 Abs. 1 StPO durch weitere Beschwerde angefochten werden.

22. Nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte ist ausschließlich die zeitlich letzte Haftentscheidung anfechtbar (siehe u. v. a. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 332/05, Beschluss vom 12. Mai 2005, Rdnr. 14, und OLG D., MDR 1969, 779).

23. § 33a StPO, der die Nachholung des rechtlichen Gehörs regelt, sieht Folgendes vor:

„Hat das Gericht in einem Beschluss den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt und steht ihm gegen den Beschluss keine Beschwerde und kein anderer Rechtsbehelf zu, versetzt es, sofern der Beteiligte dadurch noch beschwert ist, von Amts wegen oder auf Antrag insoweit das Verfahren durch Beschluss in die Lage zurück, die vor dem Erlass der Entscheidung bestand. § 47 gilt entsprechend.“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 4 DER KONVENTION

24. Der Beschwerdeführer machte unter Berufung auf Artikel 5 Abs. 4 der Konvention eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit geltend, weil das Oberlandesgericht am 3. bzw. 25. Februar 2011 über die Fortdauer seiner Freiheitsentziehung und über seinen Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs entschieden habe, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich zu der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft zu äußern. Artikel 5 Abs. 4 der Konvention lautet:

„(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“

25. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

26. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

(a) Der Beschwerdeführer

27. Der Beschwerdeführer trug vor, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müsse ein Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention kontradiktorisch sein und stets die Waffengleichheit zwischen den Verfahrensbeteiligten wahren. Unter Berufung auf die Rechtssache Lanz ./. Österreich (Individualbeschwerde Nr. 24430/94, Rdnrn. 40-42, 31. Januar 2002) führte er aus, dass der Staatsanwaltschaft und dem Gefangenen stets Gelegenheit gegeben werden müsse, Stellungnahmen der Gegenseite zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern, auch in der Rechtsmittelinstanz. Werde eine Stellungnahme der Gegenseite nicht zur Kenntnis gebracht, sei das Verfahren nicht wirklich kontradiktorisch. Insoweit sei unerheblich, dass die Stellungnahme nach Meinung der betreffenden Gerichte keine neuen Tatsachen oder Argumente enthalten habe, und es komme auch nicht darauf an, ob sie sich tatsächlich auf die Entscheidung des Gerichts ausgewirkt habe. Es obliege den Verfahrensbeteiligten zu entscheiden, ob sie sich zu dem Vortrag der Gegenseite äußern oder nicht. Deshalb sei in dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht, das zu der Entscheidung vom 3. Februar 2011 führte, der nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention gebotene Grundsatz der Waffengleichheit verletzt worden.

28. Der Beschwerdeführer hob hervor, nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte sei ausschließlich die zeitlich letzte Haftentscheidung anfechtbar. Daher sei unerheblich, dass die Rechtmäßigkeit seiner Haft bereits mehrfach überprüft worden sei, bevor das Oberlandesgericht die in Rede stehende Entscheidung erlassen habe. Die verstrichene Zeit sei ein maßgeblicher Faktor bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit seiner Haft. Ferner wies er darauf, hin, dass über die Rechtmäßigkeit seiner Haft erstmals vor dem Oberlandesgericht und nicht vor dem Amtsgericht oder Landgericht entschieden worden sei und die Generalstaatsanwaltschaft erstmals an dem Verfahren beteiligt gewesen sei. Deshalb habe dem Beschwerdeführer deren Standpunkt zu seiner Haft nicht bekannt sein können. Darüber hinaus habe er sich in seiner weiteren Beschwerde vom 5. Januar 2011 erstmals ausdrücklich auf Artikel 5 Abs. 4 der Konvention berufen und um Übersendung der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft gebeten, um sich dazu äußern zu können.

29. Er trug vor, dass die verschiedenen Garantien des Artikels 5 Abs. 4 der Konvention gewahrt werden müssten, insbesondere dass über die Rechtmäßigkeit der Haft „innerhalb kurzer Frist“ zu entscheiden sei und dass das entsprechende Verfahren kontradiktorisch ausgestaltet sein müsse. In Anbetracht der Gesamtdauer des Verfahrens zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Haft wäre es hinsichtlich des Erfordernisses der kurzen Frist unproblematisch gewesen, ihm einige Tage zur Erwiderung auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft einzuräumen. Das Oberlandesgericht hätte ihn zumindest vom Vorliegen einer Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in Kenntnis setzen und damit seinem Verteidiger ermöglichen können, eine Abschrift zu erlangen und sich innerhalb kurzer Frist dazu zu äußern.

30. Der Beschwerdeführer trug vor, dass Artikel 5 Abs. 4 der Konvention auch in dem Verfahren betreffend seinen Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs verletzt worden sei, denn in diesem Verfahren habe das Oberlandesgericht am 25. Februar 2011 entschieden, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, sich zu der schriftlichen Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft zu äußern. Er machte geltend, dass die Stellungnahme relevant gewesen sei, wie durch die Tatsache belegt werde, dass das Oberlandesgericht ihren Inhalt in seiner eigenen Entscheidung übernommen habe; dieser habe sich dort auf über eine Seite erstreckt und den Anspruch auf rechtliches Gehör betroffen, der bislang nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen sei.

(b) Die Regierung

31. Die Regierung trug vor, der Gerichtshof habe in der Rechtssache Lanz (a. a. O., Rdnr. 41) ausgeführt, dass „grundsätzlich“ auch in Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention die Grundanforderungen an ein faires Verfahren, etwa das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, in einem unter den Umständen eines laufenden Ermittlungsverfahrens „größtmöglichen Maß“ erfüllt sein sollten. Es sei dabei nicht immer notwendig, dass das Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention mit den gleichen Garantien verbunden sei, wie sie nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention für strafrechtliche oder zivilrechtliche Verfahren gelten würden. Unter Hinweis darauf, dass in dem in Rede stehenden Verfahren die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers vor dem Erlass der Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 3. Februar 2011 bereits elf Mal durch die innerstaatlichen Gerichte, einschließlich des Amtsgerichts und des Landgerichts, überprüft worden war, führte die Regierung aus, dass bereits alle wesentlichen Argumente ausgetauscht gewesen seien, als das Oberlandesgericht mit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft befasst worden sei. Der Beschwerdeführer, der das Überprüfungsverfahren selbst angestoßen habe, habe umfassend Gelegenheit gehabt, sich zu der Frage zu äußern, weshalb seine Haft unrechtmäßig sei. Seit November 2010 habe er von dieser Gelegenheit kaum Gebrauch gemacht und sich im Wesentlichen auf sein früheres Vorbringen berufen. Die Haltung der Staatsanwaltschaft zur Fortdauer seiner Haft sei ihm bekannt gewesen. Die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 28. Januar 2011 habe keine neuen Tatsachen oder Argumente enthalten, die ihm nicht bekannt gewesen seien. Der Grundsatz der Waffengleichheit sei nicht verletzt worden. Es sei bezeichnend, dass der Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 10. Februar 2011 keine tatsächlichen oder rechtlichen Argumente enthalten habe, die er nicht bereits in seiner Beschwerdeschrift an das Oberlandesgericht vom 5. Januar 2011 hätte anführen können.

32. Der vorliegende Fall unterscheide sich daher deutlich von den Rechtssachen Lanz (a. a. O.), Migón ./. Polen (Individualbeschwerde Nr. 24244/94, 25. Juni 2002) und Fodale ./. Italien (Individualbeschwerde Nr. 70148/01, ECHR 2006-VII), in denen jeweils eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention festgestellt worden sei, weil im Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft die Erfordernisse des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit nicht erfüllt gewesen seien, da die inhaftierte Person oder ihre Verteidigung nicht oder nicht rechtzeitig Kenntnis von einer Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft erhalten hätte und sich nicht dazu habe äußern können. In der Rechtssache Lanz (a. a. O.) sei es um die erstmalige Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers durch das Beschwerdegericht gegangen, und es sei sowohl von dem Beschwerdeführer als auch von der Staatsanwaltschaft, die die Anerkennung eines weiteren Haftgrundes begehrt habe, Beschwerde eingelegt worden. In der Rechtssache Migón (a. a. O.) sei weder dem Beschwerdeführer noch seiner Verteidigung gestattet worden, an gerichtlichen Anhörungen betreffend die Fortdauer seiner Untersuchungshaft und die Überprüfung der Rechtmäßigkeit seiner Haft teilzunehmen; die Staatsanwaltschaft hingegen habe teilnehmen und zugunsten einer Verlängerung der Haftanordnung vortragen können, während weder der Beschwerdeführer noch seine Verteidigung die Gelegenheit gehabt hätten, von diesem Vortrag Kenntnis zu erlangen, Einwände dagegen zu erheben oder sich dazu zu äußern. In der Rechtssache Fodale (a. a. O.) sei der Beschwerdeführer, der sich zu jenem Zeitpunkt nicht in Haft befunden habe, nicht zu einer Anhörung vor dem Kassationsgericht geladen worden, die auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft anberaumt worden sei und die Frage betroffen habe, ob seine Freilassung aus der Haft rechtskräftig werden oder die Entscheidung über seine Entlassung aufgehoben werden würde. Der Beschwerdeführer habe daher keine Möglichkeit gehabt, in Erwiderung auf die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Schriftsätze einzureichen oder seine Argumente bei der Anhörung mündlich vorzutragen.

33. Die Regierung wies ferner darauf hin, dass es das Ziel von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention sei, durch eine beschleunigte Prüfung der Rechtmäßigkeit der Haft Schutz vor willkürlichen Freiheitsentziehungen zu bieten. Das Oberlandesgericht habe dieses Ziel, das dem Verfahrensansatz bei Verfahren, die unter Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fallen, entgegenstehe – wonach jegliche Stellungnahme der jeweils anderen Partei zur Stellungnahme übersandt werde, was den Abschluss des Verfahrens zeitlich hinausschiebe – bei seiner Entscheidung vom 3. Februar 2011 über die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers gebührend berücksichtigt. Die Entscheidung sei vier Werktage, nachdem die Generalstaatsanwaltschaft ihre Stellungnahme direkt an den Verteidiger des Beschwerdeführers versandt habe, ergangen. In Anbetracht dessen, dass sie keine neuen Argumente enthalten habe und sich der Beschwerdeführer bereits mehrfach darauf beschränkt hatte, auf früheres Vorbringen zu verweisen, habe das Oberlandesgericht davon ausgehen dürfen, dass dem Beschwerdeführer die Stellungnahme zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits bekannt gewesen sei und er sich dafür entschieden habe, nicht darauf zu reagieren.

34. Im Hinblick auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Nachholung des rechtlichen Gehörs wies die Regierung darauf hin, dass sein Schriftsatz vom 10. Februar 2011 keine tatsächlichen oder rechtlichen Argumente enthalten habe, die er nicht bereits in seiner Beschwerdeschrift an das Oberlandesgericht vom 5. Januar 2011 hätte anführen können, und dass sich das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung vom 3. Februar 2011 nicht auf ihm unbekannte Tatsachen gestützt habe. Seine Entscheidung vom 25. Februar 2011, mit der sein Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs verworfen wurde, habe daher seine Rechte aus Artikel 5 Abs. 4 der Konvention nicht verletzt.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

35. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Verfahren bezüglich der Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers, das zu der Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 3. Februar 2011 führte, am 8. Dezember 2010 begann (siehe Rdnrn. 9 bis 11), also nach dem Urteil des Amtsgerichts vom 6. Dezember 2011, mit dem er verurteilt wurde (siehe Rdnr. 8). Folglich waren Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c und Artikel 5 Abs. 3 der Konvention auf die Haft des Beschwerdeführers nicht mehr anwendbar (W. ./. Deutschland, 27. Juni 1968, Rdnr. 9, Serie A Nr. 7). Die durch die innerstaatlichen Gerichte vorgenommene Einschätzung, ob bei dem Beschwerdeführer Fluchtgefahr bestand, die die Fortdauer seiner Haft rechtfertigte (siehe Rdnr. 10), war daher der Tatsache geschuldet, dass das anwendbare innerstaatliche Recht vorsah, dass eine Person nach ihrer Verurteilung bis zur Rechtskraft der Verurteilung in Untersuchungshaft bleibt statt in Strafhaft genommen zu werden, was auch in der Rechtsmittelinstanz galt (siehe Rdnr. 21). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshof wäre eine solche Einschätzung der Fluchtgefahr nicht erforderlich gewesen, da die Haft des Beschwerdeführers trotz des anhängigen Rechtsmittelverfahrens unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention fiel (Belevitskiy ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 72967/01, Rdnr. 99, 1. März 2007). Es deutet nichts darauf hin, dass die Haft des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention an sich willkürlich war.

36. Der Gerichtshof erinnert daran, dass Personen, die von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen sind, Anspruch darauf haben, ein Verfahren zur gerichtlichen Prüfung der verfahrens- und materiellrechtlichen Voraussetzungen anzustrengen, die für die „Rechtmäßigkeit“ ihrer Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention wesentlich sind (siehe Idalov ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 5826/03, Rdnr. 161, 22. Mai 2012). Artikel 5 Abs. 4 der Konvention kommt normalerweise nicht zum Tragen, wenn es um Haft geht, die unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention fällt, es sei denn, die Gründe, die die Freiheitsentziehung der betroffenen Person rechtfertigen, können sich mit der Zeit verändern (siehe Kafkaris ./. Zypern (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 9644/09, Rdnr. 58, 21. Juni 2011) oder es ergeben sich neue Fragen, die die Rechtmäßigkeit der Haft berühren (siehe Gavril Yosifov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 74012/01, Rdnr. 57, 6. November 2008). In der vorliegenden Rechtssache ist Artikel 5 Abs. 4 der Konvention anwendbar, weil das innerstaatlichen Recht vorsah, dass eine Person bis zur Rechtskraft ihrer Verurteilung in Untersuchungshaft bleibt, die Rechtsmittelinstanz eingeschlossen, und es allen Untersuchungsgefangenen die gleichen Verfahrensrechte gewährte (siehe Rdnr. 21). Gehen die in den Vertragsstaaten vorgesehenen Verfahren über die Erfordernisse des Artikels 5 Abs. 4 der Konvention hinaus, sind die in dieser Bestimmung vorgesehenen Garantien in diesen Verfahren dennoch zu beachten. Der Gerichtshof stellt fest, dass vor der Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 3. Februar 2011 die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers ab dem 27. August 2010 bereits elf Mal durch die innerstaatlichen Gerichten geprüft worden war. Die Häufigkeit der Überprüfungen waren, was die Maßstäbe der Konvention angeht, mehr als hinreichend.

37. Auch wenn es nicht immer erforderlich ist, dass das Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention mit den gleichen Garantien verbunden ist wie sie für strafrechtliche oder zivilrechtliche Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gelten, so muss es dennoch einen gerichtlichen Charakter haben und die Garantien gewährleisten, die der Art der in Rede stehenden Freiheitsentziehung entsprechen (ebda.). Das Verfahren muss kontradiktorisch sein und stets „Waffengleichheit“ zwischen den Verfahrensbeteiligten, d. h. der Staatsanwaltschaft und der Person, der die Freiheit entzogen ist, gewährleisten (siehe Lanz, a. a. O., Rdnr. 44, und Graužinis ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 37975/97, Rdnr. 31, 10. Oktober 2000). Ein Beteiligter muss von der Stellungnahme eines anderen Beteiligen Kenntnis erhalten und eine wirkliche Gelegenheit bekommen, sich dazu zu äußern (siehe Lanz, a. a. O., Rdnr. 41). Schließlich erinnert der Gerichtshof daran, dass Artikel 5 Abs. 4 die Vertragsstaaten zwar nicht zwingt, eine zweite Instanz für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft zu schaffen, ein Staat, der ein solches System einrichtet, den Gefangenen in der Rechtsmittelinstanz jedoch grundsätzlich die gleichen Garantien einräumen muss wie in der ersten Instanz (ebda., Rdnr. 42).

38. Es ist unbestritten, dass das Oberlandesgericht am 3. bzw. 25. Februar 2011 über die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers und über seinen Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs entschied, ohne ihn von der schriftlichen Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in Kenntnis zu setzen und ihm Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern.

39. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte ausschließlich die zeitlich letzte Haftentscheidung anfechtbar war (siehe Rdnr. 22) und dass es sich bei dem in Rede stehenden Verfahren um das erste Verfahren bezüglich der Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers vor dem Oberlandesgericht handelte. Auch war die Generalstaatsanwaltschaft erstmals an dem Verfahren beteiligt. Dies stellte eine neue Sachlage gegenüber den vorangegangenen Haftprüfungen durch das Amtsgericht oder das Landgericht dar. Der Beschwerdeführer konnte die Standpunkte der Generalstaatsanwaltschaft und des Oberlandesgerichts zu seiner Haft nicht kennen. Insoweit darf nicht unbeachtet bleiben, dass der Beschwerdeführer in seinem Schriftsatz vom 5. Januar 2011 ausdrücklich um Übermittlung der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft gebeten hatte, um sich dazu äußern zu können.

40. Unter erneutem Hinweis darauf, dass einem Gefangenen im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich die gleichen Garantien gewährt werden müssen wie in der ersten Instanz (siehe Lanz, a. a. O., Rdnr. 42) kann das Erfordernis, dass ein Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention wirklich kontradiktorisch sein und stets die „Waffengleichheit“ zwischen den Verfahrensbeteiligten wahren muss, nach Auffassung des Gerichtshofs nicht in Abhängigkeit davon geändert werden, wer das Überprüfungsverfahren anstrengt. Es trifft zu, dass ein Gefangener, der ein Überprüfungsverfahren angestrengt oder Beschwerde eingelegt hat, in diesem Stadium Gelegenheit zu einem Sachvortrag hat, wohingegen er diese Gelegenheit nicht hat, wenn das Verfahren von der Staatsanwaltschaft angestrengt oder die Beschwerde von ihr eingelegt wurde oder wenn es sich um eine regelmäßige Überprüfung handelt. Damit das Überprüfungsverfahren aber „wirklich kontradiktorisch“ ist und die Waffengleichheit gewährleistet ist, muss ein Beteiligter stets von der Stellungnahme eines anderen Beteiligen Kenntnis erhalten und eine wirkliche Gelegenheit bekommen, sich dazu zu äußern (ebda., Rdnr. 41).

41. Was den Vortrag der Regierung angeht, die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 28. Januar 2011 habe keine neuen Tatsachen oder Argumente enthalten, die dem Beschwerdeführer nicht bekannt gewesen wären, so ist es nach Auffassung des Gerichtshofs weder die Aufgabe des für das Verfahren zuständigen innerstaatlichen Gerichts noch dieses Gerichtshofs, den Inhalt von Vorbringen der Verfahrensbeteiligten zu prüfen und den Austausch von Stellungnahmen vom Ergebnis dieser Prüfung anhängig zu machen. Vielmehr ist es Sache des Gefangenen oder seiner Verteidigung zu beurteilen, ob ein Vorbringen der Staatsanwaltschaft eine Reaktion veranlasst (ebda., Rdnr. 44). Nur so kann mit der gebotenen Rechtssicherheit sichergestellt werden, dass das Verfahren wirklich kontradiktorisch ist und die Waffengleichheit gewährleistet ist.

42. Es stimmt zwar, dass das Oberlandesgericht, wie von der Regierung vorgetragen, verpflichtet war, innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers zu entscheiden, der Gerichtshof betont aber, dass alle Garantien des Artikels 5 Abs. 4 der Konvention zu beachten sind, und er vertritt die Ansicht, dass die Verpflichtung, innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit zu entscheiden, es nicht rechtfertigen kann, eine Entscheidung zu treffen, ohne dass dem Beschwerdeführer das Vorliegen einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft bekannt ist, geschweige denn, ohne dass er Gelegenheit hatte, sich dazu zu äußern. Dem Verteidiger des Beschwerdeführers ging die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 28. Januar 2011 erst am 3. Februar 2011 zu (siehe Rdnrn. 12 bis 13), also an dem Tag, an dem das Oberlandesgericht über die Beschwerde des Beschwerdeführers vom 5. Januar 2011 entschied. Um die Einhaltung sowohl des Erfordernisses der kurzen Frist als auch des Grundsatzes der Waffengleichheit zu gewährleisten, hätte das Oberlandesgericht den Beschwerdeführer oder seinen Verteidiger zumindest von der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in Kenntnis setzen können, sobald ihm diese vorlag, und ihm ausreichend Zeit geben können, um sich zu dieser Stellungnahme zu äußern.

43. Der Gerichtshof nimmt die Sorgfalt zur Kenntnis, mit der das Amtsgericht und das Landgericht vorgegangen sind, wenn man das Verfahren insgesamt betrachtet, insbesondere indem sie die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführer elf Mal innerhalb kurzer Zeit prüften. Er stellt ferner fest, dass die Haft des Beschwerdeführers unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention fiel und es keine Hinweise dafür gab, dass sie an sich willkürlich war. Dennoch kann der Gerichtshof nicht über den Ausgang des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht spekulieren und er vertritt die Auffassung, dass selbst unter Umständen, wie sie in der vorliegenden Rechtssache gegeben sind, der durch Artikel 5 Abs. 4 der Konvention garantierte Grundsatz der Waffengleichheit es verlangt, dass ein Beteiligter von der Stellungnahme eines anderen Beteiligen Kenntnis erhält und eine wirkliche Gelegenheit bekommt, sich dazu zu äußern.

44. Die vorstehenden Ausführungen sind ausreichend, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass das Verfahren vor dem Oberlandesgericht, das erstmals über die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers zu entscheiden hatte, nicht wirklich kontradiktorisch war und der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt wurde. Der Beschwerdeführer hatte keine Gelegenheit, sich zu der schriftliche Stellungnahme der in dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht neu beteiligten Generalstaatsanwaltschaft zu äußern, bevor dieses Gericht am 3. Februar 2011 über die Rechtmäßigkeit seiner Haft und am 25. Februar 2011 über seinen Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs entschied. Was die letztgenannte Entscheidung angeht, erinnert der Gerichtshof daran, dass das Oberlandesgericht den Inhalt der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in seiner Entscheidung wiedergab und bestätigte, was darauf hindeutet, dass die Stellungnahme nicht unerheblich war.

45. Dementsprechend ist Artikel 5 Abs. 4 der Konvention verletzt worden.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

46. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

47. Der Beschwerdeführer forderte 15.000 Euro in Bezug auf den immateriellen Schaden. Er machte geltend, dass ihm infolge der Konventionsverstöße Schmerzen und Leid entstanden seien, nicht zuletzt deshalb, weil er als Drogenabhängiger in der Haft zu einem „kalten Entzug“ gezwungen worden sei.

48. Die Regierung trug vor, es sei spekulativ, ob der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen worden wäre, wenn die Verfahrensgarantien aus Artikel 5 Abs. 4 der Konvention in seinem Fall beachtet worden wären. Daher würde der geltend gemachte immaterielle Schaden durch die Feststellung eines Verstoßes gegen diese Bestimmung angemessen kompensiert. In jedem Fall sei die Forderung des Beschwerdeführers in Bezug auf den behaupteten immateriellen Schaden überzogen, und sein Leiden im Zusammenhang mit dem „kalten Entzug“ in der Haft sei nicht unmittelbar durch den in Rede stehenden Verstoß verursacht worden.

49. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache die Feststellung eines Verstoßes bereits eine hinreichende gerechte Entschädigung darstellt.

B. Kosten und Auslagen

50. Der Beschwerdeführer machte ferner 8.925 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) für die in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten und Auslagen sowie 8.925 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen in dem Verfahren vor dem Gerichtshof geltend. Er legte Kopien der in Bezug auf dieses Verfahren getroffenen Honorarvereinbarungen zwischen ihm und seinem Rechtsanwalt vor.

51. Die Regierung bestritt, dass die Kosten und Auslagen tatsächlich entstanden sind. Die Kopien der Honorarvereinbarungen seien zwar vom Beschwerdeführer, aber nicht von seinem Rechtsanwalt unterschrieben, und sie enthielten keine Angaben zu Ort und Datum der Unterschrift. In jedem Fall sei die Forderung des Beschwerdeführers überzogen, da die Gesamtsumme um ein Vielfaches höher als die gesetzliche Vergütung sei.

52. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien sowie der Tatsache, dass der Beschwerdeführer für das Konventionsverfahren Prozesskostenhilfe erhalten hatte, für angebracht, 4.000 Euro zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.

C. Verzugszinsen

53. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:

1. Er erklärt die Individualbeschwerde einstimmig für zulässig;

2. er erkennt mit vier zu drei Stimmen, dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 4 der Konvention vorliegt;

3. er erkennt mit vier zu drei Stimmen, dass die Feststellung eines Verstoßes bereits eine hinreichende gerechte Entschädigung für den vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden darstellt;

4. er erkennt mit vier zu drei Stimmen,

a) dass der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, 4.000 EUR (viertausend Euro), zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuer, als Entschädigung für die Kosten und Auslagen zu zahlen hat;

b) dass nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 7. September 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                         Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                          Präsident

________________

Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil das Sondervotum der Richterin Nußberger und der Richter Møse and Hüseynov beigefügt.

E. M.
M. B.

GEMEINSAME TEILWEISE ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTERIN NUSSBERGER UND DER RICHTER MØSE UND HÜSEYNOV

Wir haben gegen die Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 5 Abs. 4 der Konvention gestimmt. Unserer Ansicht nach hat die Mehrheit ihre Argumentation auf eine formalistische Auslegung der Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt und die konkreten Umstände des vorliegenden Falls nicht hinreichend berücksichtigt.

I. Formalistische kontra inhaltliche Auslegung von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention

Artikel 5 Abs. 4 der Konvention gewährt ein sehr wichtiges Recht, das Recht auf gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung. In der vorliegenden Rechtssache befanden das Amtsgericht und das Landgericht vor und nach dem erstinstanzlichen Urteil[1] zehn Mal innerhalb von vier Monaten über die Rechtmäßigkeit der den Beschwerdeführer betreffenden Haftentscheidung und erörterten umfassend alle wesentlichen Argumente. Wie die Mehrheit anerkannt hat, war die „Häufigkeit der Überprüfungen […], was die Maßstäbe der Konvention angeht, mehr als hinreichend“ (siehe Rdnr. 36 des Urteils). Dennoch hat die Mehrheit einen Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 4 festgestellt, weil die Erfordernisse des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit bei der elften und letzten Kontrolle vor dem Oberlandesgericht nicht erfüllt waren, obwohl der Beschwerdeführer in diesem Stadium keine neuen Argumente vorbrachte, sondern lediglich auf sein früheres Vorbringen verwies (siehe Rdnr. 11 des Urteils). Die Kritik richtete sich ausschließlich darauf, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts erging, bevor die Verteidigung die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis genommen hatte, und dass der Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs verworfen wurde, wiederum ohne dass dem Verteidiger die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft übermittelt worden war.

Unserer Ansicht nach gerät durch diese formalistische Auslegung der Inhalt dieser Garantie der Konvention aus dem Blick. Der Zweck des Artikels 5 Abs. 4 der Konvention ist, Willkür zu verhindern. Es geht nicht darum, die Einhaltung der Formvorschriften des Überprüfungsverfahrens zu überwachen, sondern die Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative bei der Anordnung einer Freiheitsentziehung sicherzustellen und eine gründliche gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Haftentscheidungen zu gewährleisten. Im vorliegenden Fall kann kein Zweifel bestehen, dass die gerichtliche Kontrolle gründlich war.

Wir erkennen an, dass es im vorliegen Fall einen Formfehler gab (siehe Punkt III (1)), geben jedoch zu bedenken, dass sich dieser Formfehler weder auf die Fairness (Punkt III (2)) noch die Wirksamkeit (Punkt III (3)) des Überprüfungsverfahrens, das als Ganzes betrachtet werden muss (Punkt III (4)), auswirkte. Bevor wir diese Frage erörtern, haben wir einige Anmerkungen zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs nach Artikel 5 Abs. 4 (siehe Punkt II).

II. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs

Es ist unstreitig, dass es zwar nicht immer erforderlich ist, dass das Verfahren nach Art. 5 Abs. 4 der Konvention mit den gleichen Garantien verbunden ist, wie sie für strafrechtliche oder zivilrechtliche Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gelten, es aber dennoch einen gerichtlichen Charakter haben und die Garantien gewährleisten muss, die der Art der in Rede stehenden Freiheitsentziehung entsprechen (siehe Rdnr. 36 und 37 des Urteils, unter Hinweis auf Idalov ./.Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 5826/03, Rdnr. 161, 22. Mai 2012, die die Abwesenheit des Beschwerdeführers bei Verhandlungen in der Rechtsmittelinstanz betraf). Was konkret das Erfordernis angeht, dass das „Verfahren kontradiktorisch sein und stets Waffengleichheit zwischen den Verfahrensbeteiligten gewährleisten muss“ verweist die Mehrheit auf die Rechtssachen Lanz ./. Österreich (Individualbeschwerde Nr. 24430/94, 31. Januar 2002), und Grauzinis ./. Litauen (Individualbeschwerde Nr. 37975/97, 10. Oktober 2000).

Im Fall Lanz führte die Kammer aus (Rdnr. 41), dass sich diese Anforderungen aus dem in Artikel 6 der Konvention verankerten Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren herleiten. Unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung führte sie aus, dass Artikel 6 „zum Teil auch auf Verfahren im Vorfeld des Hauptsacheverfahrens Anwendung“ findet. Angesichts der dramatischen Folgen einer Freiheitsentziehung für die Grundrechte des Betroffenen sollen grundsätzlich auch in Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention die Grundanforderungen an ein faires Verfahren, wie z. B. das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, in einem unter den Umständen eines laufenden Ermittlungsverfahrens größtmöglichen Maß erfüllt sein.

Neben dem Hinweis auf die flexible Formulierung „grundsätzlich“ ist hervorzuheben, dass es im Fall Lanz um Untersuchungshaft nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c der Konvention ging, während in der vorliegenden Rechtssache die Entscheidungen über die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers nach dessen Verurteilung ergingen und sie damit unter Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a fallen.

Im Fall Lanz stellte die Kammer ferner fest (Rdrn. 42), dass Artikel 5 Abs. 4 kein Beschwerderecht gegen Entscheidungen, mit denen eine Haft angeordnet oder verlängert wird, als solches vorsieht. Durch das Eingreifen eines Organs wird Artikel 5 Abs. 4 genüge getan, unter der Voraussetzung, dass das angewendete Verfahren einen gerichtlichen Charakter hat und der betroffenen Person die Garantien gewährleistet, die der Art der in Rede stehenden Freiheitsentziehung entsprechen. Dennoch muss ein Staat, der – wie im vorliegenden Fall – eine zweite Instanz für die Prüfung von Anträgen auf Haftentlassung schafft, den Gefangenen in der Rechtsmittelinstanz „grundsätzlich“ die gleichen Garantien einräumen wie in der ersten Instanz.

Erneut ist auf die flexible Formulierung „grundsätzlich“ hinzuweisen, nicht nur was den Umfang angeht, in dem die in Artikel 6 entwickelten Garantien nach Artikel 5 Abs. 4 anwendbar sind (siehe oben), sondern auch im Hinblick darauf, ob sie, wie im vorliegenden Fall, in Verfahren, die eine Freiheitsentziehung betreffen, vollumfänglich in der Rechtsmittelinstanz gelten.

Auch der Fall Grauzinis weicht von der vorliegenden Rechtssache ab. Er betraf Untersuchungshaft, wobei der Beschwerdeführer wiederholt nicht einem Richter vorgeführt worden war. Wenig überraschend stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 4 fest, weil der Beschwerdeführer bei Anhörungen zu seiner Untersuchungshaft, bei denen seine Anwesenheit erforderlich gewesen wäre, damit er seinem Verteidiger hinreichende Auskünfte und Anweisungen hätte erteilen können, nicht anwesend war. Ferner erachten wir es als wichtig, dass der Gerichtshof die Fairness des Verfahrens insgesamt beurteilte. Bevor er zu seinem Ergebnis gelangte, führte er Folgendes aus:

„Ferner wurde dem Beschwerdeführer in diesem Verfahren und in den nachfolgenden Verfahren insgesamt betrachtet keine wirksame Kontrolle der Rechtmäßigkeit seiner Haft, wie es nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention erforderlich ist, zuteil.“

III. Fairness und Wirksamkeit des Überprüfungsverfahrens im vorliegenden Fall

Wir erkennen an, dass es im vorliegen Fall einen Formfehler gab (1), geben jedoch zu bedenken, dass sich dieser Formfehler weder auf die Fairness (2) noch die Wirksamkeit (3) des Überprüfungsverfahrens, das als Ganzes betrachtet werden muss (4), auswirkte.

(1) Ausmaß der Verfahrensmängel

Es ist unbestritten, dass das Oberlandesgericht am 3. Februar 2011 über die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers entschied, ohne die Verteidigung von der schriftlichen Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft in Kenntnis zu setzen. Die Verteidigung hatte keine Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Dieser konkrete Teil des Verfahrens war daher nicht kontradiktorisch; Waffengleichheit war nicht gewährleistet. Dennoch stand der Verteidigung ein Rechtsmittel gegen diesen Verfahrensmangel zur Verfügung und sie konnte die Nachholung des rechtlichen Gehörs beantragen. Dieser Antrag wurde für unzulässig erklärt, da nach Feststellung des Gerichts die Stellungnahme der Verteidigung keine neuen Tatsachen enthalten habe und es in seiner Entscheidung nicht von unzutreffenden tatsächlichen oder prozessualen Voraussetzungen ausgegangen sei (siehe Rdnr. 18 des Urteils). Dies bedeutet, dass die innerstaatlichen Gerichte den Inhalt der Beschwerde analysiert haben, nämlich auf die Frage hin, ob der Formfehler negative Auswirkungen für den Beschwerdeführer hatte. Dieses zweite Verfahren war jedoch ebenfalls problematisch, weil die Stellungnahme der Anklage erneut nicht an die Verteidigung übermittelt wurde. Dem Beschwerdeführer stand ein weiteres Rechtsmittel zur Verfügung, da er sich mit seiner Beschwerde an das Verfassungsgericht wenden konnte (allerdings ohne Erfolg). Der Verfahrensmangel wurde somit inhaltlich überprüft, aber das Überprüfungsverfahren war teilweise ebenfalls kritikwürdig.

Nicht jeder Formfehler stellt jedoch eine Menschenrechtsverletzung dar.

(2) Fairness des Verfahrens

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs fällt der Kontrollmechanismus in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Haft an sich nicht unter Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, weil es dabei nicht um eine „Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage“ geht. Dennoch und zu Recht hat der Gerichtshof die Garantien eines fairen Verfahrens, insbesondere das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren und auf Waffengleichheit, auf Artikel 5 Abs. 4 der Konvention übertragen. In diesem Zusammenhang scheint nicht vollkommen klar zu sein, ob der kontradiktorische Charakter des Verfahrens und die Waffengleichheit als formale oder materielle Garantien zu verstehen sind.

Nach Auffassung der Mehrheit handelt sich um rein formale Garantien. Die Mehrheit stützt sich auf eine enge Auslegung der Rechtssache Lanz und betont die Rechtssicherheit, wobei sie ausführt, dass es “nach Auffassung des Gerichtshofs weder die Aufgabe des für das Verfahren zuständigen innerstaatlichen Gerichts noch dieses Gerichtshofs [ist], den Inhalt von Vorbringen der Verfahrensbeteiligten zu prüfen und den Austausch von Stellungnahmen vom Ergebnis dieser Prüfung anhängig zu machen” (siehe Rdnr. 41 des Urteils). Auch wenn wir dieser Aussage zustimmen, sind wir der Meinung, dass, wenn ein Formfehler vorliegt und ein Überprüfungsverfahren zu dessen Behebung gewährt wird, es akzeptabel ist, dass sich dieses Verfahren auf die materielle Frage konzentriert, ob ein wirklicher Nachteil gegeben ist. Dies entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der der Grundsatz der Waffengleichheit im Lichte dessen ausgelegt wird, was bei der Anfechtung einer Haftentscheidung wesentlich ist (siehe u. a. und sinngemäß M. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11364/03, Rdnr. 124, 9. Juli 2009).

Betrachtet man den materiellen Aspekt der Waffengleichheit, so kann nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer die Rechtmäßigkeit seiner Haft nicht wirksam anfechten konnte. Es ist zwischen den Parteien unstrittig, dass die entsprechende Stellungnahme der Staatsanwaltschaft keine neuen Informationen oder Argumente zu diesem Aspekt enthielt. In der Stellungnahme vom 28. Januar 2011 wurde lediglich die Verwerfung der Beschwerde beantragt (siehe Rdnr. 12 des Urteils). Die Stellungnahme zu dem Antrag auf Nachholung des rechtlichen Gehörs, die an einem nicht näher bekannten Datum vorgelegt wurde (siehe Rdnr. 17), betraf in keiner Weise die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers, sondern vielmehr die Frage, ob die Nachholung des rechtlichen Gehörs gewährt werden sollte.

Daher kann, auch wenn eine formale Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit vorlag, nicht argumentiert werden, dass eine materielle Verletzung dieser Garantie vorlag.

(3) Wirksamkeit der Kontrolle

Während der Kern der in Artikel 6 verankerten Garantie der Konvention die Fairness des Verfahrens ist, liegt Artikel 5 Abs. 4 der Gedanke zugrunde, Willkür zu verhindern und die Wirksamkeit des Verfahrens zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Haft zu gewährleisten.

In der vorliegenden Rechtssache steht außer Zweifel, dass alle Argumente des Beschwerdeführers inhaltlich geprüft wurden. Das Überprüfungsverfahren war wirksam und frei von Willkür.

(4) Analyse des Verfahrens insgesamt

Die Mehrheit scheint ihre Analyse lediglich auf das elfte Überprüfungsverfahren vor dem Oberlandesgericht zu konzentrieren (siehe Rdnr. 39 des Urteils) und nicht die Fairness und Wirksamkeit des Verfahrens insgesamt zu betrachten. Wir argumentieren, dass der in Artikel 6 der Konvention verankerte Grundsatz des fairen Verfahrens nicht auf Artikel 5 Abs. 4 übertragen werden kann, ohne auch die ganzheitliche Betrachtungsweise zu übernehmen, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Artikel 6 der Konvention entwickelt hat und wonach „die Einhaltung der Erfordernisse eines fairen Verfahrens in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Entwicklung des Verfahrens insgesamt und nicht auf der Grundlage einer isolierten Betrachtung eines einzigen Aspekts oder eines einzelnen Vorkommnisses geprüft werden muss…“ (siehe Ibrahim u. a. /. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nr. 50541/08 und 3 weitere, Rdnr. 250, ECHR 2016). Wie bereits erwähnt (Punkt II), ist dies im Fall Grauzinis im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 4 der Konvention erfolgt; in diesem Fall hat der Gerichtshof die ganzheitliche Betrachtungsweise übernommen.

Das Verfahren, an dem vier verschiedene Gerichte beteiligt waren, das sich über vier Instanzen erstreckte und eine umfassende Erörterung aller Argumente beinhaltete – und dies alles innerhalb von vier Monaten vor den ordentlichen Gerichten bzw. acht Monaten, wenn man das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit einbezieht – kann als Ganzes analysiert nicht als unfair oder unwirksam betrachtet werden.

In diesem Zusammenhang ist vielleicht erwähnenswert, dass die durch die deutsche Strafprozessordnung gewährten Garantien in zweierlei wichtiger Hinsicht über die Erfordernisse der Konvention hinausgingen.

Zunächst war der Beschwerdeführer bereits schuldig gesprochen worden und befand sich daher rechtmäßig im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchst. a der Konvention in Haft. Da die nach Artikel 5 Abs. 4 erforderliche Überprüfung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits in der Entscheidung des erkennenden Gerichts enthalten ist (siehe De Wilde, Ooms und Versyp ./ Belgien, 18. Juni 1971, Rdnr. 76, Serie A Nr. 12, und Wynne ./. Vereinigtes Königreich, 18. Juli 1994, Rdnr. 36, Serie A Nr. 294-A), verlangte die Konvention keine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers mehr. Hätten es die deutschen Gerichte nach dem Urteil vom 6. Dezember 2010, mit dem der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, abgelehnt, die Haftentscheidung zu überprüfen, hätte kein Konventionsverstoß vorgelegen. Die Mehrheit gibt keine Begründung dafür, weshalb sie es als notwendig erachtet, in dieser Hinsicht über die bestehende Rechtsprechung hinaus zu gehen (siehe Rdnr. 36 des Urteils).

Zweitens zwingt Artikel 5 Abs. 4 die Vertragsstaaten nicht, eine zweite Instanz für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Haft zu schaffen. Auch insoweit war der Kontrollmaßstab nach dem deutschen Recht höher als der Maßstab der Konvention.

Während nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Staat, der eine zweite Instanz für die Prüfung von Anträgen auf Haftentlassung schafft, dem Gefangenen grundsätzlich die gleichen Garantien einräumen muss wie in der ersten Instanz (siehe Lanz, a. a. O., Rdnr. 42), ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Rechtsprechung insoweit nicht rigide ist, sondern betont, dass die Garantien „grundsätzlich” gelten müssen (siehe Punkt II).

Uns erscheint es schwer vertretbar, zu argumentieren, dass die Garantien im vorliegenden Fall nicht „grundsätzlich” gegolten haben sollen.

IV. Schlussbemerkungen

Es handelt sich hier um keinen sehr schwerwiegenden Fall, wie die Tatsache zeigt, dass die Mehrheit sich nicht einmal für eine Entschädigung aussprach. Dennoch wirft er weiterreichende Probleme der Auslegung der Konvention auf. Erstens erscheint es fraglich, welche Botschaft vermittelt werden soll, wenn der Gerichtshof in Fällen Verstöße feststellt, in denen die menschenrechtlichen Gewährleistungen – als Ganzes betrachtet – die Erfordernisse der Konvention klar überschreiten. Zweitens sollte die Rechtssicherheit, die zwar sehr wichtig ist, nicht dahingehend missverstanden werden, dass dadurch materielle Garantien auf formale Garantien reduziert werden. Form- und Verfahrensvorschriften sind wichtig, aber beim Schutz der Menschenrechte stellen sie keinen Selbstzweck dar. Der Gerichtshof sollte stets nicht nur den äußeren Anschein betrachten, sondern sich auf den Inhalt konzentrieren. Drittens sind wir der Meinung, dass es sehr wichtig ist, die Konvention einheitlich auszulegen. Die Erfordernisse eines fairen Verfahrens nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention sollten nicht über das hinausgehen, was Artikel 6 der Konvention verlangt.

Aus allen diesen Gründen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass in der vorliegenden Rechtssache kein Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 4 der Konvention vorliegt, weil der Beschwerdeführer genügend Möglichkeiten hatte, die Rechtmäßigkeit seiner Haft überprüfen zu lassen.

___________

[1] Zwischen dem 30. August 2010 und dem 11. November 2010 wurde die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers acht Mal geprüft (siehe Rdnr. 7 des Urteils). Die neunte Entscheidung erging am 6. Dezember 2010, dem Tag, an dem das Urteil erlassen wurde (siehe Rdnr. 8). Die zehnte Entscheidung erging am 8. Dezember 2010 durch das Amtsgericht, das der Beschwerde nicht abhalf (siehe Rdnr. 10).

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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