RECHTSSACHE AXEL SPRINGER SE UND RTL TELEVISION GMBH ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 51405/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE A. UND R. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 51405/12)
URTEIL
STRASSBURG
21. September 2017

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache A. und R. gegen Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits und
Lәtif Hüseynov,
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 29. August 2017

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 51405/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei deutsche Unternehmen, A. und R. („die Beschwerdeführerinnen“) am 8. August 2012 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten.

2. Die Beschwerdeführerinnen wurden von Herrn M. und Herrn N., Rechtsanwälte in H., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung”) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Die Beschwerdeführerinnen brachten vor, dass eine richterliche Anordnung, mit der die Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder (Fotos und Videoaufnahmen) des Angeklagten verboten worden sei, zu einer Verletzung von Artikel 10 der Konvention geführt habe.

4. Am 4. März 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Bei der ersten Beschwerdeführerin, A., handelt es sich um einen in der Rechtsform einer Societas Europea geführten Verlag mit Sitz in B. Bei der zweiten Beschwerdeführerin, R., handelt es sich um ein als Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründetes Rundfunkunternehmen mit Sitz in K.

6. Am 14. Juni 2010 wurde der damals 28-jährige Angeklagte S. festgenommen. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, seine Eltern getötet, ihre Leichen zerstückelt und teils verbrannt oder die Toilette hinunter gespült und den Rest in Fässern verstaut zu haben. S. legte gegenüber der Polizei ein Geständnis ab. Mehrere deutsche Zeitungen berichteten über den Fall. Einige veröffentlichten Bilder von S., auf denen er meist in viel jüngerem Alter abgebildet war.

7. Die Staatsanwaltschaft gab ein psychiatrisches Sachverständigengutachten in Auftrag, das im Oktober 2010 einging. Der Sachverständige kam zu der Einschätzung, dass bei dem Angeklagten zum Zeitpunkt der Tatbegehung eine schizoide Persönlichkeitsstörung vorgelegen habe.

8. Am 11. Januar 2011 begann vor dem Landgericht P. die Hauptverhandlung gegen S. Bei den Verhandlungen waren für die Beschwerdeführerinnen tätige Fotografen anwesend, um Foto- und Filmaufnahmen des Angeklagten zu fertigen.

9. Vor Beginn der Verhandlung teilte der Vorsitzende den Fotoreportern mündlich mit, dass das Gesicht des Angeklagten „wie üblich“ unkenntlich gemacht werden müsse, bevor Bilder von ihm veröffentlicht würden.

10. Nach Aussage der Beschwerdeführerinnen hatte der Vorsitzende zu Beginn der Verhandlung am 11. Januar 2011 zu verstehen gegeben, dass jemand, der diese Anordnung nicht befolge, sich am Landgericht P. nicht mehr blicken zu lassen brauche, um bei künftigen Prozessen um eine Fotogenehmigung zu ersuchen. Die Beschwerdeführerinnen legten eine Kopie einer E-Mail eines bei der Verhandlung anwesenden Journalisten vor, welche die angebliche Aussage des Vorsitzenden bestätigte.

11. Die Regierung bestritt die Darstellung der Beschwerdeführerinnen, der Vorsitzende habe gedroht, er werde Journalisten nicht nur von Fotoaufnahmen während des Verfahrens gegen den Angeklagten, sondern auch von künftigen Verfahren vor dem Landgericht P. ausschließen. Die Regierung trug vor, dass eine solche Äußerung laut dem Vorsitzenden nicht getätigt worden sei.

12. Am ersten Tag der Verhandlung wiederholte S. sein Geständnis.

13. Mit Schreiben vom 12. Januar 2011 bat die zweite Beschwerdeführerin den Präsidenten des Landgerichts, die Anordnung des Vorsitzenden zu ändern. Sie wies u. a. darauf hin, dass in verschiedenen Zeitungen bereits nichtverpixelte Bilder von S. veröffentlicht worden seien. Mit Schreiben vom selben Tag antwortete der Präsident, er habe das Schreiben mangels eigener Zuständigkeit an den Vorsitzenden weitergeleitet.

14. Am 17. Januar 2011 ergänzte und begründete der Vorsitzende seine Anordnung schriftlich. Die Anordnung gestattete Foto- und Filmaufnahmen von S. nur den Medienvertretern, die sich vorher beim Gericht angemeldet und versichert hatten, dass das Gesicht von S. vor der Veröffentlichung oder Weitergabe der Aufnahmen durch ein technisches Verfahren, beispielsweise die Verpixelung, so unkenntlich gemacht werde, dass nur eine Verwendung der Bilder in einer solchen Form möglich bleibe. Die Anordnung sah vor, Journalisten, die sich nicht an die Anordnung hielten, von der weiteren Berichterstattung über das Verfahren auszuschließen.

15. In seiner Begründung gab der Vorsitzende an, er müsse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und die Persönlichkeitsrechte von S. gegeneinander abwägen. Er räumte ein, dass die in Rede stehende Straftat sich deutlich von der „gewöhnlichen Kriminalität“ abhebe und es eine Beeinträchtigung der Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit darstelle, wenn nur anonymisierte Aufnahmen von S. zugelassen seien. Er befand, dass die Anordnung in Anbetracht der Notwendigkeit, die Persönlichkeitsrechte von S. zu schützen, jedoch gerechtfertigt sei, und argumentierte, der Fall habe bundesweit eher wenig Aufsehen erregt. Außer der zweiten Beschwerdeführerin habe sich kein Fernsehsender mit deutschlandweiter Bedeutung an einer Berichterstattung interessiert gezeigt. Er hob die Bedeutung der Unschuldsvermutung hervor und befand, dass eine identifizierende Berichterstattung eine „Prangerwirkung“ habe könne. Daher überwiege das Persönlichkeitsrecht von S., der noch nie im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden oder den Kontakt mit den Medien gesucht habe und der ausdrücklich darum gebeten habe, seine Anonymität zu wahren, das Informationsinteresse der Allgemeinheit. Darüber hinaus habe sich die Anordnung bereits als notwendig erwiesen, weil nach dem ersten Sitzungstag vereinzelt gegen die Anweisungen des Richters verstoßen worden sei.

16. Am 18. Januar 2011 übersandte der Vorsitzende die ergänzte Anordnung einer Reihe von Journalisten, darunter einigen, die für die Beschwerdeführerinnen tätig waren.

17. Am 31. Januar erhoben die Beschwerdeführerinnen Gegenvorstellung und beantragten, die richterliche Anordnung, mit der die Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder untersagt wurde, „für die Dauer des Prozesses gegen (…) S.“ [1]auszusetzen. Die Beschwerdeführerinnen betonten, dass S. die Tat am ersten Verhandlungstag gestanden habe.

18. Am 4. Februar 2011 bestätigte der Vorsitzende die Anordnung. Er befand, dass die Bedeutung und die Glaubhaftigkeit des Geständnisses erst am Ende der Hauptverhandlung zu beurteilen seien.

19. Weitere Verhandlungen fanden am 20. und 27. Januar sowie am 8. Februar 2011 statt. Am 10. Februar 2011 verkündete das Landgericht sein Urteil und verhängte gegen den Angeklagten eine Freiheitsstrafe wegen Mordes in zwei Fällen.

20. Am 1. Februar 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerinnen zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 381/11).

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNER­STAATLICHE PRAXIS

A. Rechtsvorschriften

21. Das Gerichtsverfassungsgesetz enthält Regelungen zur Berichterstattung über Gerichtsverhandlungen und zur Befugnis der Richter, Anordnungen zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Verfahrensführung zu erlassen. Die einschlägigen Vorschriften lauten wie folgt:

§ 169

Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich. Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig.

§ 176

Die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung obliegt dem Vorsitzenden.

§ 177

Parteien, Beschuldigte, Zeugen, Sachverständige oder bei der Verhandlung nicht beteiligte Personen, die den zur Aufrechterhaltung der Ordnung getroffenen Anordnungen nicht Folge leisten, können aus dem Sitzungszimmer entfernt sowie zur Ordnungshaft abgeführt und wäh­rend einer zu bestimmenden Zeit, die 24 Stunden nicht übersteigen darf, festgehalten werden. Über Maßnahmen nach Satz 1 entscheidet gegenüber Personen, die bei der Verhandlung nicht beteiligt sind, der Vorsitzende, in den übrigen Fällen das Gericht.

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

22. In einem Beschluss vom 19. Dezember 2007 (1 BvR 620/07) über Videoaufnahmen in Strafverfahren stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Vorsitzende auf der Grundlage von § 176 GVG unter anderem die Anfertigung von Foto- und Videoaufnahmen Beschränkungen unterwerfen dürfe. Dabei müsse der Vorsitzende das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und den Persönlichkeitsschutz des Angeklagten unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls gegeneinander abwägen. Wesentliche Kriterien seien die Schwere der in Rede stehenden Straftat sowie besondere Umstände, die zu erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit führten. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass das öffentliche Interesse schwerer wiege, wenn die Straftat sich von der gewöhnlichen Kriminalität deutlich abhebe. Dies gelte auch dann, wenn der Angeklagte zuvor noch nie im Blickpunkt der Öffentlichkeit gestanden habe. Was die Persönlichkeitsrechte eines Angeklagten betreffe, sei zu berücksichtigen, dass Strafverfahren zu einer ungewohnten und belastenden Situation führten, die nicht vermieden werden könne, da die Anwesenheit verpflichtend sei. Insbesondere bei Angeklagten seien auch mögliche Prangerwirkungen oder Beeinträchtigungen der Unschuldsvermutung bzw. der späteren Resozialisierung zu berücksichtigen.

23. Das Bundesverfassungsgericht hat über mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden, die richterliche Anordnungen betrafen, mit denen die Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder eines Angeklagten bzw. die einen Angeklagten identifizierende Bildberichterstattung untersagt wurde. In den Entscheidungen wurde betont, dass die Unschuldsvermutung bedeute, dass bei der Bildberichterstattung über Strafverfahren im Allgemeinen Zurückhaltung, zumindest aber Ausgewogenheit, geboten sei. Die Art und Schwere der in Rede stehenden Straftat könne nicht nur ein gesteigertes Informationsinteresse der Öffentlichkeit, sondern auch ein erhöhtes Risiko der Stigmatisierung des Angeklagten begründen (Entscheidung vom 27. November 2008, 1 BvQ 46/08). Das Geständnis eines Angeklagten (Entscheidung vom 20. Dezember 2011, 1 BvR 3048/11) könne sich ebenso auf den Abwägungsprozess auswirken wie eine mögliche Schuldunfähigkeit aufgrund psychischer Probleme (Entscheidung vom 30. März 2012, 1 BvR 711/12). Des Weiteren befand das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 9. September 2016, dass eine Anordnung der Verpixelung mit dem öffentlichen Informationsinteresse weitgehend vereinbar gewesen sei (1 BvR 2022/16).

III. EMPFEHLUNG DES MINISTERKOMITEES DES EUROPARATS

24. Der Anhang zur Empfehlung Rec(2003)13 des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten über die Informationsverbreitung durch die Medien in Bezug auf Strafverfahren (angenommen vom Ministerkomitee am 10. Juli 2003 bei der 848. Sitzung der Ministerdelegierten) enthält folgende Grundsätze, die in dem vorliegenden Fall von besonderem Interesse sind:

„Grundsatz 8 – Schutz des Privatlebens bei laufenden Strafverfahren

Die Bereitstellung von Informationen über tatverdächtige, angeklagte oder verurteilte Personen und andere Parteien im Strafverfahren sollte das Recht auf Schutz des Privatlebens gemäß Arti­kel 8 der Konvention achten. Dabei sollte Minderjährigen und anderen verletzlichen Personen sowie den Opfern, den Zeugen und den Familien der tatverdächtigen, angeklagten oder ver­urteilten Personen besonderer Schutz zuteil werden. In jedem Fall sollte besonders berücksichtigt werden, dass die Verbreitung von Informationen, die eine Identifizierung ermöglichen, nachteilige Folgenden für die in diesem Grundsatz genannten Personen haben können.

Grundsatz 14 – Direktübertragungen und Aufzeichnungen in den Gerichtssälen

Direktübertragungen oder Aufzeichnungen der Medien in Gerichtssälen sollten nur möglich sein, wenn und soweit sie durch das Gesetz oder die zuständigen Gerichtsbehörden ausdrücklich erlaubt sind. Solche Übertragungen sollten nur genehmigt werden, wenn kein ernstliches Risiko einer unrechtmäßigen Einwirkung auf die Opfer, die Zeugen, die Parteien im Strafverfahren, die Geschworenen und die Richter besteht.“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION

25. Die Beschwerdeführerinnen rügten, dass die richterliche Anordnung, mit der die Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder von S. verboten worden sei, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt habe; Artikel 10 lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Mei­nungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]

2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann da­her Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […]“

A. Zulässigkeit

26. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführerinnen ihre Rüge der Sache nach vor den innerstaatlichen Gerichten geltend gemacht haben und die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Die Regierung

27. Die Regierung trug vor, dass die Anordnung des Vorsitzenden auf § 176 GVG gestützt gewesen sei. Der Vorsitzende sei verpflichtet gewesen, Maßnahmen zum Schutz eines geordneten Ablaufs der Sitzung anzuordnen, wozu auch die Beachtung der Persönlichkeitsrechte von S. und anderen beteiligten Parteien gehöre.

28. Artikel 10 der Konvention sei nicht verletzt worden, da der Vorsitzende die betroffenen Interessen fair gegeneinander abgewogen habe. Er habe das Informationsinteresse der Öffentlichkeit ausreichend berücksichtigt und habe den Belangen von S. in Anbetracht der Umstände des Falles Vorrang einräumen dürfen. Bei der Berichterstattung habe die Befriedigung der Sensationslust des Publikums an den grausamen Einzelheiten der Tat deutlich im Vordergrund gestanden. Die Beschränkung hinsichtlich der Veröffentlichung von Bildern von S. sei gerechtfertigt gewesen. S. sei der Öffentlichkeit zuvor völlig unbekannt gewesen. Er habe in erhöhtem Maß einen Schutz vor Berichterstattung verdient, da er, wie durch ein psychiatrisches Gutachten vom Oktober 2010 festgestellt worden sei, an einer psychischen Störung leide.

29. Die Regierung betonte, dass der Angeklagte auf den im Gerichtssaal aufgenommenen Aufnahmen in Handschellen, neben Polizeibeamten oder seinem Verteidiger, zu sehen gewesen sei. Eine Verbreitung derartiger Fotos in nichtanonymisierter Form hätte den auf ihm lastenden Druck erhöht. Unter Berücksichtigung der Bedeutung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung hätten seine Belange nicht deshalb geringer gewichtet werden dürfen, weil er am ersten Verhandlungstag ein Geständnis abgelegt habe.

b) Die Beschwerdeführerinnen

30. Die Beschwerdeführerinnen brachten vor, § 176 biete keine gesetzliche Grundlage für die gerichtliche Anordnung.

31. Nach Auffassung der Beschwerdeführerinnen verkannten die innerstaatlichen Gerichte die Bedeutung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit und wogen die in Rede stehenden Interesse nicht angemessen gegeneinander ab. Die äußerst ungewöhnlichen Umstände der in Rede stehenden Straftat habe ein enormes öffentliches Interesse hervorgerufen, das nicht auf bloße Neugier beschränkt gewesen sei, sondern sich auch auf Fragen wie die der Rolle der Eltern von S. in dem Familienkonflikt bezogen habe. Die innerstaatlichen Gerichte hätten ignoriert, dass S. der Öffentlichkeit durch die von ihm verübte Straftat bekannt geworden sei. Was die Unschuldsvermutung angehe, hätten die innerstaatlichen Gerichte nicht ausreichend beachtet, dass S. nicht nur am ersten Verhandlungstag, sondern bereits während der Ermittlungen ein Geständnis abgelegt habe. Hinsichtlich der Annahme des Vorsitzenden, S. habe eines besonderen Schutzes bedurft, sei zu beachten, dass der Vorsitzende dennoch keine prozessualen Schutzmaßnahmen, wie etwa eine Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ergriffen habe. Da das Gericht angeordnet habe, dass die Aufnahmen von S. durch ein technisches Verfahren anonymisiert werden müssten, sei das richterliche Verbot weit über die Anforderungen des Schutzes der Unschuldsvermutung hinausgegangen.

32. Die Beschwerdeführerinnen betonten, dass Artikel 10 der Konvention nicht nur den Inhalt der geäußerten Ideen oder Informationen schütze, sondern auch die Art und Weise ihrer Vermittlung.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

33. Der Gerichtshof stellt fest – und die Parteien stimmten dem zu –, dass die in dem vorliegenden Fall erlassene richterliche Anordnung einen Eingriff in das durch Artikel 10 der Konvention garantierte Recht der Beschwerdeführerinnen auf freie Meinungsäußerung darstellte.

34. Ein solcher Eingriff verletzt die Konvention, wenn er nicht die Erfordernisse aus Artikel 10 Abs. 2 erfüllt. Daher ist darüber zu entscheiden, ob der Eingriff „gesetzlich vorgesehen“ war, eines oder mehrere der in diesem Absatz genannten rechtmäßigen Ziele verfolgte und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, um das oder die genannten Ziele zu erreichen.

a) Gesetzlich vorgesehen

35. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass das einschlägige innerstaatliche Recht so präzise formuliert sein muss, dass die betroffenen Personen – erforderlichenfalls mit entsprechender Rechtsberatung – in einem Maß, das unter den jeweiligen Umständen angemessen ist, voraussehen können, welche Folgen eine bestimmte Handlung nach sich ziehen kann (siehe News Verlags GmbH & Co.KG ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 31457/96, Rdnr. 42, ECHR 2000‑I). Er hat jedoch anerkannt, dass Gesetze häufig in einer Weise gestaltet sind, die nicht absolut präzise ist (siehe Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 931/13, Rdnr. 143, 27. Juni 2017, und M. und B. ./. Deutschland, 20. November 1989, Rdnr. 30, Serie A Band 165).

36. Der Gerichtshof stellt fest, dass es dem Wortlaut von § 176 GVG in gewissem Maße an Genauigkeit mangelt, da es darin heißt: „Die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung obliegt dem Vorsitzenden.“, was einem Vorsitzenden einen breiten Ermessensspielraum eröffnet. Der Gerichtshof räumt ein, dass es im Lichte der verschiedenen Situationen, mit denen Vorsitzende in Verfahren konfrontiert sind, unmöglich ist, hinsichtlich der Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung in jedem Einzelfall erforderlich sind, präzise Anforderungen festzulegen. Darüber hinaus war die vorgenannte Vorschrift im Zusammenhang mit Einschränkungen der Bildberichterstattung in Strafverfahren Gegenstand von Auslegungen durch das Bundesverfassungsgericht, das für die Vorsitzenden Kriterien zur Interessenabwägung entwickelt hat (siehe Rdnrn. 22 bis 23). Die den nationalen Gerichten zukommende rechtsprechende Gewalt dient gerade dazu, solche verbleibenden Auslegungszweifel auszuräumen (Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy, a.a.O., Rdnr. 144).

37. Folglich ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass der Eingriff „gesetzlich vorgesehen“ war.

b) Legitimes Ziel

38. Es ist unstreitig, dass die richterliche Anordnung dazu diente, die Persönlichkeitsrechte von S. im Zusammenhang mit dem Verfahren, in dem er bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hatte, zu schützen. Der Gerichtshof stellt fest, dass die richterliche Anordnung daher das rechtmäßige Ziel verfolgte, „die Rechte anderer zu schützen“.

c) Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft

i. Allgemeine Grundsätze

39. Der Gerichtshof verweist auf auf die in seiner Rechtsprechung niedergelegten allgemeinen Grundsätze zur Beurteilung der Notwendigkeit eines Eingriffs in die freie Meinungsäußerung, die in den Rechtssachen Bédat ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 56925/08, Rdnrn. 48 bis 54, ECHR 2016, und Couderc und Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnrn. 88 bis 93, 10. November 2015, unlängst zusammengefasst worden sind. Der Gerichtshof hat betont, dass die Presse in einer demokratischen Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielt und insbesondere betont, dass sie die Pflicht hat, Informationen und Ideen zu allen Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zu verbreiten. Diese Aufgabe erstreckt sich auf die Berichterstattung über und die Stellungnahme zu Gerichtsverfahren, die zu deren Öffentlichkeit beitragen und somit mit der in Artikel 6 Absatz 1 der Konvention niedergelegten Anforderung, dass Verhandlungen öffentlich sein müssen, in Einklang stehen. Über den Gegenstand gerichtlicher Hauptverhandlungen nicht vorab oder zeitgleich diskutieren zu dürfen, ob in Fachzeitschriften, der allgemeinen Presse oder der breiten Öffentlichkeit, ist undenkbar. Zur Aufgabe der Medien, solche Informationen und Ideen zu verbreiten, kommt das Recht der Öffentlichkeit hinzu, sie zu empfangen (S. AG ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 80, 7. Februar 2012). Es ist ferner nicht Aufgabe des Gerichtshofs oder im Übrigen der innerstaatlichen Gerichte, bei der Wahl der Berichterstattung in einem bestimmten Fall an die Stelle der Presse zu treten (S. AG, a.a.O., Rdnr. 81).

40. Der Gerichtshof hat jedoch betont, dass die Presse insbesondere hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre von Angeklagten in Strafverfahren und der Unschuldsvermutung gewisse Grenzen nicht überschreiten darf (Bédat, a.a.O., Rdnr. 51; Egeland und Hanseid ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 34438/04, Rdnr. 53, 16. April 2009; Eerikäinen u. a ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 3514/02, Rdnr. 60, 10. Februar 2009). Für die vom Gerichtshof vorzunehmende Abwägung widerstreitender Interessen ist von Bedeutung, dass jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention das Recht hat, bis zum Beweis der Schuld als unschuldig zu gelten (siehe News Verlags GmbH & Co.KG, a.a.O., Rdnr. 56).

41. Schließlich erinnert der Gerichtshof daran, dass die Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage haben, ob und inwieweit ein Eingriff in die nach Artikel 10 der Konvention geschützte Freiheit der Meinungsäußerung notwendig ist (Bédat, a.a.O., Rdnr. 54). Haben die innerstaatlichen Behörden die Abwägung der in Rede stehenden Interessen in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen, kann der Gerichtshof die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe durch die eigene ersetzen (siehe MGN Limited ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 39401/04, Rdnrn. 150 und 155, 18. Januar 2011; S. AG, a.a.O., Rdnr. 88).

42. Bei der Abwägung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf Achtung des Privatlebens sind die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien zu berücksichtigen (Couderc und Hachette Filipacchi Associés, a.a.O., Rdnr. 93; S. AG ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 89 bis 95). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die so definierten Kriterien nicht erschöpfend sind und im Lichte der Umstände de jeweiligen Rechtssache umgesetzt und angepasst werden sollten (vgl.Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy, a.a.O., Rdnr. 166). Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen es um die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention geht (siehe, sinngemäß, Bédat, a.a.O., Rdnr. 55). Im Zusammenhang mit der Abwägung konkurrierender Rechte hat der Gerichtshof, soweit für die vorliegende Rechtssache maßgeblich, folgende Kriterien formuliert: Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse; Bekanntheitsgrad der betroffenen Person; Einfluss auf das Strafverfahren; Umstände der Entstehung der Fotos; Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung sowie Schwere der auferlegten Sanktion.

ii. Anwendung auf den vorliegenden Fall

(α) Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse

43. Der Gerichtshof hat betont, dass Pressefotos einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse leisten (News Verlags GmbH & Co .KG, a.a.O., Rdnrn. 52 ff.; und Eerikäinen u. a. ./. Finnland, a.a.O., Rdnr. 62). In Abhängigkeit vom Grad der Bekanntheit der betroffenen Person und der Art der Straftat kann die Öffentlichkeit ein Interesse an der Offenlegung ihres physischen Erscheinungsbildes haben (siehe, sinngemäß, Österreichischer Rundfunk ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 35841/02, Rdnr. 68, 7. Dezember 2006). Der Gerichtshof räumt ein, dass es in Abhängigkeit von der Art der in Rede stehenden Straftat und den Umständen der Rechtssache gute Gründe für ein Verbot der Veröffentlichung des Bildes eines Verdächtigen geben kann.

44. Die in Rede stehende Straftat war brutal, war aber nach einem privaten Streit innerhalb einer Familie und im häuslichen Umfeld begangen worden. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sie besonderes Aufsehen erregt hätte. Wie der Vorsitzende ausführte und die Regierung betonte, bestand ganz zu Beginn des Verfahrens, als die richterliche Verbotsanordnung erging, kein besonders großes Medieninteresse an dem Fall. Der Gerichtshof schließt sich der Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte an, der gemäß nur ein begrenztes Maß an öffentlichem Interesse bestand.

45. Die in Rede stehende richterliche Anordnung schränkte nicht den Inhalt der Berichterstattung ein, sondern betraf die Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder von S. Daher stellt sich die Frage, ob die Veröffentlichung derartiger Bilder einen Beitrag zur öffentlichen Debatte über den Fall hätte leisten können.

46. Der Gerichtshof ist nicht der Auffassung, dass Informationen über das physische Erscheinungsbild des S. einen bedeutenden Beitrag zur Debatte über den Fall geleistet hätten, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass kein Aufsehen erregt worden sei. Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass das physische Erscheinungsbild von S. dazu beigetragen hätte, Fragen wie z. B. die nach der Rolle seiner Eltern in dem Familienkonflikt zu beurteilen.

(β) Bekanntheitsgrad der betroffenen Person

47. Der Gerichtshof stellt fest, dass S. zweifellos keine Person des öffentlichen Lebens, sondern eine gewöhnliche Person war, gegen die ein Strafverfahren geführt wurde. S. war der Öffentlichkeit erstmals durch die von ihm begangene Straftat bekannt geworden. Dass gegen ihn ein Strafverfahren geführt wurde, kann ihm, auch wenn es sich um eine sehr schwere Straftat handelte, nicht jeglichen Schutz nach Artikel 8 der Konvention entziehen (Bédat, a.a.O., Rdnr. 76, und Eerikäinen u. a. , a.a.O., Rdnr. 66).

48. Die Tatsache, dass das Bild einer Person bereits früher veröffentlicht wurde, kann im Abwägungsprozess berücksichtigt werden (S. AG, a.a.O., Rdnr. 92, und Österreichischer Rundfunk, a.a.O., Rdnr. 65) und zu der Schlussfolgerung führen, dass keine Notwendigkeit bestand, die Offenlegung der Identität einzuschränken (Egeland und Hanseid, a.a.O., Rdnr. 59).

49. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Vorsitzende nicht berücksichtigte, dass bereits zuvor Fotos von S. veröffentlicht worden waren. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände, unter denen der Richter die Anordnung erließ, insbesondere des Zeitpunkts ganz zu Beginn der Gerichtsverhandlung, und der Eilbedürftigkeit der Entscheidung, konnte nicht erwartet werden, dass er zu dem Zeitpunkt alle vorherigen Veröffentlichungen kannte und in seine Abwägung der widerstreitenden Interessen einbezog.

50. Der Gerichtshof stellt fest, dass das physische Erscheinungsbild von S. der Öffentlichkeit infolge vorheriger Veröffentlichungen bekannt war. Die meisten der vor dem Strafverfahren veröffentlichten Fotos waren jedoch anscheinend viele Jahre zuvor aufgenommen worden und zeigten ihn in viel jüngerem Alter. Diesbezüglich ist auch zu berücksichtigen, dass, wie die Regierung hervorhob, die deutsche Presse bis dahin nur gelegentlich über den Fall berichtet hatte und die Berichterstattung im Wesentlichen auf die lokalen Medien beschränkt war. Daher hätte die Öffentlichkeit S. zur Zeit des gegen ihn geführten Verfahrens nicht anhand dieser Fotos identifizieren können, und es kann nicht festgestellt werden, dass seine Identität der Öffentlichkeit bereits bekannt war.

(γ) Einfluss auf das Strafverfahren

51. Der Gerichtshof stellt fest, dass S. die Tat zweimal gestanden hatte und die Beschwerdeführerinnen der Auffassung waren, dass ihm die Unschuldsvermutung daher nicht mehr zugute gekommen wäre (siehe Rdnr. 32). Ein Geständnis führt für sich genommen jedoch nicht zum Wegfall des durch die Unschuldsvermutung gewährten Schutzes. Gemäß Art. 6 Abs. 2 der Konvention gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Der Gerichtshof räumt ein, dass sich ein Geständnis unter gewissen Umständen auf die Abwägung widerstreitender Interessen auswirken kann, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat (1 BvR 3048/11, siehe Rdnr. 23). In der vorliegenden Rechtssache ist er jedoch davon überzeugt, dass der Vorsitzende berücksichtigte, dass die Aussagen von S. und ihre Glaubhaftigkeit gemäß dem innerstaatlichen Recht am Ende der Hauptverhandlung, und nicht vor ihrem Beginn, zu beurteilen seien. Dies gilt umso mehr, als bei S. gemäß einem von der Staatsanwaltschaft eingeholten Gutachten eine schizoide Persönlichkeitsstörung vorlag. Das Urteilsgericht musste das Geständnis sorgfältig prüfen, um sich davon zu überzeugen, dass es korrekt und glaubhaft war.

(δ) Umstände der Entstehung der Fotos

52. Der Gerichtshof berücksichtigt, dass im Gerichtssaal aufgenommene Fotos eines Angeklagten diesen in einem Zustand großer Belastung und möglicherweise in einer Situation verminderter Selbstkontrolle zeigen können (siehe, sinngemäß, Egeland und Hanseid, a.a.O., Rdnr. 61). Die zu Beginn der Hauptverhandlung im Gerichtssaal aufgenommenen Fotos zeigten S. in Handschellen, neben Polizeibeamten oder seinem Verteidiger. Unter diesen Umständen hatte S. keine Möglichkeit, seine Privatsphäre zu schützen und Journalisten an der Erlangung identifizierender Bilder zu hindern. Er setzte sich nicht freiwillig der Öffentlichkeit aus, sondern war gezwungen, an der Verhandlung teilzunehmen. Der Gerichtshof stellt fest, dass es unter den gegebenen Umständen in hohem Maße notwendig war, die Privatsphäre von S. zu schützen.

53. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass S. sich nie um eine Kontaktaufnahme mit den Medien bemühte oder öffentlich äußern wollte. Er bat im Gegenteil ausdrücklich, vor identifizierender Berichterstattung geschützt zu werden. S. stimmte der Aufnahme von Fotos nicht zu.

(ε) Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung

54. Die gerichtliche Anordnung betrifft die Veröffentlichung während der Verhandlung aufgenommener Bilder, auf denen S. identifizierbar gewesen wäre. Wie die Regierung hervorhob, hätte eine Verbreitung von Bildern, die S. im Gerichtssaal gezeigt hätten und auf denen er identifizierbar gewesen wäre, den auf ihm lastenden psychischen Druck erhöht. Der Gerichtshof stellt fest, dass die nachteiligen Folgen, welche die Verbreitung von Informationen, die zu einer Identifizierung von tatverdächtigen, angeklagten oder verurteilten Personen oder anderen Parteien eines Strafverfahrens führen können, für diese Personen haben können, besonders berücksichtigt werden sollten (siehe Grundsatz 8 des Anhangs zur Empfehlung Rec(2003)13 des Ministerkomitees des Europarats, siehe Rdnr. 24). Gleichermaßen ist zu berücksichtigen, dass sich eine Veröffentlichung von nichtanonymisierten Bildern eines Angeklagten im Falle einer Verurteilung negativ auf die spätere Resozialisierung auswirken könnte, wie das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben hat (1 BvR 620/07, siehe Rdnr. 22). Im vorliegen Fall lag es auch im Interesse eines ordnungsgemäßen Gerichtsverfahrens, den psychischen Druck auf S., insbesondere angesichts seiner Persönlichkeitsstörung, nicht weiter zu erhöhen.

(ζ) Anwendungsbereich der Anordnung und Schwere der Sanktion

55. Der materielle Anwendungsbereich der richterlichen Anordnung beschränkte sich auf das Verbot der Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder von S. Hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs der richterlichen Anordnung brachten die Beschwerdeführerinnen vor, dass der Vorsitzende am 11. Januar 2011 gesagt habe, dass jeder, der seiner Anordnung nicht Folge leiste, keine Aufnahmen vor Verhandlungsbeginn mehr machen dürfe. Sie hätten dies so verstanden, dass die Drohung sich nicht nur auf das in Rede stehende Verfahren beziehe, sondern als generelle, für die Zukunft geltendes Verbot anzusehen sei. Der Gerichtshof hält das Argument der Beschwerdeführerinnen, die richterliche Anordnung könne über die erstinstanzliche Verhandlung hinaus Geltung haben, nicht für überzeugend. Die in der Anordnung angeführten Gründe beziehen sich ausdrücklich auf die „Anordnung hinsichtlich der Bildberichterstattung über die Hauptverhandlung“. Die Beschwerdeführerinnen selbst wandten sich in ihrer Gegenvorstellung vom 31. Januar 2011 (siehe Rdnr. 17) gegen ein Verbot identifizierender Berichterstattung „für die Dauer des Prozesses gegen (…) S.[2]“. In Anbetracht der schriftlichen Fassung der richterlichen Anordnung vom 17. Januar 2011 sowie der Tatsache, dass die Zuständigkeit des Vorsitzenden gemäß § 176 GVG auf die in Rede stehende Verhandlung beschränkt war, gibt es keinen Beleg für die Behauptung der Beschwerdeführerinnen, die Anordnung gelte über das Verfahren gegen S. hinaus.

56. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Anordnung die Berichterstattung nicht besonders stark einschränkte. Hinsichtlich der Aufnahme von Fotos gab es keine Einschränkungen. Die Anordnung verbot nur die Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder. Ansonsten gab es keinerlei Einschränkungen der Berichterstattung über das Verfahren. Daher wählte der Richter aus mehreren möglichen Maßnahmen zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Gerichtsverfahrens und zum Schutz der Privatsphäre von S. die am wenigsten restriktive aus.

57. Was die Folgen eines Verstoßes gegen die richterliche Anordnung angeht, beschränkte sich ein möglicher Ausschluss von der weiteren Berichterstattung über den Fall ebenfalls auf das Verfahren gegen S. Das Gericht ist nicht der Auffassung, dass die Anordnung eine abschreckende Wirkung entfaltete, die die Rechte der Beschwerdeführerinnen aus Artikel 10 der Konvention verletzte.

( η) Schlussfolgerung

58. Der Gerichtshof erkennt an, dass der Vorsitzende eine sorgfältige Abwägung vorgenommen und die verschiedenen Faktoren, die nach der Konvention maßgeblich sind, berücksichtigt hat. Angesichts der oben aufgeführten Kriterien und Erwägungen und insbesondere der Tatsache, dass die Rechtssache die Veröffentlichung von in einer strafrechtlichen Verhandlung aufgenommenen Bildern betraf, stellt der Gerichtshof fest, dass der Vorsitzende sich mit den gegensätzlichen Interessen gründlich auseinander gesetzt hat und bei der Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eine sorgfältige Abwägung der relevanten Aspekte des Falles vorgenommen hat. In Anbetracht des den nationalen Behörden zustehenden Beurteilungsspielraums im Zusammenhang mit Einschränkungen der Berichterstattung über Strafverfahren ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass der Vorsitzende die betroffenen Interessen im Einklang mit den Maßstäben der Konvention abgewogen hat. Die Anordnung war im Hinblick auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig, da der Vorsitzende unter mehreren möglichen Maßnahmen die am wenigsten restriktive auswählte. Daher gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerinnen auf freie Meinungsäußerung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

59. Artikel 10 der Konvention ist folglich nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EIN­STIMMIG:

1. die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 10 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 21. September 2017 nach Ar­tikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                       André Potocki
Stellvertretender Sektionskanzler                        Präsident

____________

[1] Anmerkung der Übersetzerin: die Formulierung in dem Schreiben der Beschwerdeführerinnen lautet „an den noch verbleibenden Verhandlungstagen“.

[2] „Anmerkung d. Übers.:Die Formulierung in dem Schreiben der Beschwerdeführerinnen lautet: „an den noch verbleibenden Verhandlungstagen“.

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert