GRÖNING GEGEN DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 71591/17

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 71591/17
G. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 20. Oktober 2020 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Síofra O’Leary, Präsidentin,
Mārtiņš Mits,
Ganna Yudkivska,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Latif Hüseynov,
Lado Chanturia,
Anja Seibert-Fohr,
sowie Victor Soloveytchik, Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 26. September 2017 erhoben wurde,

im Hinblick auf die Stellungnahmen der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderungen des Beschwerdeführers,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, Herr G., war deutscher Staatsangehöriger. Der Beschwerdeführer verstarb am 9. März 20.. Im Anschluss äußerten seine beiden Söhne den Wunsch, das Verfahren an seiner Stelle fortzuführen. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn H., Rechtsanwalt in H., vertreten.

2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

3. Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

1. Der Hintergrund der Rechtssache

4. Im Oktober 1940 trat der Beschwerdeführer in die SS ein. Von September 1942 bis Oktober 1944 war er im Vernichtungslager Auschwitz als Mitglied der Einheit eingesetzt, die das Eigentum der Opfer verwaltete. Der Beschwerdeführer, der Uniform trug und bewaffnet war, war meist zum Dienst an der „Rampe“ eingeteilt, wo die deportierten Menschen nach Ankunft der Züge „selektiert“ wurden, d. h. entweder in das Konzentrationslager oder in die Gaskammer geschickt wurden. Der Beschwerdeführer war nicht unmittelbar an der Selektion beteiligt, aber als Mitglied seiner Einheit für die Sammlung und Sicherung sämtlichen Gepäcks und sonstigen Eigentums zuständig. Zwischen dem 16. Mai 1944 und dem 11. Juli 1944 kamen ca. 430.000 ungarische Juden an, von denen ca. 300.000 in den Gaskammern umkamen (die sogenannte „Ungarn-Aktion“).

2. Strafverfahren ab 1977

5. 1977 leitete die Staatsanwaltschaft F. ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer und weitere Personen wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord im Zusammenhang mit ihrem Einsatz im Vernichtungslager Auschwitz von September 1942 bis Oktober 1944 ein. Am 5. Januar 1978 wurde der Beschwerdeführer von der Polizei als Beschuldigter vernommen.

6. Der Regierung zufolge wurde dem Beschwerdeführer von dem für das Ermittlungsverfahren zuständigen Oberstaatsanwalt im Anschluss mitgeteilt, dass er nur als Zeuge der Anklage von Interesse sei. Nach Darstellung des Beschwerdeführers habe der Oberstaatsanwalt ihm lediglich mitgeteilt, er solle als Zeuge der Anklage dazu befragt werden, ob ein Mitglied der SS ohne nachteilige Folgen um eine Versetzung aus Auschwitz habe ersuchen können. Darüber hinaus sei ihm nicht mitgeteilt worden, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei bzw. dass ihm keine strafrechtliche Verfolgung mehr drohe. Auch seien die vorgenannten Bemerkungen nicht bei seiner Vernehmung am 5. Januar 1978 erfolgt, sondern Ende der 1970er oder Anfang der 1980er Jahre.

7. Zwischen 1977 und September 1982 wurde das Ermittlungsverfahren schließlich gegen 62 Personen geführt. Es wurden Verdächtige vernommen, Zeugen befragt und Ablichtungen von Strafurteilen aus Frankreich und Polen beschafft. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen unterstützte die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft durch Archivrecherchen.

8. Am 6. März 1985 stellte die Staatsanwaltschaft F. das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (siehe Rdnr. 25) ein, weil kein zur Erhebung der öffentlichen Klage hinreichender Tatverdacht vorliege. Ausweislich der Einstellungsverfügung sollten die Einstellungsgründe wegen Geschäftsandrangs später ausführlich formuliert werden. Dies ist anscheinend nie erfolgt. Im Unterschied zu einigen anderen Beschuldigten, die anwaltlich vertreten waren, wurde dem Beschwerdeführer diese Entscheidung nicht förmlich mitgeteilt.

3. Weitere Entwicklungen

9. In den 1980er und 1990er Jahren sagte der Beschwerdeführer wiederholt in Strafverfahren gegen andere Beschuldigte zu strafbarem Verhalten im Vernichtungslager Auschwitz aus.

10. Am 8. November 1984 wurde der Beschwerdeführer von der Polizei als Zeuge in einem Strafverfahren gegen ein SS-Mitglied, das ebenfalls im Vernichtungslager Auschwitz eingesetzt war, befragt. Der Beschwerdeführer berichtete dabei ausführlich über seinen Dienst an der „Rampe“.

11. 2003/2004 gab er Interviews im britischen Fernsehen, 2005 äußerte er sich in einem Interview gegenüber der Wochenzeitschrift „Der Spiegel“. In den Interviews sprach er offen und ausführlich über die Rolle, die er im Hinblick auf das Funktionieren des Vernichtungslagers Auschwitz spielte. Der Spiegel berichtete weiter, der Beschwerdeführer habe dem Journalisten ein Schreiben des Landgerichts D. vorgelegt, in dem er eine Passage unterstrichen habe, wonach er nicht als Beschuldigter, sondern nur als Zeuge geladen sei.

12. Im Anschluss informierte die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen die Staatsanwaltschaft F. über den Bericht im Spiegel. Am 11. Juli 2005 setzte die Staatsanwaltschaft F. die Zentrale Stelle von ihrer Entscheidung in Kenntnis, das eingestellte Ermittlungsverfahren dennoch nicht wiederaufzunehmen. In der Entscheidung wird der Fall eingehend analysiert. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft war die für Beihilfe zum Mord erforderliche Kausalität zwischen der Rolle des Beschwerdeführers im Hinblick auf das Funktionieren des Vernichtungslagers und den in Rede stehenden Straftaten nicht gegeben. Die Tatsache, dass er in Uniform und bewaffnet zum Dienst an der „Rampe“ eingesetzt worden sei, rechtfertige keine abweichende Bewertung. Darüber hinaus sei auch das Vorhandensein des Vorsatzes fraglich, da dem Beschwerdeführer die Grausamkeit des Todes der Opfer durch Einatmen des in den Gaskammern eingesetzten Giftgases möglicherweise nicht bewusst gewesen sei.

13. 2011 wurde Herr D., der im Vernichtungslager Sobibór eingesetzt war, vom Landgericht M. wegen seiner Rolle im Hinblick auf das Funktionieren des Vernichtungslagers verurteilt, ungeachtet der Art seiner konkreten Aufgaben. Auch wenn diese Entscheidung nicht rechtskräftig wurde, weil Herr D. während des Rechtsmittelverfahrens verstarb (bezüglich weiterer Einzelheiten, siehe D. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 24247/15, 24. Januar 2019), so gab sie doch den Anstoß für eine neue rechtliche Beurteilung der Rolle von Einzelpersonen im Hinblick auf das Funktionieren der Vernichtungslager. In der Folge wurden deutschlandweit verschiedene Ermittlungsverfahren wiederaufgenommen bzw. eingeleitet.

14. 2012 informierte die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen die Staatsanwaltschaft F. über die Entscheidung des Landgerichts M. im Fall D. Am 8. Januar 2013 entschied die Staatsanwaltschaft F. erneut, das eingestellte Verfahren nicht wiederaufzunehmen.

4. Strafverfahren ab 2013

15. Am 29. November 2013 leitete die Staatsanwaltschaft H. ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord im Zusammenhang mit seinem Einsatz im Vernichtungslager Auschwitz von September 1942 bis Oktober 1944 ein. Am 17. Februar 2014 vernahm sie den Beschwerdeführer als Beschuldigten. Am 28. August 2014 erhob sie Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen.

16. Am 15. Juli 2015 verurteilte das Landgericht L. den Beschwerdeführer am Ende der Hauptverhandlung, die von April bis Juli dauerte, zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Es befand, dass dem (einzigen) Einwand des Beschwerdeführers, dass nämlich das Strafverfahren nicht mit dem Gebot der angemessenen Frist nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vereinbar sei, nicht stattzugeben sei.

17. Hinsichtlich des Zeitraums zwischen 1978 und 1985 stellte das Gericht fest, dass das Verfahren den Beschwerdeführer keinen fühlbaren Belastungen ausgesetzt habe, die mit der Sanktion selbst vergleichbar wären. Obwohl er zunächst als Beschuldigter vernommen worden sei, habe ihn das Verfahren nicht unter Druck gesetzt. Der Oberstaatsanwalt habe dem Beschwerdeführer bei der Vernehmung gesagt, er brauche sich keine Sorgen zu machen, da man ihn eigentlich nicht strafrechtlich verfolgen wolle und er nur als Zeuge der Anklage von Interesse sei. Von diesem Zeitpunkt an sei der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben davon überzeugt gewesen, moralisch mitverantwortlich, juristisch aber unschuldig zu sein und nie verurteilt zu werden.

18. Das Gericht befand, dass der Zeitraum zwischen 1985 und 2013 nicht zu berücksichtigen sei, denn es sei kein Ermittlungsverfahren anhängig gewesen, da die Staatsanwaltschaft F. das Verfahren eingestellt habe. Ein nicht existentes Verfahren könne nicht verzögert werden und zu keinen fühlbaren Belastungen für den Beschwerdeführer führen.

19. Hinsichtlich des Zeitraums zwischen 2013 und dem Erlass des Urteils seien keine Anhaltspunkte für eine ungebührliche Verzögerung des Verfahrens ersichtlich.

20. Zudem befand das Landgericht, dass nicht festgestellt werden könne, ob und gegebenenfalls wann der Beschwerdeführer von der Einstellungsentscheidung von 1985 erfahren habe. Gleichwohl habe er sich nicht für den Verfahrensausgang interessiert, weil er sich durch das Verfahren nicht belastet gefühlt habe. Er habe sich diesbezüglich weder persönlich noch über seinen Verteidiger erkundigt. In der Folgezeit habe er in anderen Strafverfahren gegen ehemalige SS-Angehörige, die ebenfalls im Vernichtungslager Ausschwitz eingesetzt gewesen seien, als Zeuge ausgesagt. Dies habe ihn in der Annahme bestärkt, im strafrechtlichen Sinne unschuldig zu sein und selbst keine Verfolgung mehr befürchten zu müssen.

21. Am 15. Oktober 2015 legte der Beschwerdeführer Revision ein und trug vor, das Landgericht habe Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fehlerhaft angewendet. Es habe keine getrennten Verzögerungen gegeben; vielmehr habe das strafrechtliche Ermittlungsverfahren von seiner polizeilichen Vernehmung im Jahr 1978 bis zu seiner Verurteilung gedauert. Die Einstellungsentscheidung von 1985 unterbreche den bei der Berechnung der Gesamtdauer des Strafverfahrens zu berücksichtigen Zeitraum nicht. Das Landgericht habe keine Kompensation gewährt, obwohl das Strafverfahren verzögert worden sei und nahezu 35 Jahre gedauert habe.

22. Der Generalbundesanwalt beantragte, die Revision durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 Strafprozessordnung (siehe Rdnr. 27) als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Er führte aus, die Rüge wegen der Verfahrensdauer betreffend den Zeitraum zwischen 1978 und 1985 sei unzulässig, weil nicht ausführlich substantiiert worden sei, dass das Verfahren in dem Zeitraum nicht gefördert worden sei. Zudem sei das Verfahren 1985 eingestellt worden, ungeachtet dessen, ob der Beschwerdeführer förmlich davon in Kenntnis gesetzt worden sei.

23. Am 20. September 2016 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers gemäß § 349 Abs. 2 Strafprozessordnung als offensichtlich unbegründet. Hinsichtlich der Rüge betreffend die Verfahrensdauer schloss er sich den Ausführungen des Generalbundesanwalts vollumfänglich und ohne weitere Begründung an.

24. Am 20. Juli 2017 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2636/16).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

1. Strafprozessordnung

25. § 170 der Strafprozessordnung in der 1985 und während des von 2013 bis 2017 andauernden Verfahrens geltenden Fassung lautet wie folgt:

„(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.

(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Hiervon setzt sie den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als solcher vernommen worden ist oder ein Haftbefehl gegen ihn erlassen war; dasselbe gilt, wenn er um einen Bescheid gebeten hat oder wenn ein besonderes Interesse an der Bekanntgabe ersichtlich ist.“

26. Die Mitteilung an den Beschuldigten schließt zwar die Einstellungsentscheidung ein, die Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich jedoch nicht verpflichtet, von sich aus Gründe für diese Entscheidung anzugeben.

27. § 349 Abs. 2 Strafprozessordnung sieht vor, dass das Revisionsgericht auf einen begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft hin die Revision eines Verurteilten ohne Verhandlung verwerfen kann, wenn es die Revision für offensichtlich unbegründet erachtet. Die Entscheidung muss einstimmig sein.

2. Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte zur überlangen Dauer von Strafverfahren

28. Die Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte zur überlangen Dauer von Strafverfahren wurde in dem Urteil in der Rechtssache K. und T. ./. Deutschland (Individualbeschwerden Nrn. 45749/06 und 51115/06, Rdnrn. 47-54, 22. Januar 2009) zusammengefasst.

RÜGE

29. Der Beschwerdeführer rügte unter Berufung auf Artikel 6 der Konvention, dass die Verfahrensdauer mit dem Gebot der angemessenen Frist unvereinbar gewesen sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Vorfrage

30. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Söhne des Beschwerdeführers ein berechtigtes Interesse an der Fortführung der Beschwerde ihres Vaters haben (siehe Fojcik ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 57670/00, Rdnr. 45, 21. September 2004; Kozimor ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 10816/02, Rdnr. 27, 12. April 2007, und Hristozov u. a. ./. Bulgarien, Individualbeschwerden Nrn. 47039/11 und 358/12, Rdnr. 71, ECHR 2012 (Auszüge)). Es gibt weder Anhaltspunkte dafür, noch hat die Regierung behauptet, dass die Söhne des Beschwerdeführers nicht seine Erben sind. Der Einfachheit halber bezeichnet der Gerichtshof den verstorbenen Vater weiterhin als den Beschwerdeführer.

B. Die Stellungnahmen der Parteien

31. Der Beschwerdeführer berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass … über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem … Gericht … innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

1. Die Regierung

32. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft habe. Zwischen 1978 und 1985 habe er zu keinem Zeitpunkt eine ungebührliche Verzögerung geltend gemacht; in jedem Fall sei die vor dem Bundesgerichtshof vorgebrachte Rüge unzulässig gewesen. Die Regierung trug vor, dass an der Wirksamkeit der innerstaatlichen Rechtsbehelfe kein Zweifel bestehe. Was das Verfahren ab 2013 angehe, habe er es versäumt, rechtzeitig eine Verzögerungsrüge und eine Entschädigungsklage zu erheben.

33. Insgesamt seien das 1977 eingeleitete Strafverfahren und das Verfahren ab 2013 getrennt voneinander zu betrachten. Die fehlende förmliche Benachrichtigung über die Entstellungsentscheidung betreffend das vorangegangene Verfahren sei im Fall des Beschwerdeführers für die Zwecke des Artikels 6 Abs. 1 der Konvention unerheblich, weil der Beschwerdeführer stets davon ausgegangen sei, dass ihm im Zusammenhang mit seiner Rolle im Vernichtungslager Auschwitz keine strafrechtliche Verfolgung drohe. Dies ergebe sich aus den Einlassungen des Beschwerdeführers vor dem Landgericht, wonach er sich moralisch mitverantwortlich, juristisch aber unschuldig fühle und an dem Strafverfahren nicht interessiert gewesen sei. Auch sein Verhalten nach 1985 lasse dies vermuten, denn er habe sich zu keinem Zeitpunkt nach dem Verfahrensausgang erkundigt und habe ferner als Zeuge in anderen Gerichtsverfahren ausgesagt und Interviews gegeben, offenbar ohne zu befürchten, dass er sich selbst belasten könnte.

34. Zudem sei der Beschwerdeführer aufgrund der Aussagen des Oberstaatsanwalts (siehe Rdnr. 6) nachvollziehbar davon ausgegangen, dass ihm keine strafrechtliche Verfolgung mehr drohe. Um ihre Version der Aussagen des Oberstaatsanwalts zu stützen, legte die Regierung schriftliche Stellungnahmen vor. In einer dieser Stellungnahmen bestätigte ein Tatrichter des Landgerichts, dass die Feststellungen bezüglich des Inhalts dieser Aussagen auf den Angaben des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung beruhten. Es sei nicht möglich gewesen, den Oberstaatsanwalt selbst zu laden, da dieser bereits 2009 verstorben sei. In einer anderen schriftlichen Stellungnahme bestätigte ein an der Hauptverhandlung beteiligter Staatsanwalt, dass der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung angegeben habe, dass es 1977 zu einer Begegnung mit dem Oberstaatsanwalt gekommen sei. Der Oberstaatsanwalt habe dem Beschwerdeführer bei dieser Gelegenheit gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, da er nur als Zeuge der Anklage von Interesse sei, falls sich einer der Beschuldigten auf Befehlsnotstand berufe. Auch wurde der Beschwerdeführer mit den Worten aus der Hauptverhandlung zitiert, er habe nie realisiert, dass er Beschuldigter gewesen sei. Dementsprechend habe es zwischen 1985 und 2013 kein Strafverfahren gegeben.

35. Das zweite Strafverfahren, das lediglich für die Bestimmung der Verfahrensdauer erheblich sei, sei nicht überlang gewesen. Es sei über drei Instanzen geführt worden und habe recht komplexe Fragestellungen betroffen.

2. Der Beschwerdeführer

36. Der Beschwerdeführer bestritt diese Auffassung. Er machte geltend, dass er die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft habe und dass die Dauer des Verfahrens überlang gewesen sei, weil das Strafverfahren 1985 nicht ordnungsgemäß eingestellt worden sei. Das Strafverfahren habe daher 1978 mit seiner Vernehmung als Beschuldigter begonnen und erst im September 2016 mit der Verwerfung seiner Revision durch den Bundesgerichtshof geendet. Die Staatsanwaltschaft habe ihn 1985 entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht förmlich über die Einstellungsentscheidung benachrichtigt.

37. Seine Aussage im innerstaatlichen Verfahren, wonach er sich nicht für die Ermittlungen interessiert habe und sich moralisch mitverantwortlich, juristisch aber unschuldig gefühlt habe, sei der Tatsache zuzuschreiben, dass er seiner Überzeugung nach keine Straftat begangen habe, und nicht einer etwaigen Kenntnis der Tatsache, dass das Verfahren eingestellt worden sei. Es habe für ihn keine Verpflichtung bestanden, sich nach dem Stand des Verfahrens zu erkundigen. Darüber hinaus hätten die ihm von dem Oberstaatsanwalt mitgeteilten Informationen keine Aussage dahingehend enthalten, dass es keine weiteren ihn betreffende strafrechtlichen Ermittlungen geben würde. Grundsätzlich sei die Staatsanwaltschaft von Gesetzes wegen verpflichtet, ihre Ermittlungen fortzusetzen. Der Beschwerdeführer legte eine schriftliche Stellungnahme seiner Rechtsanwälte vor, um seine in der Hauptverhandlung im Jahr 2015 bezüglich des Inhalts der Aussagen des Oberstaatsanwalts getätigten mündlichen Einlassungen zu belegen.

C. Würdigung durch den Gerichtshof

1. Zu berücksichtigender Zeitraum

38. Der Gerichtshof erinnert an seine Rechtsprechung, wonach der gemäß Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zu berücksichtigende Zeitraum mit dem Zeitpunkt beginnt, zu dem eine Person förmlich einer Straftat beschuldigt wird oder ab dem die Maßnahmen, die die Behörden aufgrund des Verdachts gegen sie ergriffen haben, ernsthafte Auswirkungen auf ihre Situation haben (siehe Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 44, ECHR 2004 XI).

39. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen den Parteien unstrittig ist, dass die Vernehmung des Beschwerdeführers als Beschuldigter der Zeitpunkt ist, zu dem das Verfahren begann. Strittig ist zwischen ihnen jedoch, ob insoweit die Vernehmung im Jahr 1978 oder im Jahr 2014 entscheidend ist. Dies hängt davon ab, ob das Verfahren als zwei getrennte Verfahrenskomplexe oder als ein Verfahrenskomplex betrachtet wird.

40. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht drei Zeiträume untersucht hat. Einer dauerte von 1978 bis 1985, ein weiterer von 2013 bis zum Tag des Erlasses des Strafurteils; die Zeit dazwischen wurde ausdrücklich als Zeitraum eingestuft, in dem kein Verfahren existierte (siehe Rdnrn. 17-19). Der Gerichtshof sieht sich an diese Schlussfolgerung jedoch nicht gebunden und wird daher seine eigene Bewertung der Frage vornehmen, ob das vorangegangene Verfahren einen getrennten Verfahrenskomplex darstellte.

(a) Mitteilung der Einstellungsentscheidung

41. Was das Ende des vorangegangenen Verfahrens betrifft, merkt der Gerichtshof an, dass das Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist den Einzelnen u. a. davor schützen soll, dass er „über sein Schicksal zu lange im Ungewissen bleibt“ (siehe Stögmüller ./. Österreich, 10. November 1969, Serie A Nr. 9, S. 40). Demnach dauert der zu berücksichtigende Zeitraum, bis sich die gegen die betroffene Person erhobenen Vorwürfe nicht mehr auf sie auswirken und die Unsicherheit in Bezug auf ihre rechtliche Lage beseitigt ist (siehe Nakhmanovich ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 55669/00, Rdnr. 89, 2. März 2006). Entsprechend endet ein Strafverfahren in der Regel mit einer amtlichen Mitteilung an den Beschuldigten, dass er wegen dieser Beschuldigungen nicht mehr verfolgt wird, so dass im Ergebnis festgestellt werden kann, dass von erheblichen Auswirkungen auf seine Lage nicht mehr auszugehen ist (siehe Kalpachka ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 49163/99, Rdnr. 65, 2. November 2006). Es muss daher festgestellt werden, zu welchem Zeitpunkt dies im vorliegenden Fall eingetreten ist.

42. Der Gerichtshof teilt die Auffassung des Beschwerdeführers, dass die Staatsanwaltschaft F. den Beschwerdeführer entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht mit einem förmlichen Schreiben von der Einstellungsentscheidung von 1985 in Kenntnis gesetzt hat. Das Landgericht befand zudem, dass nicht festgestellt werden könne, ob und gegebenenfalls wann der Beschwerdeführer von der Einstellungsentscheidung erfahren habe (siehe Rdnr. 20).

43. In Fällen, in denen ein Beschwerdeführer nach dem innerstaatlichen Recht einen Anspruch darauf hatte, dass ihm von Amts wegen eine schriftliche Fassung der Einstellungsentscheidung ausgehändigt wird, hat der Gerichtshof erkannt, dass der erhebliche Zeitraum bis zu dem Augenblick dauerte, in dem die Entscheidung dem Betroffenen mitgeteilt wurde (siehe Nakhmanovich, a. a. O., Rdnr. 87 ff., und Borzhonov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 18274/04, Rdnr. 38, 22. Januar 2009).

44. Allerdings waren im Unterschied zu dem vorliegenden Verfahren die Beschwerdeführer in diesen Fällen in völliger Unsicherheit gelassen worden. Obwohl sie sich nach dem Stand des Strafverfahrens erkundigt hatten, erfuhren sie erst dann von der Einstellungsentscheidung, als sie die Stellungnahme der russischen Regierung in Erwiderung auf ihre zu diesem Gerichtshof erhobenen Beschwerden erhielten. Im Fall Nakhmanovich (a. a. O., Rdnr. 92) war zudem zweifelhaft, ob die Einstellungsentscheidung an dem dort angegebenen Tag und nicht etwa rückwirkend ergangen war. Dagegen besteht kein Grund für die Annahme, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall die Einstellungsentscheidung nicht in schriftlicher Form erhalten hätte, wenn er sich nach dem Stand des Verfahrens erkundigt oder die Einstellungsentscheidung angefordert hätte, sobald er von dieser Entscheidung oder von Informationen Kenntnis erhalten hatte, die darauf hindeuteten, dass keine Absicht bestand, ihn strafrechtlich zu verfolgen (siehe weiter unten). Für eine solche Mitteilung war auch unerheblich, ob die Einstellungsgründe vollständig angegeben waren, denn der Beschwerdeführer wäre nur über die Entscheidung an sich informiert worden (siehe Rdnr. 26).

45. In einem anderen Fall war es ausreichend, dass der Justizminister den Beschwerdeführer darüber informiert hatte, dass er nicht strafrechtlich verfolgt würde (siehe X ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 9433/81, Ausschussentscheidung vom 11. Dezember 1981, Decisions and Reports (DR) 27, S. 237). In einem anderen Zusammenhang wurde die Anordnung eines Tatrichters, die Vorwürfe in den Akten zu belassen, als Beendigung des Strafverfahrens im Sinne von Artikel 6 der Konvention betrachtet (siehe Withey ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 59493/00, ECHR 2003-X).

46. Der Gerichtshof geht daher davon aus, dass die Einstellungsentscheidung von 1985, die dem Beschwerdeführer nicht förmlich übermittelt wurde, den Zeitraum, der am 5. Januar 1978 begonnen hatte, nicht beendete. Unter Berücksichtigung der Umstände des vorliegenden Falls und des Artikel 6 zugrundeliegenden Ziels, nämlich Unsicherheit in Bezug auf die rechtliche Lage eines Beschuldigten zu beseitigen, hindert die Nichtbeachtung der innerstaatlichen Mitteilungsvorschriften den Gerichtshof dennoch nicht daran zu prüfen, ob die Unsicherheit durch andere Mittel beseitigt wurde.

(b) Beseitigung der Unsicherheit durch andere Mittel

47. Der Gerichtshof stellt fest, dass beide Ermittlungsverfahren zwar die Rolle des Beschwerdeführers im Hinblick auf das Funktionieren des Vernichtungslagers Auschwitz zwischen September 1942 und Oktober 1944 betraf, sie jedoch von unterschiedlichen Staatsanwaltschaften geführt wurden und zwischen ihnen ein recht langer Zeitraum lag.

48. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass von dem für das frühere Verfahren zuständigen Oberstaatsanwalt Aussagen bezüglich der Rolle des Beschwerdeführers als Zeuge für die Anklage gemacht worden waren (siehe Rdnrn. 6, 34 und 37). Die Existenz der Aussagen ist zwar unstrittig, der Gerichtshof sieht sich jedoch einer Meinungsverschiedenheit bezüglich des Inhalts und des Zeitpunkts der Aussagen gegenüber.

49. In den Verfahren vor dem Gerichtshof bestehen keine Zulässigkeitsbeschränkungen, was die Vorlage von Beweismitteln angeht, und auch keine vorab festgelegten Formeln für deren Würdigung. Der Gerichtshof zieht die Schlussfolgerungen, die seiner Auffassung nach durch die freie Würdigung aller Beweismittel gestützt werden; dies schließt Rückschlüsse ein, die sich aus den Tatsachen und dem Vortrag der Verfahrensbeteiligten ergeben. Nach seiner ständigen Rechtsprechung kann der Beweis auch aus dem gleichzeitigen Vorliegen hinreichend gewichtiger, eindeutiger und konkordanter Schlussfolgerungen oder ähnlicher unwiderlegter Tatsachenvermutungen folgen (siehe Nachova u. a. ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerden Nrn. 43577/98 und 43579/98, Rdnr. 147, ECHR 2005‑VII mit weiteren Nachweisen).

50. Was den vorliegenden Sachverhalt angeht, so lagen keine Aufzeichnungen über die Aussagen vor und das Landgericht stützte sich insoweit ausschließlich auf die Einlassungen des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung. Der Oberstaatsanwalt konnte selbst nicht befragt werden, da er bereits vor dem Prozess verstorben war. In dem Verfahren vor dem Gerichtshof nahmen die Regierung und der Beschwerdeführer auf schriftliche Stellungnahmen von prozessbeteiligten Personen Bezug, einschließlich eines Tatrichters, eines Staatsanwalts und des Rechtsanwalts des Beschwerdeführers.

51. Der Gerichtshof sieht es als schwierig an, den Inhalt der Aussagen lediglich auf der Grundlage dieser schriftlichen Stellungnahmen festzustellen, da sich diese widersprechen. Er muss daher koexistierende Beweismittel würdigen.

52. Die von der Regierung vorgelegte Version der Aussagen wird durch das Verhalten des Beschwerdeführers zwischen 1985 und 2013 gestützt. In den 1980er und 1990er Jahren sagte der Beschwerdeführer in Strafverfahren gegen Täter aus den Vernichtungslagern als Zeuge aus und berichtete dabei ausführlich über seinen Einsatz in Auschwitz. In ähnlicher Weise erläuterte er in Interviews für das britische Fernsehen und eine deutsche Zeitschrift offen und ausführlich die Rolle, die er im Hinblick auf das Funktionieren des Vernichtungslagers spielte. Insbesondere ein Schreiben des Landgerichts Duisburg (siehe Rdnr. 11), in dem er eine Passage unterstrichen hatte, wonach er lediglich als Zeuge geladen sei, ist ein weiterer Beleg dafür, dass er sich nicht mehr als Beschuldigter von Straftaten betrachtete. Dies stimmt auch mit der schriftlichen Stellungnahme des Staatsanwalts überein (siehe Rdnr. 34), der den Beschwerdeführer mit den Worten aus der Hauptverhandlung zitierte, er habe nie realisiert, dass er Beschuldigter gewesen sei. Das Landgericht stellte ebenfalls fest, dass der Beschwerdeführer davon überzeugt sei, moralisch mitverantwortlich, juristisch aber unschuldig zu sein und niemals verurteilt zu werden (siehe Rdnr. 17).

53. Der Gerichtshof teilt folglich die Einschätzung der Regierung in Bezug auf den Inhalt dieser Aussagen. Dennoch kann er nicht bestätigen, dass der Oberstaatsanwalt diese Aussagen bei der ersten Vernehmung des Beschwerdeführers im Jahr 1978 machte, denn die vorgelegte schriftliche Aufzeichnung der Vernehmung deutet darauf hin, dass nur der Beschwerdeführer und ein Polizeibeamter, aber kein Staatsanwalt anwesend waren. Der Gerichtshof nimmt daher zugunsten des Beschwerdeführers an, dass diese Aussagen nicht bei der Vernehmung am 5. Januar 1978 gemacht wurden, sondern Ende der 1970er oder Anfang der 1980er Jahre.

54. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Ansicht, dass der Beschwerdeführer den Aussagen des Oberstaatsanwalts vertraute. Er wusste, dass er keiner Straftat mehr beschuldigt wurde, sondern nur als Zeuge für die Anklage von Interesse war. Da das genaue Datum dieser Aussagen, die selbst nach der Darstellung des Beschwerdeführers spätestens Anfang der 1980er Jahre gemacht wurden, nicht ermittelt werden kann, kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Beschuldigungen spätestens Ende 1985 keine Auswirkungen mehr auf ihn hatten. Dementsprechend endete der erste zu berücksichtigende Zeitraum in diesem Moment.

(c) Schlussfolgerung bezüglich des zu berücksichtigenden Zeitraums

55. Der Gerichtshof unterscheidet daher zwei Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer. Das erste begann am 5. Januar 1978 und endete spätestens am 31. Dezember 1985. Das zweite begann am 17. Februar 2014. Was das Ende des zweiten Verfahrens angeht, rügte der Beschwerdeführer die überlange Verfahrensdauer bezüglich des Zeitraums bis zum 20. September 2016, dem Tag der Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Die Regierung bezog sich insoweit auf einen noch späteren Zeitpunkt, nämlich den 20. Juli 2017, dem Tag der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Hinsichtlich der Behauptungen des Beschwerdeführers gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der zu berücksichtigende Zeitraum am 17. Februar 2014 begann und am 20. September 2016 endete.

2. Rüge bezüglich der Dauer des ersten Strafverfahrens

56. Der Gerichtshof braucht nicht zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Regel der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beachtet hat, weil die Rüge bezüglich des ersten Verfahrens in jedem Fall nicht fristgerecht erhoben wurde. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass der Beschwerdeführer spätestens Ende des Jahres 1985 nicht mehr durch die Beschuldigungen im ersten Verfahren beeinträchtigt war (siehe Rdnr. 54). Er wandte sich nicht innerhalb der darauffolgenden sechs Monate an den Gerichtshof und legte auch keine Informationen vor, die seine lange Untätigkeit rechtfertigen würden.

57. Folglich ist dieser Teil der Individualbeschwerde betreffend das erste Strafverfahren wegen Nichteinhaltung der Sechs-Monats-Frist nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention für unzulässig zu erklären.

3. Rüge bezüglich der Dauer des zweiten Strafverfahrens

58. Auch in Bezug auf dieses Verfahren braucht der Gerichtshof nicht zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Regel der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beachtet hat, weil die Rüge bezüglich des zweiten Verfahrens in jeden Fall aus den im Folgenden genannten Gründen unzulässig ist.

59. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der besonderen Umstände der Rechtssache sowie in Anbetracht der in der Spruchpraxis des Gerichtshofs festgelegten Kriterien, insbesondere der Komplexität des Falles sowie des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden zu würdigen ist (siehe u. v. a. Pélissier und Sassi ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25444/94, Rdnr. 67, ECHR 1999-II).

60. Wie der Gerichtshof in der Vergangenheit erkannt hat, muss bei Kriegsverbrechen die Verfahrensdauer im Lichte von Erwägungen wie etwa der Nichtanwendbarkeit von Verjährungsbestimmungen auf solche Verbrechen sowie der langen Zeit bestimmt werden, die möglicherweise seit der Begehung der Taten, die einer Person vorgeworfen werden könnten, vergangen ist. In der Rechtssache X. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 6946/75, Ausschussentscheidung vom 6. Juli 1976, Decisions and Reports (DR) 6, S. 115-116, betreffend ein mehr als elf Jahre andauerndes Verfahren) wurden die vorgenannten Kriterien zur Bestimmung der Verfahrensdauer in einem mit der vorliegenden Rechtssache vergleichbaren Fall als nicht anwendbar erachtet, und zwar aufgrund des außergewöhnlichen Charakters des Verfahrens.

61. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass das gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren angesichts der großen Anzahl sehr schwerer Tatvorwürfe und der Schwierigkeiten, die der lange Zeitraum seit der Begehung der betreffenden Taten mit sich brachte, komplex war (siehe sinngemäß X. ./. Deutschland, a. a. O., S. 116). Solche Fälle erfordern in der Regel umfangreiche Archivrecherchen, um Urkundenbeweise für die Vorwürfe zu erlangen, und darüber hinaus einen sensiblen und vorsichtigen Umgang mit den Zeugenaussagen von Überlebenden. Im Zusammenhang mit der Rolle, die der Beschwerdeführer im Hinblick auf das Funktionieren des Vernichtungslagers spielte, stellten sich auch sensible und komplizierte historische und rechtliche Fragen. Dies wird durch die sich weiterentwickelnde innerstaatliche Rechtsprechung verdeutlicht, die in der wegweisenden Entscheidung des Landgerichts M. aus dem Jahr 2011 kulminierte, in der das Beitragen zum Funktionieren eines Vernichtungslagers als Beihilfe zum Mord eingestuft wurde (siehe Rdnr. 13).

62. Der Gerichtshof möchte jedoch betonen, dass das zweite Verfahren über zwei Instanzen lediglich vom 17. Februar 2014 bis zum 20. September 2016 dauerte – bzw. über drei Instanzen bis zum 20 Juli 2017, wenn man das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht berücksichtigen würde. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass durch die Vorgehensweise der staatlichen Stellen Verzögerungen in dem Verfahren verursacht wurden. Unter Berücksichtigung aller maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Elemente des vorliegenden Falls, insbesondere des strafrechtlichen Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen, war nach Auffassung des Gerichtshofs die Verfahrensdauer eindeutig nicht überlang und es wurde nicht gegen das Gebot der angemessenen Frist verstoßen.

63. Folglich ist dieser Teil der Rüge betreffend das zweite Strafverfahren offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 12. November 2020.

Victor Soloveytchik                                       Siofra O’Leary
Sektionskanzler                                              Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Juli 13, 2021 von eurogesetze

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