EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 38130/12
G. ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 17. Oktober 2017 als Ausschuss mit den Richtern
André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger und
Lәtif Hüseynov
sowie Anne-Marie Dougin, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 16. Juni 2012 erhoben wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, G., ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in W. Er ist praktizierender Rechtsanwalt.
A. Die Umstände der Rechtssache
2. Der Sachverhalt, wie er von dem Beschwerdeführer vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
3. Nach einem Rechtsmittelverfahren vor dem Landgericht wurde der Beschwerdeführer am 20. Juli 2011 zur Rückgabe einer von ihm angemieteten Wohnung an den Vermieter verpflichtet.
4. Am 8. August 2011 legte der Beschwerdeführer bei dem Landgericht Anhörungsrüge gegen dieses Urteil ein.
5. Am 24. August 2011 erhob der Beschwerdeführer gegen das Urteil vom 20. Juli 2011 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, wobei er eine Verletzung seiner Grundrechte auf Gleichheit und Eigentum geltend machte und den Vorwurf der Willkür erhob. In seiner Verfassungsbeschwerde wies er darauf hin, dass er eine Anhörungsrüge eingelegt habe.
6. Am 12. September 2011 wies das Landgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück.
7. Am 14. September 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1843/11).
8. Am 25. Oktober 2011 erhob der Beschwerdeführer in Bezug auf die Zurückweisung seiner Anhörungsrüge und das Urteil des Landgerichts vom 20. Juli 2011 Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht und machte eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör geltend, wobei er zu großen Teilen den Wortlaut seiner ersten Verfassungsbeschwerde wiederholte.
9. Am 6. Dezember 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2280/11). Gleichzeitig erlegte es dem Beschwerdeführer nach § 34 Abs. 2 BVerfGG (siehe Rdnr. 13) eine Missbrauchsgebühr in Höhe von 1.000 Euro auf.
10. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer in seiner vorliegenden Beschwerde hinsichtlich des Gehörsverstoßes weitestgehend die Ausführungen aus seiner ersten Verfassungsbeschwerde wiederholt habe. Da das Gericht die erste Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen habe, hätte der Beschwerdeführer vernünftigerweise davon ausgehen können, dass eine zweite, beinahe identische Beschwerde aussichtslos sei. Das Bundesverfassungsgericht führte außerdem an, dass die Wiederholung früherer Vorbringen in einer neuen Verfassungsbeschwerde eine nicht hinnehmbare Beanspruchung der Arbeitskapazität des Gerichts darstelle.
11. Am 19. Dezember 2011 beantragte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht eine Nachprüfung seiner Entscheidung und die Aufhebung der Missbrauchsgebühr. Er brachte insbesondere vor, dass er die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf Fälle, bei denen vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde eine Anhörungsrüge einzulegen sei, falsch beurteilt habe. Da seine erste Verfassungsbeschwerde wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs unzulässig gewesen sei, habe er die zweite Verfassungsbeschwerde einlegen müssen.
12. Am 22. Dezember 2011 erwiderte die Geschäftsstelle des Bundesverfassungsgerichts über ihren Präsidialrat, dass die Entscheidung vom 6. Dezember 2011 endgültig sei und – genau wie die verhängte Gebühr – nicht mehr angefochten werden könne. Sie betonte, dass Nichtannahmeentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach einer Prüfung aller Argumente ergingen, aber gemäß § 93d Abs. 1 BVerfGG keiner Begründung bedürften. In der vorliegenden Rechtssache habe die Kammer des Bundesverfassungsgerichts die Nichtannahme der Beschwerde und die Verhängung der Missbrauchsgebühr kurz begründet.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis
13. Nach § 34 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) sind Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kostenfrei. Nach § 34 Abs. 2 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht eine Gebühr bis zu 2.600 Euro auferlegen, wenn die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde einen Missbrauch darstellt. In seiner gefestigten Rechtsprechung hat des Bundesverfassungsgericht durchweg festgestellt, dass die Einlegung einer offensichtlich unzulässigen oder unbegründeten Beschwerde als missbräuchlich anzusehen sei, wenn vernünftigerweise davon ausgegangen werden könne, dass die Beschwerde völlig aussichtslos sei, zum Beispiel wenn Verfassungsbeschwerden im Wesentlichen gleich formuliert seien oder auch nur in früheren Verfassungsbeschwerden vorgebrachte Argumente wiederholt würden (9. Juni 2004, 1 BvR 915/04; 5. Dezember 2007, 2 BvR 2332/07; 5. Oktober 2011, 2 BvR 1064/11; und 4. April 2012, 2 BvR 24/11). In diesem Zusammenhang erlegt das Bundesverfassungsgericht Rechtsanwälten, die Beschwerdeführer (oder sich selbst) vertreten, hinsichtlich der Substantiierung von Verfassungsbeschwerden und der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Erhebung von Verfassungsbeschwerden besondere Sorgfaltspflichten auf (29. Mai 1996, 2 BvR 725/96; 9. Juni 2004, 1 BvR 915/04; 19. Februar 2009, 2 BvR 194/09; 24. August 2010, 1 BvR 1584/10; und 25. Januar 2012, 1 BvR 1873/11).
14. Aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich kein Recht auf eine Vorabunterrichtung über die beabsichtigte Verhängung einer Missbrauchsgebühr ableiten, auch wenn das Gericht nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer vor der Verhängung einer Missbrauchsgebühr über den missbräuchlichen Charakter ihrer Verfassungsbeschwerden informiert hat (11. Mai 2004, 512/04 und 687/04; oder 27. Juni 2006, 1135/06; für Fälle mit anwaltlicher Vertretung siehe 4. Mai 2006, 2 BvR 398/06; oder 19. Dezember 2006, 2 BvR 2357/06). Es hat außerdem festgestellt, dass nach § 34 Abs. 2 BVerfGG erhobene Gebühren rechtlich als Gerichtsgebühren einzustufen seien, obwohl sie auch einen Strafcharakter hätten, und dass sie als angemessenes Entgelt für die durch eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts verursachten Kosten angesehen werden könnten (9. Oktober 2008, 1 BvR 1356/03; 31. Mai 2012, 2 BvR 611/12; 28. Oktober 2015, 2 BvR 740/15; 27. März 2017, 2 BvR 871/16).
RÜGEN
15. Unter Bezugnahme auf Artikel 6 Abs. 1 und Artikel 13 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass das Bundesverfassungsgericht seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, eine Missbrauchsgebühr gegen ihn verhängt und ihn nicht vorab darüber informiert und dazu angehört habe, dass es seine Beschwerde für missbräuchlich halte. Er brachte vor, dass er angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Notwendigkeit einer Anhörungsrüge eine neue Verfassungsbeschwerde habe einlegen müssen. Die unvorhersehbare und willkürliche Verhängung von Missbrauchsgebühren hänge offenbar von der Laune des Berichterstatters ab und hindere Beschwerdeführer daran, eine neue Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht oder eine Individualbeschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen. Der Beschwerdeführer berief sich auch auf Artikel 7 und 8 der Konvention und seine Berufsfreiheit.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
16. Der Beschwerdeführer rügte, dass er in seinen Konventionsrechten verletzt worden sei, da das Bundesverfassungsgericht bei der Ablehnung seiner Verfassungsbeschwerde eine Missbrauchsgebühr gegen ihn verhängt habe. Er berief sich in erster Linie auf Artikel 6 (Zugang und Unfairness) und 13 der Konvention, jedoch auch auf Artikel 7 und 8 (Privatleben) und seine Berufsfreiheit.
17. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Rügen des Beschwerdeführers eine Frage bezüglich seines Rechts auf Zugang zu einem Gericht und seines Rechts auf ein faires Verfahren aufwerfen (M. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 4041/06, 13. Oktober 2009) und daher nach Artikel 6 der Konvention zu prüfen sind, der, soweit in der vorliegenden Rechtssache maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird. […]“
18. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass der Zugang einer Person zu einem „Gericht“ verschiedenen, auch finanziellen Einschränkungen unterliegen kann. Insbesondere verfolgt die Verhängung von Geldbußen, mit denen verhindert werden soll, dass sich Antragsteller ohne wirkliche Notwendigkeit oder in missbräuchlicher Art und Weise an ein Gericht wenden, das legitime Ziel einer geordneten Rechtspflege und steht an sich nicht im Widerspruch zu Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, es sei denn, die entsprechende Entscheidung selbst ist willkürlich oder die verhängte Gebühr ist so hoch, dass sie ein wirkliches, den Zugang zu einem Gericht beschränkendes Hindernis darstellt (siehe Maillard ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 35009/02, Rdnr. 35, 6. Dezember 2005; Toykasi u. a. ./. Türkei (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 43569/08 u. a., 20. Oktober 2010; und Krikorian ./. Frankreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 6459/07, Rdnr. 103, 26. November 2013).
19. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass eine vom Bundesverfassungsgericht verhängte Missbrauchsgebühr keine im Anfangsstadium des Verfahrens erhobene Gerichtsgebühr darstellt (vgl. Jedamski und Jedamska ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 73547/01, Rdnr. 66, 26. Juli 2005). Das Bundesverfassungsgericht hat das verfassungsgerichtliche Verfahren unabhängig von der Zahlung irgendwelcher Gebühren geführt (siehe M., a. a. O., sowie im Gegensatz dazu Kreuz ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 28249/95, Rdnr. 66, ECHR 2001‑VI) und der Beschwerdeführer hat eine endgültige Entscheidung des Verfassungsgerichts erwirkt, das die Verfassungsbeschwerde unter Angabe der Gründe für seine Feststellung, dass die Verfolgung der Beschwerde einen Missbrauch darstelle, nicht zur Entscheidung annahm.
20. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass es sich bei dem Beschwerdeführer um einen praktizierenden Rechtsanwalt handelte, dem die gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf Missbrauchsgebühren und seine besondere Sorgfaltspflicht als Rechtsanwalt daher hätte bekannt sein müssen (siehe Rdnr. 13). Soweit der Beschwerdeführer geltend gemacht hat, das Bundesverfassungsgericht habe zu Unrecht festgestellt, dass er lediglich seine frühere Verfassungsbeschwerde wiederholt habe, und nicht berücksichtigt, dass er eine neue Verfassungsbeschwerde habe einlegen müssen, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, zu beurteilen, ob die vom Beschwerdeführer erhobene Verfassungsbeschwerde missbräuchlich war oder nicht (vgl. Maillard, a. a. O., Rdnr. 36). Was den Umstand angeht, dass das Bundesverfassungsgericht die Missbrauchsgebühr ohne vorherige Unterrichtung des Beschwerdeführers verhängt hat, stellt der Gerichtshof fest, dass § 34 Abs. 2 BVerfGG lediglich vorsieht, dass das Bundesverfassungsgericht eine Gebühr bis zu 2.600 Euro auferlegen kann, wenn die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde einen Missbrauch darstellt. Die verfahrensrechtlichen Anforderungen an eine solche Entscheidung sind nicht aufgeführt. Darüber hinaus deutet nichts darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht Rechtsanwälte, die Beschwerdeführer oder sich selbst vertreten, grundsätzlich unterrichtet, wenn deren Beschwerde als missbräuchlich eingestuft zu werden droht (siehe Rdnr. 14). Angesichts der besonderen Art der verhängten Gebühr, die der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge trotz ihres Strafcharakters ein angemessenes Entgelt für die durch eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts verursachten Kosten darstellt (ebenda), und deren engem Zusammenhang mit dem gesamten verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. Poilly ./. Frankreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 68155/01, 15. Oktober 2002) kann der Gerichtshof nicht zu dem Schluss gelangen, dass das Verfahren willkürlich oder unfair gewesen wäre.
21. Schließlich kann angesichts der Höhe der verhängten Gebühr nicht behauptet werden, dass diese den Gerichtszugang des Beschwerdeführers soweit verringert oder eingeschränkt hätte, dass sein Recht in seinem Kerngehalt beeinträchtigt worden wäre oder künftig beeinträchtigt werden würde (vgl. Poilly, Maillard, Rdnr. 37 und Krikorian, Rdnr. 104, alle a. a. O.).
22. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die Rügen des Beschwerdeführers offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und 4 der Konvention zurückzuweisen sind.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 9. November 2017.
Anne-Marie Dougin André Potocki
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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