EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE D. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 35030/13)
URTEIL
STRASSBURG
19. Oktober 2017
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache D. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Nona Tsotsoria,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni
und Mārtiņš Mits
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
nach nicht öffentlicher Beratung am 26. September 2017
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 35030/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutsches Unternehmen, D. („die Beschwerdeführerin“) am 29. Mai 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Die Beschwerdeführerin wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in M., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Die Beschwerdeführerin berief sich auf Artikel 10 der Konvention und behauptete, dass sie durch die Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 10.000 Euro wegen einer Veröffentlichung in ihrem Recht auf Meinungsfreiheit verletzt worden sei.
4. Am 21. März 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DER GEGENSTAND DER RECHTSSACHE
5. Die Beschwerdeführerin wurde verurteilt, eine Entschädigung in Höhe von 10.000 Euro an eine Person zu zahlen, die in einem von ihr verlegten Buch als mutmaßliches Mafiamitglied bezeichnet worden war. Das innerstaatliche Gericht war der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin, die die angegriffene Passage aus dem Buch u. a. auf einen internen Bericht des Bundeskriminalamts (BKA) gestützt habe, ihrer Pflicht zur sorgfältigen Recherche nicht nachgekommen sei und in schwerwiegender Weise in das Persönlichkeitsrecht der betreffenden Person eingegriffen habe.
II. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
6. Die Beschwerdeführerin ist eine bekannte deutsche Verlagsgesellschaft mit Sitz in M. Im Jahr 2015 zählte sie zu den zehn umsatzstärksten Verlagsunternehmen in Deutschland.
7. Im September 2008 veröffentlichte die Beschwerdeführerin ein Buch der aufgrund ihrer mafiakritischen Publikationen international renommierten Autorin R. mit dem Titel „M.“. Das Buch erfuhr mehrere Auflagen und wurde auch in Italien herausgebracht. In dem Buch werden auf 352 Seiten die Verbindungen der Mafia nach Deutschland, ihre internen Strukturen und ihre zahlreichen Betätigungsfelder behandelt. In dem Buch wird auch auf einen Vorfall eingegangen, der sich 2007 in D. ereignete und bei dem sechs Personen italienischer Staatsangehörigkeit vor dem italienischen Restaurant durch 56 Kugeln getötet wurden. Es wurde angenommen, dass diese Morde die Zuspitzung einer 1991 in Italien begonnenen Vendetta zwischen zwei Familien waren. Der Vorfall wurde von den nationalen und internationalen Medien aufgegriffen.
A. Die in Rede stehende Veröffentlichung
8. In dem Buch wird auf den Seiten 157 und 158 unter Nennung seines vollen Namens auf S. P., einen in Deutschland wohnhaften italienischen Staatsangehörigen, Bezug genommen. Die maßgeblichen Passagen lauten wie folgt (Abkürzung der Namen und Hervorhebungen durch den Gerichtshof):
„[…] Die Staatsanwaltschaft Stuttgart ermittelte wegen Drogenhandels und Geldwäsche gegen den Kalabresen [L.] – der versucht haben soll, mit seinen Geldern den Wahlkampf von [O.] zu unterstützen. Es sollte nicht die einzige Beziehung zwischen einem mutmaßlichen ‘Ndranghetista und einem deutschen Politiker sein: In E. machte der Kalabrier [S. P.] von sich reden, der bereits im Jahr 2000 in einem BKA-Bericht erwähnt wurde. [S. P.] betrieb in E. das Restaurant »[Pa]«: ein Restaurant mit 400 Plätzen, kein schlechter Aufstieg für jemanden wie [S. P.], der laut Aussagen von Ermittlern einst als Pizzabäcker in der Pizzeria angefangen hat. Beziehungen können eben hilfreich sein, auch wenn die Pizzeria seit dem Massaker nicht mehr unbedingt die beste Empfehlung ist. Auf jeden Fall pflegte [S. P.] auch in E. seine Beziehungen, indem er den Golfclub großzügig förderte. Als die Polizei wegen [S. P.]s mutmaßlicher Beteiligung an einem Mord eine Hausdurchsuchung im Restaurant »[Pa]« machte, traf sie dort auf den damaligen thüringischen Ministerpräsidenten B. V. und seinen Innenminister R. D. – beide hätten sich durch Zufall dort aufgehalten, beteuerte [S. P.]. Der im Übrigen ohnehin über exzellente Beziehungen zur Polizei verfügte: Bei einer weiteren Durchsuchung hatte die Polizei bei ihm einen Ausweis für eine Interpol-Konferenz in Rom gefunden, der ihn als Übersetzer für die usbekische Delegation auswies. Der Ausweis sei vom saarländischen Innenminister ausgestellt worden. […]“
9. Bezüglich der mutmaßlichen ‘Ndrangheta-Mitgliedschaft S. P.s berief sich die Beschwerdeführerin u. a. auf BKA-Berichte aus den Jahren 2000 und 2008. Diese beiden Berichte waren nicht öffentlich gemacht worden.
10. Die entsprechende Passage in dem Bericht aus dem Jahr 2000 lautet:
„Wenn man nämlich das enorme Ansehen und die Wertschätzung berücksichtigt, die [S. P.] in den italienischen Kreisen genießt, ist man der Ansicht, dass [S. P.] de facto ein vollwertiger Angehöriger des ‘Ndrangheta-Clans ist.“
11. Die entsprechenden Stellen in dem Bericht aus dem Jahr 2008 lauten:
„Laut den italienischen Kollegen aus Reggio Calabria und Blanco könnte diese Verbindung dazu beigetragen haben, dass [S. P.] ein Mitglied des Clans ROMEO, alias `Staccu´, geworden ist. Denn, aufgrund des hohen Ansehens, welches [S. P.] in der `Italienerszene´ genießt, muss er ein vollwertiges Mitglied der ‘Ndrangheta sein.
[…]
Direkte Verwandte der Clans leben in Deutschland und betreiben Pizzerien. Als Hauptstützpunkte sind die Städte D., E. und L. anzusehen. Diese Stützpunkte werden von [A. M.], [D. G.] und [S. P.] geleitet, wobei [D. G.] die Funktion sog. `capo locale´ ausübt.
[…]
Für die Investitionen [der] Rauschgiftgelder könnten [D. G.] und [S. P.] zuständig sein. Diese Theorie wird durch die hohe Anzahl von sehr guten Restaurants und durch Aussagen verschiedener Quellen, dass [S. P.] Geldgeber für mehrere Restaurants sei und auch in Dresden und Umgebung Immobilien erworben haben soll, bestätigt.“
12. S. P.s Name war bereits 1997 im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität gefallen. Er war in einem Fernsehbericht zur ‘Ndrangheta in Thüringen interviewt worden und hatte jegliche Mitgliedschaft oder Verbindung zur ‘Ndrangheta von sich gewiesen.
B. Das einstweilige Verfügungsverfahren
13. Nach der Veröffentlichung des Buches beantragte S. P. einen gerichtlichen Unterlassungstitel gegen die Verbreitung der in dem obigen Auszug aus dem Buch hervorgehobenen Passagen (siehe Rdnr. 8). Am 13. November 2008 erließ das Landgericht M. die beantragte einstweilige Verfügung und bestätigte diese am 15. Dezember 2008 nach Anhörung beider Parteien. Es stellte fest, dass an der Berichterstattung über die organisierte Kriminalität zwar ein Interesse der Öffentlichkeit bestehe, dass die Autorin aber ihre journalistische Sorgfaltspflicht verletzt habe. Die internen BKA-Berichte seien eine unzulängliche Quelle für die in dem Buch aufgestellten Behauptungen, da sie nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen seien. Die Ermittlungsbehörden seien selbst bisher nicht zu dem Ergebnis gekommen, dass gegen den Kläger ein hinreichender Tatverdacht bestehe. Zudem müsse man bei der Berichterstattung über einen Verdacht auch die für den Betroffenen entlastenden Umstände mitteilen. Folglich hätte in dem Buch auch erwähnt werden müssen, dass die Ermittlungsbehörden keine für eine Anklageerhebung oder gar Verurteilung ausreichenden Anhaltspunkte festgestellt hätten und dass die Ermittlungen gegen den Kläger in der Tat nicht zu einer Anklageerhebung oder Verurteilung geführt hätten. Zudem werde aus der Buchveröffentlichung nicht deutlich, dass die Pizzeria, in der die Morde begangen worden waren, nicht mit der Pizzeria gleichen Namens identisch gewesen sei, in der der Kläger viele Jahre vor den Mordtaten als Pizzabäcker tätig gewesen sei. Und schließlich sei die Veröffentlichung des Buches rechtswidrig erfolgt, weil der Kläger keine Gelegenheit erhalten habe, sich vor der Veröffentlichung zu dem Verdacht zu äußern.
14. Am 7. April 2009 wies das Oberlandesgericht K. die Berufung der Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Landgerichts vom 15. Dezember 2008 zurück. Es stellte fest, dass in dem Buch der schwerwiegende Vorwurf erhoben werde, der Kläger sei Mitglied einer Verbrecherorganisation, wodurch erheblich in sein Persönlichkeitsrecht eingegriffen werde. Der Abschnitt des Buches, in dem es um den Kläger gehe, lasse für den Durchschnittsleser nicht erkennen, dass eine Mitgliedschaft des Klägers in der kriminellen Vereinigung ‘Ndrangheta nur vage vermutet werden könne. Vielmehr entstehe durch das Zusammenspiel der vielen Einzelaussagen in dem Buch der Eindruck, dass ein sehr starker Verdacht einer Mitgliedschaft des Klägers in der ‘Ndrangheta bestehe. Die von der Autorin recherchierten und von der Beschwerdeführerin veröffentlichten Belegtatsachen stellten jedoch keinen ausreichend Beweis für den von dem Buch vermittelten außerordentlich schwerwiegenden Verdacht dar. Selbst in dem internen BKA-Bericht seien nur einige vage Verdachtsmomente zusammengetragen worden, größtenteils ohne Einzelheiten oder konkrete Quellen zu benennen. So heiße es beispielsweise, dass der Kläger aufgrund des hohen Ansehens, das er in der „Italienerszene“ genieße, ein vollwertiges Mitglied der ‘Ndrangheta sein müsse. Aus den internen Berichten lasse sich nur ablesen, dass aufgrund einiger der zusammengetragenen und teilweise nicht gesicherten Informationen bestimmte Zusammenhänge vermutet worden seien. Dies erscheine nicht als ausreichende Grundlage für die öffentliche Brandmarkung des Klägers als mutmaßlicher ‘Ndranghetista. Überdies seien bestimmte Aussagen in dem Buch, beispielsweise hinsichtlich der Region, in der der Beschwerdeführer geboren worden sei, nicht korrekt. Andere Aussagen seien unvollständig, da das Ermittlungsverfahren, im Rahmen dessen das Restaurant des Klägers von der Polizei durchsucht worden sei, eingestellt worden sei. Diesbezüglich würden in dem Buch keine entlastenden Umstände erwähnt. Autoren müssten zwar nicht den Ausgang eines Ermittlungsverfahrens abwarten, bevor sie über den entsprechenden Verdacht berichten dürften, wenn sich allerdings eine Verdachtsberichterstattung auf Ermittlungen stütze, die bereits sechs oder sieben Jahre zurücklägen, könnten die Autoren nicht unberücksichtigt lassen, dass das Ermittlungsverfahren ohne Anklage zu Ende gegangen sei.
C. Hauptsacheverfahren
15. Im Hauptsacheverfahren beantragte S. P. über die Aufrechterhaltung der einstweiligen Verfügung hinaus ferner eine Entschädigung in Höhe von 20.000 Euro.
16. Mit Urteil vom 22. Juni 2011 erhielt das Landgericht M. die Unterlassungsverfügung aufrecht, wies jedoch den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Entschädigung ab. Das Landgericht verwies auf die Erwägungen aus seiner Entscheidung vom 15. Dezember 2015 und die Argumente des Oberlandesgerichts in dessen Entscheidung vom 7. April 2009 (siehe Rdnrn. 13-14). Ferner wies das Gericht erneut darauf hin, dass die Autorin die Tatsachengrundlage für den Verdacht einer Mitgliedschaft des Klägers in der ‘Ndrangheta nicht ausreichend recherchiert habe, da sämtliche Quellen lediglich vage Verdachtsmomente gegen den Kläger enthielten. Außerdem habe es die Autorin an der „unbedingt erforderlichen“ Darstellung entlastender Umstände fehlen lassen. Und schließlich sei die Berichterstattung rechtswidrig, da die Autorin dem Kläger vor der Veröffentlichung keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben habe.
17. Das Landgericht wies den Schadensersatzantrag des Klägers als unbegründet ab. Es führte aus, dass die Beschwerdeführerin zwar die zulässigen Grenzen der Verdachtsberichterstattung überschritten und ihre journalistische Sorgfaltspflicht verletzt habe, allerdings nicht in gravierender Art und Weise. Folglich reiche ein Unterlassungsanspruch hinsichtlich der angegriffenen Behauptungen aus und ein Ausgleich in Geld sei nicht erforderlich.
18. In dem Verfahren vor dem Landgericht erbot sich die Beschwerdeführerin, bestimmte Beweise für den in dem Buch veröffentlichten Verdacht vorzulegen. Insbesondere bot sie an, Zeugen zu benennen, die die Äußerungen aus dem internen BKA-Bericht sowie den Verdacht aus dem Buch angeblich bestätigen könnten. Das Landgericht lehnte die Vernehmung der Zeugen ab, da es davon ausging, dass diese nicht in der Lage sein würden, hinsichtlich der behaupteten Mitgliedschaft auszusagen, und da die Beschwerdeführerin keine konkreten Tatsachen benannt habe, welche die Zeugen bekunden können sollten.
19. Die Beschwerdeführerin legte keine Berufung gegen das Urteil des Landgerichts ein. Der Kläger allerdings legte Berufung gegen die Abweisung seiner Klage auf Zahlung einer Entschädigung ein. Folglich erwuchs das Urteil hinsichtlich der Unterlassungsverfügung in Rechtskraft.
20. Am 29. November 2011 verurteilte das Oberlandesgericht M. die Beschwerdeführerin zusätzlich zu der Unterlassungsverfügung unter Abweisung der weitergehenden Schadensersatzklage des Klägers zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 10.000 Euro. Es führte aus, dass ein Anspruch auf Geldentschädigung eine schwere und nicht anders ausgleichbare Verletzung des Persönlichkeitsrechts voraussetze. Diese Voraussetzung sei im Fall des Klägers gegeben. Hinsichtlich der Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Klägers schloss sich das Oberlandesgericht der Begründung des Landgerichts an. Es hielt der Beschwerdeführerin ausdrücklich zugute, dass ein überragendes öffentliches Interesse an Informationen über kriminelle Organisationen bestehe und „die Motivlage der Autorin und der Beklagten [hier: der Beschwerdeführerin], die Öffentlichkeit auf die Aktivitäten der ‘Ndrangheta in Deutschland hinzuweisen, anerkennenswert und redlich“ sei. Das Oberlandesgericht führte jedoch weiter aus, dass auch ein erhebliches Verschulden der Beschwerdeführerin vorliege. Es sei grob fahrlässig von der Beschwerdeführerin gewesen, eine auf einem Verdacht gründende, erheblich in das Persönlichkeitsrecht des Klägers eingreifende Behauptung zu verbreiten, obwohl es erkennbar an der erforderlichen Anhörung des Klägers gefehlt habe und die Behauptung ohne die erforderliche Mitteilung verbreitet worden sei, dass das in dem Buch angesprochene Ermittlungsverfahren wegen Mordes später eingestellt wurde. Der Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit entfalle auch nicht deshalb, weil die Beschwerdeführerin ein Thema von großem öffentlichen Interesse behandelt habe. Die Beschwerdeführerin hätte erkennen müssen, dass die über den Kläger zusammengetragenen Informationen ungesichert gewesen seien und es an ausreichenden Belegtatsachen zur Untermauerung der in dem Buch aufgestellten Behauptungen gefehlt habe. Die Beschwerdeführerin könne nicht einwenden, sie habe nicht schuldhaft gehandelt, weil sie ihre Veröffentlichung auf Informationen einer staatlichen Behörde gestützt habe. Diesen Grundsatz habe die Rechtsprechung für amtliche Pressemitteilungen deutscher Behörden entwickelt. Die Autorin habe sich jedoch lediglich auf interne Analysen des BKA und Auswertungsberichte sowie Schriftstücke des zwischenbehördlichen Verkehrs der italienischen Behörden gestützt.
21. Das Oberlandesgericht führte ferner aus, dass der Unterlassungstitel keinen befriedigenden Ausgleich für den Kläger darstelle, da er kein geeignetes Mittel zum Erreichen der Leser des bereits veröffentlichten Buches sei. Folglich sei eine Geldentschädigung angebracht. Das Gericht befand, dass eine Entschädigung in Höhe von 10.000 Euro statt der vom Kläger geforderten 20.000 Euro angemessen und ausreichend sei.
22. Mit Beschluss vom 28. März 2012 wies das Oberlandesgericht M. die von der Beschwerdeführerin eingelegte Gehörsrüge als unbegründet zurück.
23. Am 19. November 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die von der Beschwerdeführerin eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 82/12).
III. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Das Grundgesetz (GG)
24. Die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes lauten, soweit maßgeblich:
Art. 1 GG
„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. […]“
Art. 2 GG
„(1) Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. […]“
Art. 5 GG
„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. […]“
B. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und die einschlägige Praxis
25. Nach § 823 Abs. 1 BGB ist jeder, der vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
26. Das Persönlichkeitsrecht genießt den Schutz der Artikel 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG und ist deshalb als „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt (Bundesgerichtshof, Urteil vom 25. Mai 1954, I ZR 211/53).
27. Der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 11. Dezember 2012, VI ZR 314/10) und des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 9. März 2010, 1 BvR 1891/05) zufolge können bei der Bewertung des Wahrheitsgehalts von Tatsachenbehauptungen amtliche Verlautbarungen von Behörden als sogenannte „privilegierte Quellen“ gelten, denen gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden darf. Behörden sind in ihrer Informationspolitik an die Grundrechte der Betroffenen und an Objektivität gebunden. Folglich haben sie vor der Informationsveröffentlichung eine Abwägung zwischen dem Recht der Person auf Schutz ihres Privatlebens und dem Informationsrecht der Öffentlichkeit vorzunehmen. Da es sich bei einem als „geheim“ eingestuften Bericht nicht um eine für die Öffentlichkeit bestimmte Verlautbarung handelt, kann dieser nicht als privilegierte Quelle gelten (BGH-Urteil vom 17. Dezember 2013, VI ZR 211/12).
28. Ferner setzt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zufolge ein Anspruch auf Geldentschädigung eine schwere und nicht anders ausgleichbare Verletzung des Persönlichkeitsrechts voraus. Die Schwere der Verletzung bemisst sich nach der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs sowie nach dem Anlass und dem Beweggrund des Handelnden und nach dem Grad seines Verschuldens. Die genaue Höhe der Entschädigung ist von einem Richter als Beurteiler des jeweiligen Sachverhalts festzusetzen. In einem mit der hier vorliegenden Rechtssache vergleichbaren Fall hatten die innerstaatlichen Gerichte dem Kläger 30.000 DM (etwa 15.339 EUR) zugesprochen (siehe BGH-Urteil vom 30. Januar 1996, VI ZR 386/94).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION
29. Die Beschwerdeführerin rügte, dass sie durch das Urteil des Oberlandesgerichts vom 29. November 2011, mit dem sie zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 10.000 EUR an S. P. verurteilt worden war, in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt worden sei; dieser lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, […].“
30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
31. Die Regierung trug vor, dass die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft habe, da sie in ihrer Verfassungsbeschwerde keine Einwände gegen die vom Oberlandesgericht vertretene Auffassung vorgebracht habe, dass die Autorin den in den amtlichen Dokumenten geäußerten Verdacht unter Weglassung entlastender Umstände übertrieben dargestellt habe. Gleiches machte die Regierung im Hinblick auf die Rüge der Beschwerdeführerin geltend, das Oberlandesgericht habe die Vernehmung von Zeugen verweigert, die den im Buch veröffentlichten Verdacht hätten bestätigen können. Die Beschwerdeführerin wies diese Argumente zurück und trug vor, dass die Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Privatleben eine Gesamtwürdigung erfordere. Folglich sei es weder möglich noch erforderlich, bestimmte Argumentationslinien isoliert anzugreifen.
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen den Parteien unstreitig ist, dass sich die Beschwerdeführerin vor dem Verfassungsgericht auf ihre Meinungsfreiheit berufen und sich gegen das Urteil des Oberlandesgerichts und die in dessen Begründung vorgenommene Abwägung gewandt hat. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin dem Verfassungsgericht die Möglichkeit gegeben hat, die Abwägung des Oberlandesgerichts zwischen der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin und S. P.s Persönlichkeitsrecht einer Prüfung zu unterziehen. Folglich hat es die Beschwerdeführerin nicht versäumt, den innerstaatlichen Rechtsweg zu erschöpfen.
33. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Individualbeschwerde weder nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
34. Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass die Zuerkennung einer Entschädigung in Höhe von 10.000 EUR an S. P. in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen sei, da die Autorin und damit die Beschwerdeführerin selbst die in Rede stehende Passage auf amtliche Berichte gestützt und ihre journalistische Sorgfaltspflicht somit erfüllt habe. Der streitgegenständliche Teil des Buches bringe insbesondere zum Ausdruck, dass der Verdacht bestanden habe, S. P. gehöre der ‘Ndrangheta an. Es habe ausreichende verlässliche Quellen für diesen Verdacht gegeben, unter anderem amtliche Berichte des BKA, die in dem Buch als Quelle kenntlich gemacht worden seien. Da diese Berichte aus einer amtlichen und glaubwürdigen Quelle gestammt hätten, sei es gerechtfertigt gewesen, dass die Autorin davon abgesehen habe, diese Informationen weiter zu untermauern. Das Oberlandesgericht habe auch außer Acht gelassen, dass die Autorin mehrere Jahre lang im Mafiabereich recherchiert und eine Vielzahl von Staatsanwälten, kriminalpolizeilichen Ermittlern und anderen Insidern befragt habe, und auch, dass das Gericht die Vernehmung der von der Beschwerdeführerin angebotenen Zeugen abgelehnt habe. Außerdem habe für die Beschwerdeführerin keine Verpflichtung bestanden, S. P. Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, da er seine mutmaßliche Mitgliedschaft bereits 1997, als für einen Fernsehbericht interviewt wurde, bestritten habe. Die bloße Tatsache, dass S. P. fälschlicherweise als Kalabrier bezeichnet worden sei, habe keine derartig schwerwiegende Verletzung seines Persönlichkeitsrechts dargestellt, dass die ihm zugesprochene Entschädigung gerechtfertigt wäre.
35. Die Regierung brachte vor, dass die innerstaatlichen Gerichte, insbesondere das Oberlandesgericht, die kollidierenden Rechte im Einklang mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Kriterien gegeneinander abgewogen hätten. Das Oberlandesgericht habe sich innerhalb des Ermessensspielraums bewegt, den der Gerichtshof den Mitgliedstaaten zugestehe, und es gebe keine gewichtigen Gründe dafür, die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte zu ersetzen. Die Regierung hob bestimmte Passagen aus der Begründung des Oberlandesgerichts hervor und machte geltend, dass die Verletzung nicht deswegen festgestellt worden sei, weil die Autorin und die Beschwerdeführerin ohne weitergehende Nachforschungen auf einen internen amtlichen Bericht vertraut hätten, sondern weil sie über den in dem Bericht erwähnten Verdacht hinausgehend nahegelegt hätten, dass S. P. mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Mitglied der ‘Ndrangheta sei. Überdies hätten sie weder wörtlich aus dem internen BKA-Bericht zitiert noch eindeutig kenntlich gemacht, welche Informationen aus dem Bericht stammten. Außerdem enthalte das Buch falsche und irreführende Informationen zur Untermauerung dieses Verdachts. Die Beschwerdeführerin habe es unterlassen, Informationen wiederzugeben, die S. P. entlastet und den von dem Buch vermittelten Verdachtsgrad herabgesetzt hätten. Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte habe das Oberlandesgericht S. P. zulässigerweise eine Entschädigung zugesprochen. Der Betrag in Höhe von 10.000 Euro sei angemessen gewesen, da es sich um eine schwerwiegende Verletzung von S. P.s Persönlichkeitsrecht gehandelt habe und keine andere wirksame Alternative, wie etwa der Abdruck eines Widerrufs, zur Verfügung gestanden habe, um den in dem Sachbuch veröffentlichten irreführenden Informationen entgegenzutreten.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
36. Der Gerichtshof merkt einleitend an, dass zwischen den Parteien nicht streitig ist, dass die Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung darstellte und dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen war. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass der Eingriff ein rechtmäßiges Ziel verfolgte, nämlich den „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“. Daher ist der Gerichtshof der Ansicht, dass in der vorliegenden Rechtssache eine Prüfung der Frage geboten ist, ob zwischen der nach Artikel 10 der Konvention garantierten Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin und dem Recht von S. P. auf Schutz des Privatlebens und des guten Rufes nach Artikel 8 ein gerechter Ausgleich herbeigeführt wurde.
a) Allgemeine Grundsätze
37. Der Gerichtshof war bereits zahlreiche Male mit ähnlichen Rechtsstreitigkeiten befasst, bei denen die Herstellung eines gerechten Ausgleichs zu prüfen war, und verweist auf die in seiner Rechtsprechung festgelegten allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der beiden in Rede stehenden Rechte (siehe Couderc und Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnrn. 83 bis 92, 10. November 2015; S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnrn. 78 bis 88, 7. Februar 2012; und H. ./. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnrn. 95 bis 107, ECHR 2012). Diese Grundsätze gelten auch für Buchveröffentlichungen, sofern sie Angelegenheiten des öffentlichen Interesses betreffen (siehe Editions Plon ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 58148/00, Rdnr. 43, ECHR 2004‑IV).
38. In Fällen wie dem vorliegenden, bei denen die nationalen Behörden einen Ausgleich zwischen zwei widerstreitenden Interessen herzustellen hatten, haben die Konventionsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum. Dieser Spielraum geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen Überwachung, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, die sie anwenden, auch wenn sie von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Bei der Ausübung seiner Überwachungsfunktion hat der Gerichtshof nicht die Aufgabe, an die Stelle der nationalen Gerichte zu treten; vielmehr überprüft er im Lichte eines Falles in seiner Gesamtheit, ob die von diesen im Rahmen ihres Ermessensspielraums getroffenen Entscheidungen mit den herangezogenen Bestimmungen der Konvention vereinbar sind. Wenn die Abwägung zwischen zwei kollidierenden Rechten von den nationalen Behörden in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen wurde, bedürfte es für den Gerichtshof gewichtiger Gründe, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (siehe Couderc und Hachette Filipacchi Associés, a. a. O., Rdnrn. 90 bis 92; und H. (Nr. 2), a. a. O., Rdnrn. 104 bis 107).
39. Im Zusammenhang mit der Abwägung zwischen kollidierenden Rechten hat der Gerichtshof – soweit für den vorliegenden Fall relevant – folgende Kriterien bestimmt: Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse, Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, Gegenstand des Nachrichtenbeitrags, Art und Weise der Beschaffung der Informationen und deren Wahrheitsgehalt, früheres Verhalten der betreffenden Person sowie Inhalt, Form und Auswirkungen der Veröffentlichung und Schwere der verhängten Sanktion (siehe Couderc und Hachette Filipacchi Associés, Rdnr. 93; S., Rdnrn. 90 bis 95; und H. (Nr. 2), Rdnrn. 109 bis 13, alle a. a. O.).
b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
i) Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse
40. Ein erstes entscheidendes Kriterium ist der Beitrag, den Artikel in der Presse zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leisten. Der Gerichtshof hat das Vorhandensein eines solchen Interesses bereits in Fällen anerkannt, in denen die Veröffentlichung politische Fragen oder Straftaten betraf (siehe S., a. a. O., Rdnr. 90, mit weiteren Verweisen).
41. Die innerstaatlichen Gerichte hatten festgestellt, dass ein überragendes öffentliches Interesse an Informationen über kriminelle Organisationen bestehe, und das Oberlandesgericht hatte sogar ausgeführt, dass das Bestreben, „die Öffentlichkeit auf die Aktivitäten der ‘Ndrangheta in Deutschland hinzuweisen, anerkennenswert und redlich“ sei. Der Gerichtshof schließt sich der Auffassung an, dass das Buch zu einer Debatte von öffentlichem Interesse beigetragen hat.
ii) Wie bekannt ist die betroffene Person und was ist das Thema der Berichterstattung?
42. Die Rolle oder Funktion der betroffenen Person stellt ein weiteres, mit dem vorhergehenden korrelierendes Kriterium dar. Es muss zwischen Privatpersonen und Personen, die im öffentlichen Kontext agieren, wie Politikern oder Personen des öffentlichen Lebens, unterschieden werden. Dementsprechend kann zwar eine der Öffentlichkeit unbekannte Privatperson einen besonderen Schutz ihres Rechts auf Privatleben verlangen, eine Person des öffentlichen Lebens jedoch nicht (siehe Petrenco ./. Moldau, Individualbeschwerde Nr. 20928/05, Rdnr. 55, 30. März 2010).
43. Die innerstaatlichen Gerichte sind auf diese Problematik nicht ausdrücklich eingegangen; es wurde lediglich erwähnt, dass S. P. Restaurantbesitzer sei. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass S. P. als Privatperson einen besonderen Schutz verlangen durfte.
iii) Art und Weise der Beschaffung von Informationen und deren Wahrheitsgehalt
44. Was die Art und Weise der Beschaffung von Informationen und deren Wahrheitsgehalt angeht, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Artikel 10 der Konvention keine gänzlich unbeschränkte Freiheit der Meinungsäußerung gewährleistet, auch nicht im Hinblick auf die Medienberichterstattung über Angelegenheiten, die von ernsthaftem öffentlichem Interesse sind. Nach Artikel 10 Abs. 2 bringt die freie Meinungsäußerung „Pflichten und Verantwortung“ mit sich, die selbst bei Angelegenheiten von ernsthaftem öffentlichem Interesse auch für die Medien gelten. Aufgrund dieser „Pflichten und Verantwortung“ unterliegt der Schutz, den Artikel 10 Journalisten in Bezug auf die Berichterstattung über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse gewährt, dem Vorbehalt, dass sie in gutem Glauben und mit dem Ziel handeln, im Einklang mit der journalistischen Berufsethik korrekte und zuverlässige Informationen zu vermitteln (siehe z. B. Fressoz und Roire ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 29183/95, Rdnr. 54, ECHR 1999-I; und Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 78, ECHR 2004-XI).
45. Darüber hinaus können diese „Pflichten und Verantwortung“ dann zum Tragen kommen, wenn ein Angriff auf den guten Ruf einer namentlich genannten Person oder eine Verletzung der „Rechte anderer“ im Raum steht. Daher bedarf es spezieller Gründe, damit Medien von ihrer allgemeinen Verpflichtung zur Prüfung von Tatsachenbehauptungen, die Privatpersonen diffamieren, entbunden werden können. Ob solche Gründe existieren, hängt insbesondere von der Art und dem Grad der in Rede stehenden Diffamierung und davon ab, inwieweit die Medien ihre Quellen für die Behauptungen berechtigterweise als zuverlässig ansehen können (siehe Pedersen und Baadsgaard, a. a. O., Rdnr. 78). Die zuletzt genannte Frage muss im Lichte dessen geklärt werden, wie sich die Situation der Zeitung zur maßgeblichen Zeit dargestellt hat (siehe Bladet Tromsø und Stensaas ./. Norwegen [GK], Individualbeschwerde Nr. 21980/93, Rdnr. 66, ECHR 1999-III; und Yordanova und Toshev ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 5126/05, Rdnr. 50, 2. Oktober 2012) und verlangt wiederum die Berücksichtigung weiterer Elemente; hierzu gehört beispielsweise die Autorität der Quelle, die Frage, ob die Zeitung vor der Veröffentlichung in angemessenem Umfang recherchiert hat (siehe Prager und Oberschlick ./. Österreich, 26. April 1995, Rdnr. 37, Reihe A Band 313), die Frage, ob sie den diffamierten Personen Gelegenheit zur Verteidigung gegeben hat (siehe Bergens Tidende u. a. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 26132/95, Rdnr. 58, ECHR 2000‑IV; Flux ./. Moldau (Nr. 6), Individualbeschwerde Nr. 22824/04, Rdnr. 29, 29. Juli 2008; und Europapress Holding d. o. o. ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 25333/06, Rdnr. 67, 22. Oktober 2009) und die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit (siehe Yordanova und Toshev, a. a. O., Rdnr. 49). Bezüglich des letzten Punktes hat der Gerichtshof betont, dass, was die Presse anbelangt, Nachrichten ein vergängliches Gut sind und eine Verzögerung ihrer Veröffentlichung, auch nur für kurze Zeit, sie durchaus vollständig ihres Wertes und Interesses berauben kann (siehe Observer und Guardian ./. das Vereinigte Königreich, 26. November 1991, Rdnr. 60, Reihe A Band 216; und The Sunday Times ./. das Vereinigte Königreich (Nr. 2), 26. November 1991, Rdnr. 51, Reihe A Band 217).
46. Der Gerichtshof hat in einer früheren Entscheidung festgestellt, dass die Presse sich bei Beiträgen zur öffentlichen Debatte über berechtigte Anliegen normalerweise auf amtliche Berichte (siehe Bladet Tromsø und Stensaas, a. a. O., Rdnr. 68) oder auf Informationen der Pressesprecher von Staatsanwaltschaften verlassen darf (siehe S., a. a. O., Rdnr. 105), ohne unabhängige Nachforschungen anstellen zu müssen. Der Gerichtshof hat allerdings auch betont, wie wichtig es ist, eine solche Quelle eindeutig kenntlich zu machen (siehe Erla Hlynsdottir ./. Island (Nr. 3), Individualbeschwerde Nr. 54145/10, Rdnr. 73, 2. Juni 2015, mit weiteren Verweisen).
47. Im vorliegenden Fall merkt der Gerichtshof an, dass S. P.s behauptete ‘Ndrangheta-Mitgliedschaft von der Beschwerdeführerin als Vermutung, nicht als Tatsache dargestellt wurde. Gleichwohl haben die innerstaatlichen Gerichte festgestellt, dass die Buchpassage eine hohe Wahrscheinlichkeit dieser Mitgliedschaft nahelege und dass die Beschwerdeführerin einen derart hohen Verdachtsgrad nicht habe substantiieren können. Das Oberlandesgericht hat festgestellt, dass bestimmte Aussagen nicht zutreffend gewesen seien und dass die internen BKA-Berichte nur vage Verdachtsmomente hinsichtlich S. P.s behaupteter ‘Ndrangheta-Mitgliedschaft enthalten hätten. Die Beschwerdeführerin habe den von den internen amtlichen Berichten vermittelten Grad des Verdachts überzogen dargestellt und habe es nicht vermocht, diesen dargestellten hohen Verdachtsgrad durch zusätzliche Fakten zu belegen. Die innerstaatlichen Gerichte haben auch darauf hingewiesen, dass die BKA-Berichte nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen seien und Journalisten und Autoren somit nicht von ihrer journalistischen Pflicht zu eigenen Nachforschungen hätten entbinden können.
48. Der Gerichtshof erkennt zwar die Wichtigkeit interner Dokumente für journalistische Recherchen an, weist aber auch erneut darauf hin, dass die Pressefreiheit mit „Pflichten und Verantwortung“ verbunden ist. In dieser Hinsicht schließt sich der Gerichtshof der Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte an, dass zwischen öffentlichen amtlichen Berichten bzw. offiziellen Pressemitteilungen und internen amtlichen Berichten zu unterscheiden ist. Während Journalisten auf Erstere ohne weitere Nachforschungen vertrauen dürfen, ist dies bei Letzteren nicht der Fall. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass interne amtliche Berichte zwar eine wichtige Quelle darstellen können, Journalisten aber dennoch nicht vollständig von der Verpflichtung entbinden können, ihren Veröffentlichungen hinreichende Recherchen zugrunde zu legen. Diesbezüglich unterstreicht der Gerichtshof noch einmal, dass es wichtig ist, beide Arten von Quellen eindeutig kenntlich zu machen und die ihnen entstammenden Informationen nicht in überzogener Weise darzustellen. Dies gilt umso mehr für Berichte über mutmaßlich strafbares Verhalten, wo das Recht der Unschuldsvermutung zum Tragen kommt. Zusammenfassend erachtet der Gerichtshof die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte, die Beschwerdeführerin habe keine ausreichenden Beweise zur Untermauerung des Behaupteten vorgelegt, nicht für unangemessen.
49. Der Gerichtshof stimmt mit dem Oberlandesgericht auch in der Ansicht überein, dass die Beschwerdeführerin ihrer journalistischen Pflicht, S. P. Gelegenheit zur Verteidigung zu geben, nicht nachgekommen sei. Die Reaktion S. P.s auf ähnlich gelagerte Vorwürfe mehr als zehn Jahre zuvor entbanden die Beschwerdeführerin nicht von ihrer Pflicht, ihn zu kontaktieren. In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof außerdem an, dass es im vorliegenden Fall um eine Buchveröffentlichung geht und folglich keine solche Eilbedürftigkeit bestand, wie sie gelegentlich im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Nachrichten auftritt.
50. Nach alledem lässt der Gerichtshof die Feststellungen des Oberlandesgerichts zum Wahrheitsgehalt der Informationen gelten. Der interne amtliche Bericht war für sich genommen eine unzulängliche Grundlage für die in dem Buch aufgestellten Behauptungen. Außerdem hatten die innerstaatlichen Gerichte festgestellt, dass die Beschwerdeführerin und die Autorin nicht in der Lage gewesen seien, im innerstaatlichen Verfahren weitere Beweise zur Untermauerung des Verdachts vorzulegen. Diesbezüglich wiederholt der Gerichtshof, dass die Konvention keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln oder die Beweiswürdigung aufstellt, die deshalb vor allem durch innerstaatliches Recht zu regeln und Sache der nationalen Gerichte sind (siehe Rechtssache García Ruiz ./. Spanien [GK], Individualbeschwerde Nr. 30544/96, Rdnr. 28, EGMR 1999-I). Da die Beschwerdeführerin in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens gekommen ist und ihre Argumente vortragen konnte, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, die von der Beschwerdeführerin angebotenen Zeugen zu vernehmen, die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Recht aus Artikel 10 der Konvention verletzt hat.
iv) Das frühere Verhalten der betroffenen Person
51. Das Verhalten der betroffenen Person vor der Veröffentlichung des Berichts oder die Tatsache, dass die diesbezüglichen Informationen bereits in einer früheren Veröffentlichung erschienen sind, zählen auch zu den zu berücksichtigenden Faktoren (siehe Hachette Filipacchi Associés (Ici Paris) ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 12268/03, Rdnrn. 52 und 53, 23. Juli 2009).
52. Das Oberlandesgericht ist im Rahmen seiner Feststellung, dass die Beschwerdeführerin S. P. keine Gelegenheit dazu gegeben habe, zu dem Vorwurf seiner ‘Ndrangheta-Mitgliedschaft Stellung zu nehmen, auf dieses Kriterium eingegangen. Es hat ferner die Argumentation der Beschwerdeführerin, dass die behauptete Mitgliedschaft aufgrund ihrer bereits zuvor erfolgten Erwähnung in italienischen Medien und in einem anderen Buch in Deutschland allgemein bekannt sei, zurückgewiesen. Der Feststellung des Oberlandesgerichts zufolge waren all diese Veröffentlichungen erst nach der Publikation des in Rede stehenden Buches erschienen.
53. Der Gerichtshof lässt diese Erwägungen gelten und stellt überdies fest, dass der im Fernsehen ausgestrahlte Bericht und die von S. P. in diesem Zusammenhang 1997 getätigten Äußerungen (siehe Rdnr. 12) ihm nicht das Recht auf Schutz gegen spätere Veröffentlichungen genommen haben (siehe Egeland und Hanseid ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 34438/04, Rdnr. 62, 16. April 2009).
v) Inhalt, Form und Auswirkungen der Veröffentlichung
54. Auch bei der Art der Veröffentlichung eines Berichts und der Darstellung der betroffenen Person in dem Bericht kann es sich um Faktoren handeln, die es zu berücksichtigen gilt. Es trifft zu, dass eine Person, die sich an einem öffentlichen Diskurs zu einer Angelegenheit von allgemeinem Interesse beteiligt, dabei bis zu einem bestimmten Grad übertreiben oder sogar provozieren, das heißt, leicht überzogene Äußerungen tätigen darf. Der Gerichtshof ist allerdings der Ansicht, dass zwischen hinnehmbarer Übertreibung oder Provokation bzw. einer leicht überzogenen Äußerung und der Verzerrung von Fakten, die den Journalisten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannt waren, ein Unterschied besteht (siehe Kania und Kittel ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 35105/04, Rdnr. 47, 21. Juni 2011). Gleichwohl ist es weder Sache des Gerichtshofs noch der nationalen Gerichte, die Sicht der Presse durch die eigene Sicht zu ersetzen, wenn es um die Frage geht, welche Berichterstattungstechnik von den Journalisten gewählt werden sollte (siehe Stoll ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 69698/01, Rdnr. 146, ECHR 2007‑V). Es geht nicht darum, wie der Gerichtshof oder ein nationales Gericht bestimmte Aussagen formuliert hätte, sondern um die Frage, ob mit diesen Aussagen die Grenzen des verantwortungsvollen Journalismus überschritten wurden (siehe Yordanova und Toshev, a. a. O., Rdnr. 53). Besonders wenn es um den Vorwurf strafrechtlich relevanter Taten geht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Verdächtige das Recht hat, bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten, und dass das geeignete Forum zur Entscheidung über die Schuld oder Unschuld einer Person im Hinblick auf eine strafrechtliche Anklage die Gerichte sind (siehe Erla Hlynsdottir (Nr. 3), a. a. O., Rdnrn. 64 und 65).
55. Das Oberlandesgericht hatte befunden, dass das Zusammenspiel der vielen Einzelaussagen in dem Buch den Eindruck erweckt habe, dass ein sehr starker Verdacht der Mitgliedschaft S. P.s in der kriminellen Vereinigung ‘Ndrangheta bestehe. Da in dem Buch keine entlastenden Umstände erwähnt würden, sei die Berichterstattung nicht hinreichend ausgewogen gewesen und habe zu einer Vorverurteilung von S. P. geführt. Insgesamt kam das Oberlandesgericht zu dem Schluss, dass die S. P. betreffende Passage des Buches nahelege, er sei ein ‘Ndranghetista, und dass die Autorin die Grenzen des verantwortungsvollen Journalismus überschritten habe.
56. Obgleich der Gerichtshof feststellt, dass es nur auf zwei der 352 Buchseiten um S. P. ging und die innerstaatlichen Gerichte nicht festgestellt haben, dass die Buchveröffentlichung irgendwelche konkreten Auswirkungen auf ihn gehabt hätte, stimmt er dem Oberlandesgericht zu, dass die fragliche Passage einen starken Verdacht gegen S. P. nahelegte. Folglich hält der Gerichtshof die Schlussfolgerung, dass die Beschwerdeführerin die Grenzen des verantwortungsvollen Journalismus überschritten habe, nicht für unvertretbar.
vi) Schwere der verhängten Sanktion
57. Schließlich sind bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs auch die Art und die Schwere der verhängten Sanktion zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang muss der Gerichtshof davon überzeugt sein, dass die Sanktion nicht einer Form von Zensur gleichkommt, welche darauf abzielt, die Presse von kritischen Äußerungen abzuschrecken (siehe Stoll, a. a. O., Rdnrn. 153 bis 154).
58. Das Oberlandesgericht hatte S. P. 10.000 Euro zugesprochen und zur Begründung ausgeführt, dass es erforderlich sei, S. P. eine Entschädigung für die schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung zuzusprechen, weil die Veröffentlichung des Buches bereits erfolgt sei.
59. Der Gerichtshof stellt fest, dass es in der vorliegenden Rechtssache nicht um den Unterlassungstitel, sondern nur um die Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung ging. Er stellt weiterhin fest, dass das Oberlandesgericht S. P. nur die Hälfte des von ihm geforderten Betrags zusprach und die Zahlung der Entschädigung gegen die Beschwerdeführerin, nicht die Autorin, anordnete. Und schließlich stellt er fest, dass die deutschen Gerichte in einem vergleichbaren Fall sogar einen noch höheren Betrag zusprachen (siehe Rdnr. 28). Der Gerichtshof schließt sich der Begründung des Oberlandesgerichts an, wonach unter den besonderen Umständen des Falles, insbesondere, da die Veröffentlichung des Buches bereits erfolgt war, ein Unterlassungstitel allein nicht geeignet war, die Beeinträchtigung des guten Rufes von S. P. vollständig zu beseitigen. Der Gerichtshof teilt ferner die Auffassung der Regierung, dass, anders als bei einer Zeitungsveröffentlichung, der Abdruck eines Widerrufs ebenfalls keine wirksame Wiedergutmachung dargestellt hätte. Und schließlich hat die Beschwerdeführerin nicht vorgetragen, inwiefern dieser Betrag sie der Höhe nach übermäßig belastet oder wie er sich konkret auf ihre finanzielle Situation ausgewirkt hat (vgl. Ashby Donald u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 36769/08, Rdnr. 43, 10. Januar 2013).
60. Nach alledem kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die zugesprochene Entschädigung in Höhe von 10.000 Euro nicht unverhältnismäßig war und angesichts der wirtschaftlichen Position der Beschwerdeführerin weder eine Form von Zensur noch eine Abschreckung von künftigen Buchveröffentlichungen darstellte.
vii) Schlussfolgerung
61. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung sorgfältig gegen das Recht S. P.s auf Achtung seines Privatlebens und seines guten Rufes abgewogen haben. Sie haben dem Wahrheitsgehalt der vermittelten Aussage, den journalistischen Aufgaben und Pflichten der Beschwerdeführerin sowie dem Inhalt und der Form der in Rede stehenden Passage einen sehr hohen Stellenwert eingeräumt. Daher weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Meinungen zum Ausgang einer Rechtssache zwar auseinander gehen können, es für den Gerichtshof aber gewichtiger Gründe dafür bedürfte, die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen, wenn die nationalen Behörden die Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen haben (siehe Lillo-Stenberg und Sæther ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 13258/09, Rdnr. 44, 16. Januar 2014; mit Verweisen auf S., Rdnr. 88; und H. (Nr. 2), Rdnr. 107, beide a. a. O.).
62. Unter diesen Umständen und angesichts des Ermessensspielraums, der den innerstaatlichen Gerichten bei der Abwägung widerstreitender Interessen zusteht, kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass keine gewichtigen Gründe dafür vorliegen, die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen, und Artikel 10 der Konvention folglich nicht verletzt worden ist.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:
1. Die Individualbeschwerde wird einstimmig für zulässig erklärt;
2. mit sechs zu einer Stimme wird festgestellt, dass Artikel 10 der Konvention nicht verletzt worden ist.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 19. Oktober 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
____________
Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil das Sondervotum der Richterin Tsotsoria beigefügt.
E. M.
M. B.
ABWEICHENDE MEINUNG VON RICHTERIN TSOTSORIA
Ich habe in dieser Rechtssache für die Feststellung einer Verletzung von Artikel 10 der Konvention gestimmt.
Die Veröffentlichung der Beschwerdeführerin betraf zweifellos eine Angelegenheit von großem öffentlichen Interesse: die Aktivitäten der Mafia in Deutschland. In dem Buch wurde die behauptete Mitgliedschaft S. P.s in einer kriminellen Vereinigung als Vermutung, nicht als Tatsache dargestellt. Diese Annahme beruhte auf einer Vielzahl von Quellen, einschließlich amtlicher Berichte des Bundeskriminalamts. Unter solchen Umständen ist es – entgegen den Feststellungen im vorliegenden Fall – nach der Rechtsprechung nicht erforderlich, dass Journalisten unabhängige Nachforschungen betreiben. Der Rechtsprechung zufolge muss es Journalisten freistehen, auf der Grundlage von Informationen aus amtlichen Quellen ohne weitere Nachprüfung über Ereignisse zu berichten (siehe Koniuszewski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 619/12, Rdnr. 58, 14. Juni 2016, mit Verweisen auf weitere Rechtsprechung).
Ich bin der Ansicht, dass die Autorin des Buches, eine aufgrund ihrer mafiakritischen Publikationen renommierte Journalistin, in gutem Glauben und im Einklang mit den in Artikel 10 der Konvention verankerten Pflichten und Verantwortlichkeiten gehandelt hat. Auch kann ich der Beschwerdeführerin nicht den Vorwurf machen, die zulässigen Grenzen der Übertreibung überschritten zu haben. Überdies ist mir nicht klar, welche Bedeutung die Formulierung „hoher Verdachtsgrad“ (siehe Rdnr. 47 des Urteils) im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs haben soll. Ferner bin ich nicht davon überzeugt, dass der Beschwerdeführerin von den innerstaatlichen Gerichten hinreichende Möglichkeiten eingeräumt wurden, Argumente hinsichtlich des Wahrheitsgehalts der Informationen anzubringen.
Kurz gesagt bin ich angesichts der vorstehenden Gründe und in Übereinstimmung mit der Argumentationsführung der Beschwerdeführerin der Ansicht, dass die örtlichen Gerichte es versäumt haben, einen gerechten Ausgleich zwischen der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin und dem Recht auf Achtung des Privatlebens und des guten Rufes von S. P. herzustellen, so wie es die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Kriterien erfordern. Meines Erachtens haben die nationalen Justizbehörden die Bedeutung und den Geltungsbereich des Grundsatzes der Meinungsfreiheit, der dazu führen sollte, dass die Entscheidungen der nationalen Gerichte einem engen Ermessensspielraum unterliegen, nicht gebührend berücksichtigt. Aus diesem Grund hätte der Gerichtshof die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene ersetzen müssen (siehe Aksu ./. Türkei [GK], Individualbeschwerden Nrn. 4149/04 und 41029/04, Rdnr. 67, ECHR 2012; und Palomo Sánchez u. a. ./. Spanien [GK], Individualbeschwerden Nrn. 28955/06, 28957/06, 28959/06 und 28964/06, Rdnr. 57, ECHR 2011)
Ich bedauere diese beunruhigende Abkehr vom gängigen Verständnis der Rechtsprechung des Gerichtshofs zutiefst.
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
Schreibe einen Kommentar