Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 33371/17
Uwe K. ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 31. Oktober 2017 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern
Erik Møse, Präsident,
Yonko Grozev,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
und Anne-Marie Dougin, Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 28. April 2017 erhoben wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, K., ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn B., Rechtsanwalt in K., vertreten.
2. Der Sachverhalt, wie er von dem Beschwerdeführer vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
3. Im Jahr 2000 beauftragte der Beschwerdeführer ein Auktionshaus mit dem Verkauf eines Grundstücks nahe B., das ihm gehörte.
4. 2009 stellte der Beschwerdeführer einen gegen den Käufer gerichteten Antrag auf Rückgabe des Grundstücks und auf entsprechende Anpassung des Grundbuchs. Er trug u. a. vor, dass er 1999 und 2000 schwer psychisch krank und somit nicht geschäftsfähig gewesen sei, und dass die Bevollmächtigung zur Versteigerung des Hauses daher ungültig sei. Er behauptete, deshalb immer noch Anspruch auf das Grundstück zu haben.
5. Am 24. Juni 2010 befand das Landgericht, dass der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen habe, dass er zur maßgeblichen Zeit geschäftsunfähig gewesen sei, und lehnte seinen Antrag auf Übertragung des Grundstücks ab. Der Beschwerdeführer legte daraufhin Berufung ein.
6. Im Verlauf des Berufungsverfahrens ordnete das Berufungsgericht ein Sachverständigengutachten zur Geschäftsfähigkeit des Beschwerdeführers an und hörte seine Ärzte an. Obwohl der Sachverständige angewiesen worden war, sein schriftliches Gutachten nach der Anhörung der Ärzte zu erstatten, legte er das Gutachten bereits vor der Zeugenanhörung vor und bestätigte seine Auffassung im Anschluss in einer schriftlichen Ergänzung. Der Beschwerdeführer stellte einen Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen wegen Nichtbefolgung der Anordnungen des Gerichts. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass der Sachverständige das anfängliche Gutachten objektiv auf der Grundlage der Krankenakte des Beschwerdeführers und unvoreingenommen durch die Anhörungen erstellt und seine anfänglichen Feststellungen später auf der Grundlage der Ausführungen der Ärzte in einer ergänzenden vierseitigen Stellungnahme bestätigt habe.
7. In der letzten Anhörung im Berufungsverfahren teilte das Berufungsgericht den Verfahrensbeteiligten mit, dass die Berufung des Beschwerdeführers vermutlich keinen Erfolg haben werde.
8. Am Abend des 21. September 2015 – drei Tage vor Bekanntgabe der Entscheidung des Berufungsgerichts – fand die Vorsitzende Richterin eine tote Amsel mit dem Aktenzeichen des Beschwerdeführers um den Hals vor der Tür ihrer Privatwohnung vor. Sie erstatte Strafanzeige bei der Polizei wegen Bedrohung. Als sie bei ihrer Vernehmung nach möglichen Verdächtigen gefragt wurde, nannte sie den Beschwerdeführer und erklärte gegenüber den Polizeibeamten, dass nur wenigen Personen das gerichtliche Aktenzeichen bekannt sei, dass die Verfahrensbeteiligten über den wahrscheinlichen Ausgang des Verfahrens in Kenntnis gesetzt worden seien und dass der Beschwerdeführer sie möglicherweise aufgrund des wahrscheinlichen Verfahrensausgangs dazu bewegen wolle, das bereits verfasste Urteil zu revidieren.
9. Vor der geplanten Bekanntgabe der Entscheidung des Berufungsgerichts vom 24. September 2015 stellte der Beschwerdeführer einen Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin und behauptete, dass sie nicht unparteiisch sei, da sie bei der polizeilichen Vernehmung die Gegenseite nicht gleichermaßen verdächtigt habe.
10. Am 10. November 2015 lehnte das Berufungsgericht – ohne Beteiligung der betroffenen Richterin – den Befangenheitsantrag des Beschwerdeführers ab. Das Gericht befand, dass eine Strafanzeige eines Richters gegen eine der Verfahrensparteien in einem Fall, den er selbst verhandele, grundsätzlich Bedenken hinsichtlich der Unparteilichkeit des Richters rechtfertigen könne. Die Frage, ob diese Bedenken objektiv gerechtfertigt seien, müsse jedoch auf der Grundlage der Umstände des konkreten Falls beurteilt werden. Da im vorliegenden Fall Tatsachen vorlägen, die den Verdacht gegen den Beschwerdeführer in angemessener Weise stützten, nämlich die begrenzte Anzahl der Personen, denen das Aktenzeichen bekannt gewesen sei, und die Tatsache, dass das Berufungsgericht die Verfahrensbeteiligten darauf hingewiesen habe, dass die Berufung wahrscheinlich keinen Erfolg haben werde, sei der Befangenheitsantrag des Beschwerdeführers unbegründet.
11. Am 12. November 2015 wies das Berufungsgericht – unter Beteiligung der betreffenden Richterin – die Berufung des Beschwerdeführers zurück, bestätigte das Urteil des Landgerichts und ließ die Revision nicht zu.
12. Die daraufhin von dem Beschwerdeführer eingelegte Beschwerde gegen die NIchtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht sowie seine Verfassungsbeschwerde (2 BvR 1683/16) blieben erfolglos.
13. Die Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer wurden von der zuständigen Staatsanwaltschaft im April 2016 eingestellt.
RÜGEN
14. Der Beschwerdeführer rügte unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass das Verfahren vor dem Berufungsgericht nicht fair gewesen sei. Er behauptete, dass der gerichtlich bestellte Sachverständige und die Vorsitzende Richterin des Berufungsgerichts nicht unparteiisch gewesen seien. Ferner rügte er den Ausgang des Zivilverfahrens und behauptete, dass die Ablehnung seiner Ansprüche willkürlich gewesen sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
15. Der Beschwerdeführer rügte einen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“
A. Ausgang des innerstaatlichen Verfahrens
16. Soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Ausgang des Verfahrens wendet, stellt der Gerichtshof fest, dass es sich bei der Beschwerde um eine Angelegenheit in der „vierten Instanz“ handelt (siehe García Ruiz ./. Spanien [GK] Individualbeschwerde Nr. 30544/96, Rdnrn. 28, 29, ECHR 1999‑I). Der Beschwerdeführer konnte vor den Gerichten Stellung nehmen, die auf seinen Vortrag mit Entscheidungen reagierten, die weder willkürlich noch offensichtlich unangemessen erscheinen. Dementsprechend ist diese Rüge im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
B. Unparteilichkeit des gerichtlich bestellten Sachverständigen
17. Hinsichtlich der Ablehnung des gerichtlich bestellten Sachverständigen durch den Beschwerdeführer wegen mangelnder Unparteilichkeit erinnert der Gerichtshof daran, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen „Gericht“ garantiert und nicht ausdrücklich verlangt, dass ein vor diesem Gericht angehörter Sachverständiger dieselben Voraussetzungen erfüllen muss. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass die Meinung eines Sachverständigen, der von dem zuständigen Gericht bestellt wird, um sich mit bestimmten Fragen der betreffenden Rechtssache zu befassen, bei der Beurteilung dieser Fragen durch dieses Gericht von erheblichem Gewicht ist. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung anerkannt, dass mangelnde Neutralität eines gerichtlich bestellten Sachverständigen unter bestimmten Umständen zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit führen kann, der dem Konzept eines fairen Verfahrens inhärent ist (siehe Sara Lind Eggertsdóttir ./. Island, Individualbeschwerde Nr. 31930/04, Rdnr. 47, 5. Jul 2007).
18. Der Gerichtshof merkt jedoch an, dass der Beschwerdeführer seinen Befangenheitsantrag auf die verfrühte Erstattung des schriftlichen Gutachtens stützte, die entgegen der Anordnung des Berufungsgerichts erfolgte. Er nimmt ebenfalls zur Kenntnis, dass das verfrühte schriftliche Gutachten die Krankenakte betraf und der Sachverständige sein Gutachten nach der Anhörung der Zeugen im Hinblick auf die neuen Informationen ergänzte und Gründe dafür lieferte, weshalb er bei der Auffassung in seinem anfänglichen Gutachten blieb. Unter Berücksichtigung aller ihm vorliegender Unterlagen gelangt der Gerichtshof daher zu dem Ergebnis, dass die Ablehnung des Befangenheitsantrags des Beschwerdeführers gegen des Sachverständigen keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit erkennen lässt. Diese Rüge ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
C. Unparteilichkeit des Berufungsgerichts
19. Soweit der Beschwerdeführer mangelnde Unparteilichkeit des Berufungsgerichts behauptet, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass unter Unparteilichkeit in der Regel das Nichtvorliegen von Voreingenommenheit oder Befangenheit zu verstehen ist, und dass deren Vorliegen oder Nichtvorliegen auf verschiedene Art und Weise geprüft werden kann. Der Gerichtshof erinnert an seine ständige Rechtsprechung, wonach das Vorliegen von Unparteilichkeit im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 zum einen anhand einer Prüfung nach subjektiven Kriterien zu bestimmen ist, wobei auf die persönliche Überzeugung und das Verhalten eines bestimmten Richters abzustellen ist – d. h. ob er in einem konkreten Fall persönliche Vorurteile hegte oder befangen war – und zum anderen anhand einer Prüfung nach objektiven Kriterien – d. h. indem festgestellt wird, ob das Gericht an sich und u. a. dessen Zusammensetzung hinreichend Gewähr dafür geboten haben, dass alle berechtigten Zweifel an seiner Unparteilichkeit auszuschließen sind (siehe Micallef ./. Malta [GK], Individualbeschwerde Nr. 17056/06, Rdnr. 93, ECHR 2009). Der Gerichtshof hat anerkannt, wie schwierig es ist, einen Verstoß gegen Artikel 6 aufgrund subjektiver Parteilichkeit festzustellen, und hat aus diesem Grund in der überwiegenden Mehrheit der Fälle, in denen Fragen der Unparteilichkeit aufgeworfen wurden, die Prüfung nach objektiven Kriterien zugrunde gelegt. Dennoch gibt es keine hieb- und stichfeste Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen, weil das Verhalten eines Richters nicht nur zu objektiven Vorbehalten hinsichtlich seiner Unparteilichkeit aus Sicht des unbeteiligten Beobachters führen kann (Prüfung nach objektiven Kriterien), sondern auch eine Frage seiner persönlichen Überzeugung sein kann (Prüfung nach subjektiven Kriterien) (Kyprianou ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 73797/01, Rdnr. 119, ECHR 2005‑XIII).
20. Hinsichtlich der Prüfung nach subjektiven Kriterien hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die persönliche Unparteilichkeit eines Richters bis zum Beweis des Gegenteils vermutet werden muss. Was die Art des erforderlichen Beweises angeht, hat der Gerichtshof etwa versucht festzustellen, ob ein Richter aus persönlichen Gründen Feindseligkeit oder Böswilligkeit gezeigt hat (siehe Micallef, a. a. O., Rdnr. 94). Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer weder in seinem Befangenheitsantrag noch in seiner Stellungnahme an den Gerichtshof vorgetragen hat, dass das Verhalten der Vorsitzenden Richterin während des Verfahrens in irgendeiner Weise feindselig ihm gegenüber gewesen sei. Daher kommt er zu dem Schluss, dass es keinen Grund gibt, die Vermutung der persönlichen Unparteilichkeit in Frage zu stellen.
21. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer seine Vorwürfe der Parteilichkeit im Wesentlichen auf die Tatsache stützte, dass die Richterin Strafanzeige erstattet und den Beschwerdeführer als möglichen Verdächtigen benannt hatte, und er wird diese Behauptung nach dem objektiven Ansatz prüfen. Bei der Prüfung nach objektiven Kriterien muss festgestellt werden, ob es abgesehen von dem persönlichen Verhalten der Mitglieder eines Gerichts feststellbare Tatsachen gibt, die Zweifel an dessen Unparteilichkeit begründen können. Insoweit kann bereits der Anschein von einer gewissen Bedeutung sein. Bei der Entscheidung darüber, ob in einem konkreten Fall ein berechtigter Grund zu der Befürchtung besteht, dass ein bestimmter Spruchkörper nicht unparteiisch ist, ist der Standpunkt derjenigen, die behaupten, dass er nicht unparteiisch sei, zwar wichtig, aber nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, ob die Befürchtung als objektiv gerechtfertigt angesehen werden kann (siehe Kyprianou, a. a. O., Rdnr. 118). In der Rechtssache Kyprianou befand der Gerichtshof, dass eine Vermengung der Rollen des Beschwerdeführers, Zeugen, Anklägers und Richters offensichtlich dazu führen kann, dass es objektiv gerechtfertigte Befürchtungen hinsichtlich der Frage gibt, ob in dem Verfahren der bewährte Grundsatz beachtet wurde, dass niemand Richter in seiner eigenen Sache sein sollte, und folglich hinsichtlich der Unparteilichkeit des Gerichts (ebda., Rdnr. 127).
22. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die Richterin in der vorliegenden Rechtssache einerseits Vorsitzende in einem beim Berufungsgericht anhängigen Zivilverfahren war, und andererseits Opfer einer strafrechtlich relevanten Bedrohung. Die Richterin war zu keinem Zeitpunkt an den Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer beteiligt, außer, dass sie von der Polizei bezüglich möglicher Verdächtiger vernommen wurde. Der Gerichtshof stimmt dennoch mit dem Berufungsgericht darin überein, dass eine Strafanzeige eines Richters gegen eine der Verfahrensparteien in einem Fall, den er selbst verhandelt, Bedenken hinsichtlich seiner Unparteilichkeit rechtfertigen kann. Er stellt aber auch fest, dass das Berufungsgericht zu dem Schluss gelangte, dass es objektive Gründe für die Strafanzeige und den Verdacht gegen den Beschwerdeführer gab und dass folglich keiner dieser beiden Aspekte Befürchtungen hinsichtlich der Unparteilichkeit der Vorsitzenden Richterin objektiv rechtfertigen konnte. Der Gerichtshof schließt sich auch dieser Schlussfolgerung des Berufungsgerichts an. Darüber hinaus stellt er fest, dass der Beschwerdeführer angesichts der im letzten Termin des Berufungsverfahrens an die Verfahrensbeteiligten ergangenen Hinweise zum Verfahrensausgang und der Tatsache, dass das endgültige Urteil zum Zeitpunkt des Vorfalls bereits abgefasst war, keinen Grund zu der Annahme hatte, dass die Entscheidung der Richterin durch den gegen ihn bestehenden Verdacht in unzulässiger Weise beeinflusst wurde. Zusammenfassend gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass es auf der Grundlage der Prüfung nach objektiven Kriterien auch keine Gründe gibt, die die Befürchtungen des Beschwerdeführers hinsichtlich der Unparteilichkeit des Berufungsgerichts objektiv rechtfertigen würden.
23. Nach alledem befindet der Gerichtshof, dass aus den ihm vorliegenden Unterlagen keine Anzeichen für einen Verstoß gegen das Recht auf ein unparteiisches Gericht ersichtlich sind. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 23. November 2017.
Anne-Marie Dougin Erik Møse
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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