Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 54646/17
X ./. Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 7. November 2017 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Nona Tsotsoria,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary und
Mārtiņš Mits
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 30. Juli 2017 erhoben wurde,
unter Berücksichtigung der Entscheidung, die oben genannte Individualbeschwerde nach Artikel 41 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorrangig zu behandeln,
unter Berücksichtigung der von den Parteien übermittelten Auskünfte und Stellungnahmen,
nach Beratung wie folgt entschieden:
VERFAHREN
1. Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger und wurde 19.. im Nordkaukasus geboren. Vor dem Gerichtshof wurde er von Frau G., Professorin mit Lehr- und Anwaltstätigkeit in D., vertreten.
2. Gleichzeitig mit der Einlegung seiner Beschwerde nach Artikel 34 der Konvention beantragte der Beschwerdeführer den Erlass einer vorläufigen Maßnahme nach Artikel 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zur Aussetzung seiner Abschiebung nach Russland.
3. Der Gerichtshof entschied am 31. Juli 2017, Artikel 39 anzuwenden, und teilte der deutschen Regierung mit, dass der Beschwerdeführer bis zum Ausgang des Verfahrens vor dem Gerichtshof im Interesse der Parteien sowie einer ordnungsgemäßen Verfahrensführung nicht abgeschoben werden solle. Der Gerichtshof gewährte außerdem vorrangige Behandlung (Artikel 41), Anonymität (Artikel 47 Abs. 4) sowie Vertraulichkeit (Artikel 33) und ersuchte die Regierung um Auskünfte (Artikel 54 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensordnung).
4. Am 18. August 2017 ging der Schriftsatz der Regierung ein; nachdem er dem Beschwerdeführer zur Stellungnahme übermittelt worden war, ging am 24. August 2017 der Schriftsatz des Beschwerdeführers ein.
5. Am 29. August 2017 beschloss der Gerichtshof, die vorläufige Maßnahme nach Artikel 39 aufzuheben.
SACHVERHALT
A. Die Umstände der Rechtssache
6. Der Beschwerdeführer kam 2002 nach Deutschland. Seine Asylanträge wurden von den zuständigen innerstaatlichen Behörden in diesem und erneut im darauffolgenden Jahr abgelehnt. 2012 erhielt der Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis, die anschließend bis zum März 2018 verlängert wurde.
7. Aufgrund seiner angeblichen Verbindungen zur „radikalislamischen Szene“ ermittelte 2014 das Bundesamt für Verfassungsschutz gegen den Beschwerdeführer. Im Dezember 2014 wurde dem Beschwerdeführer untersagt, Deutschland zu verlassen, da angenommen wurde, er werde nach Syrien reisen, um sich dort dem sogenannten „Islamischen Staat“ anzuschließen. Ein Antrag auf Aufhebung dieses Verbots wurde 2016 mit der Begründung abgelehnt, dass den Sicherheitsbehörden Informationen vorlägen, wonach der Beschwerdeführer noch immer mit der „radikalislamischen Szene“ in Kontakt stehe.
8. Im Januar 2017 erlangte die Polizei Erkenntnisse über den Beschwerdeführer, u. a. Aufzeichnungen von Online-Chats, in denen der Beschwerdeführer erklärte, er sei bereit, sich an einer „Operation“ in Deutschland zu beteiligen. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft ein offizielles Ermittlungsverfahren wegen der „Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ ein und die Wohnung des Beschwerdeführers wurde durchsucht. Bei der Durchsuchung wurden mehrere Mobiltelefone, Tablets und andere Geräte sichergestellt. Auf den Geräten wurden mehr als 42 000 Bilder und 1 000 Videos gefunden, die islamistisch zu verortende Gewalttaten zeigten und auch eine Anleitung zum Bau von Sprengsätzen umfassten.
9. Am 13. März 2017 ordneten die Landesbehörden die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Russland an, da er eine Bedrohung der nationalen Sicherheit darstelle. Es wurde angenommen, dass er bereit sei, in Deutschland einen Terroranschlag zu verüben oder daran mitzuwirken. Diese Entscheidung stützte sich auf Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden (siehe Rdnrn. 7 und 8). Obgleich die Behörden davon ausgingen, dass er noch nicht in die Planungsphase eingetreten sei, stelle er dennoch eine abstrakte Gefahr für die Gesellschaft dar. Diese abstrakte Gefahr sei ausreichend, um das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens zu überwiegen, auch wenn er in Deutschland aufgewachsen sei und dort die letzten 15 Jahre gelebt habe. Außerdem bestehe für den Beschwerdeführer keine Gefahr nach Artikel 3 der Konvention, da die russischen Behörden nicht über die gesammelten Erkenntnisse informiert werden würden und es ihm freistehe, sich nach seiner Abschiebung nach Russland von der „radikalislamischen Szene“ fernzuhalten.
10. Der Beschwerdeführer wandte sich vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen diese Entscheidung und beantragte die einstweilige Aussetzung seiner Abschiebung für die Dauer des Hauptverfahrens. Während des einstweiligen Verfügungsverfahrens forderte das Bundesverwaltungsgericht weitere Informationen vom Auswärtigen Amt hinsichtlich der zu erwartenden Behandlung des Beschwerdeführers nach der Abschiebung nach Russland an. Auf der Grundlage von Gesprächen mit Mitarbeitern der russischen Nichtregierungsorganisation „Komitee zur Verhinderung von Folter“ antwortete das Auswärtige Amt, dass davon auszugehen sei, dass der Beschwerdeführer von den Sicherheitsbehörden befragt und überwacht werden würde, dass es aber unwahrscheinlich sei, dass er präventiv gefoltert werden würde.
11. Am 13. Juli 2017 lehnte es das Bundesverwaltungsgericht in einer ausführlichen 63-seitigen Entscheidung ab, eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Es kam zu dem Schluss, dass die Einschätzung des für den Beschwerdeführer bestehenden Sicherheitsrisikos im Wesentlichen zutreffend sei. Anders als die Landesbehörden war das Gericht allerdings der Auffassung, dass den russischen Behörden der Grund für die Abschiebung des Beschwerdeführers bekannt sein würde. Daher könne der Beschwerdeführer aufgrund der Gefahr von Folter und Misshandlung nicht in seine Heimatregion Dagestan abgeschoben werden. Er könne aber in eine andere Region Russlands abgeschoben werden. Nach Prüfung mehrerer aktueller Berichte zur Lage befand das Gericht, dass keine spezifischen Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Beschwerdeführer wegen seines bisherigen Verhaltens in Deutschland an einem anderen Ort in Russland festgehalten oder gefoltert bzw. gewaltsam nach Dagestan verbracht werden würde. Die öffentlich zugänglichen Berichte seien auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sie sich auf Personen bezögen, die auf irgendeine Weise mit den Konflikten in Dagestan und Tschetschenien in Verbindung stünden, was bei dem Beschwerdeführer nicht der Fall sei. Maßgeblich seien die Informationen des „Komitees zur Verhinderung von Folter“ (siehe Rdnr. 10), das dem Auswärtigen Amt speziell zum vorliegenden Fall Auskunft erteilt habe. Diesen Informationen zufolge würde der Beschwerdeführer von den Sicherheitsbehörden in Russland wahrscheinlich befragt und überwacht werden, es sei aber sehr unwahrscheinlich, dass er gefoltert werden würde. Folglich gelangte das Gericht zu der Einschätzung, dass zwar zu erwarten sei, dass der Beschwerdeführer eng überwacht werde, dass das weitere Vorgehen der russischen Behörden allerdings von seinem künftigen Verhalten in Russland abhängen würde. Im Hinblick auf Artikel 8 führte das Gericht aus, dass der Beschwerdeführer zwar einige Schwierigkeiten haben werde, da er keine Angehörigen in anderen Gebieten Russlands habe und wegen seiner kaukasischen Volkszugehörigkeit im Alltag Diskriminierung erfahren werde, dass er aber dennoch in der Lage sein sollte, sich in einem Vorort niederzulassen und eine Arbeitsstelle zu finden, da er über Grundkenntnisse der russischen Sprache verfüge.
12. Am 26. Juli 2017 lehnte es das Bundesverfassungsgericht in einer begründeten Entscheidung ab, eine einstweilige Anordnung zu erlassen oder die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen. Es bemängelte zwar, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht mit hinreichender Tiefe geprüft habe, inwiefern es für den Beschwerdeführer möglich sei, außerhalb des Nordkaukasus zu leben und Arbeit zu finden, ohne Gefahr zu laufen, von den russischen Sicherheitsbehörden unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden, wies jedoch darauf hin, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung fehlerfrei auf aktuelle Berichte zur Lage von aus dem Nordkaukasus stammenden Rückkehrern nach Russland sowie auf Auskünfte des Auswärtigen Amtes und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gestützt habe. Es kam daher zu dem Schluss, dass das Bundesverwaltungsgericht alle Gefahren, denen der Beschwerdeführer ausgesetzt sein könnte, in seine Bewertung einbezogen und auch fehlerfrei festgestellt habe, dass der Beschwerdeführer nach Russland abgeschoben werden könne.
13. Das Hauptsacheverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ist noch anhängig.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
14. Die Abschiebung eines sogenannten Gefährders (potenzieller Straftäter, der eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt) ist in § 58a des Aufenthaltsgesetzes (Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – AufenthG) geregelt.
„(1) Die oberste Landesbehörde kann gegen einen Ausländer auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Die Abschiebungsanordnung ist sofort vollziehbar; einer Abschiebungsandrohung bedarf es nicht.
[…]“
C. Berichte unabhängiger internationaler Menschenrechtsorganisationen und staatlicher Stellen
15. Ein Bericht von Human Rights Watch vom 18. Juni 2015 mit dem Titel ‘Invisible War – Russia’s Abusive Response to the Dagestan Insurgency [„Unsichtbarer Krieg – Russlands rücksichtslose Antwort auf den Aufstand in Dagestan“] zeigt verschiedene Menschenrechtsverletzungen während der Niederschlagung des Aufstands auf, u. a. willkürliche Freiheitsentziehungen, Folter und Verschwindenlassen. Es wird auch berichtet, dass die Behörden ihren Radius übertrieben weit ausdehnen und Salafisten im Wesentlichen wie Verdächtige behandeln, ohne dass ihnen konkrete Straftaten zur Last gelegt würden.
16. In einem 2014 erstellten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe („Russland: Verfolgung von Verwandten dagestanischer Terrorverdächtiger außerhalb Dagestans“, 8. September 2015) wird die Situation von Familienangehörigen mutmaßlicher am Dagestankonflikt beteiligter Terroristen geschildert. Dem Bericht zufolge wurden Familienangehörige sogar außerhalb des Nordkaukasus in zunehmendem Maße zum Ziel der Verfolgung durch die russischen Behörden. Die von den russischen Behörden eingesetzten Methoden umfassten willkürliche Verhaftung und Strafverfolgung sowie Verschwindenlassen.
17. Ein aktualisierter Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Menschenrechtssituation in Tschetschenien („Russland – Tschetschenien – Aktuelle Menschenrechtslage“, 13. Mai 2016) zeigt verschiedene Beispiele von Tschetschenen, die in der Vergangenheit mit dem Tschetschenienkonflikt in Verbindung standen und nach ihrer Rückkehr nach Russland inhaftiert, gefoltert und getötet wurden. Die Nichtregierungsorganisation berichtet auch über die enge Zusammenarbeit der tschetschenischen und russischen Behörden und darüber, dass mehrere Personen gewaltsam aus anderen Teilen Russlands nach Tschetschenien zurückverbracht worden seien.
18. Die International Crisis Group schildert in ihrem Bericht The North Caucasus Insurgency and Syria: An Exported Jihad? [„Der Nordkaukasusaufstand und Syrien: Ein exportierter Dschihad?“] vom 16. März 2016 schwere Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen, summarische Hinrichtungen und den weit verbreiteten Einsatz von Folter in Dagestan und Tschetschenien. Beschrieben wird auch, dass als eine der wichtigsten Kontrollmethoden in der Nordkaukasusregion die präventive Registrierung von Personen erfolgt, von denen vermutet wird, dass sie einer fundamentalistischen Strömung des Islam angehören. Nach Vorfällen wie Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen oder nach Terroranschlägen seien die auf diesen Listen verzeichneten Personen der Gefahr von Verhaftungen und Verhören ausgesetzt, bei denen häufig gewaltsame oder erniedrigende Methoden angewendet würden.
BESCHWERDEN
19. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 3 der Konvention, dass man ihn im Falle seiner Rückführung nach Russland überwachen, festnehmen, foltern oder „verschwinden lassen“ werde, da er in Deutschland als Gefährder eingestuft worden sei und den russischen Behörden bekannt sein werde, dass dies der Grund seiner Abschiebung ist. Im Hinblick darauf, dass er von seiner Familie und dem Land, in dem er die letzten 15 Jahre gelebt habe, weggerissen werde, berief er sich ferner auf Artikel 8 der Konvention. Überdies würde es ihm das Verbot einer Rückkehr nach Deutschland unmöglich machen, seine nächsten Angehörigen zu besuchen. Schließlich rügte der Beschwerdeführer nach Artikel 13 der Konvention, dass die innerstaatlichen Gerichte die Situation, in der er sich nach einer Abschiebung nach Russland befinden würde, nicht hinreichend geprüft hätten.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Artikel 3 der Konvention
20. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine Abschiebung nach Russland Artikel 3 der Konvention verletzten würde; dieser lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
21. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
1. Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe
22. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Hauptsacheverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht noch anhängig ist und der Beschwerdeführer bisher nur den Rechtsweg im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erschöpft hat. Der Gerichtshof erinnert daran, dass bei Individualbeschwerden über die Artikel 3 der Konvention zuwiderlaufenden Folgen von Abschiebungen in Drittstaaten nur Rechtsbehelfe, die „eine Möglichkeit vorsehen, die Durchführung der gerügten Maßnahme aufzuschieben“ als „wirksamer Rechtsbehelf“ gelten können (siehe Shamayev u. a. ./. Georgien und Russland, Individualbeschwerde Nr. 6378/02, Rdnr. 460, ECHR 2005‑III; Jabari ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 40035/98, Rdnr. 50, ECHR 2000‑VIII). Angesichts der Bedeutung, die der Gerichtshof Artikel 3 der Konvention und der Unumkehrbarkeit der Schädigung beimisst, die verursacht wird, wenn die befürchtete Folter oder Misshandlung eintritt, hat er befunden, dass nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention nur Rechtsbehelfe mit aufschiebender Wirkung auszuschöpfen sind (siehe Sow ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 27081/13, Rdnr. 47, 19. Januar 2016; Sultani ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 45223/05, Rdnr. 50, 20. September 2007).
23. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 3 nicht nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückgewiesen werden kann, da er von allen Rechtsbehelfen mit aufschiebender Wirkung Gebrauch gemacht hat.
2. Ist die Individualbeschwerde offensichtlich unbegründet?
a) Die Stellungnahmen der Parteien
24. Die Regierung machte geltend, die innerstaatlichen Gerichte – insbesondere das Bundesverwaltungsgericht – hätten eine umfassende Würdigung aller verfügbaren Informationen vorgenommen. Ausgehend von diesen Informationen habe das Gericht zutreffend geschlussfolgert, dass der Beschwerdeführer bei seiner Rückkehr nach Russland keiner Gefahr von Folter oder Misshandlung ausgesetzt sein würde. Keiner der verfügbaren Berichte bestätige die These, dass dem Beschwerdeführer Gefahr drohe, sofern er nicht in den Nordkaukasus abgeschoben werde. Außerdem lägen keine Berichte über zwangsweise Überstellungen aus anderen russischen Gebieten nach Dagestan oder Tschetschenien vor. Zusammenfassend trug die Regierung vor, dass weder die vorliegenden Berichte noch die Rechtsprechung des Gerichtshofs die Behauptungen des Beschwerdeführers untermauerten, wonach ihm Misshandlung, Folter, Entführung oder gar eine „extralegale“ Hinrichtung drohten, sollte er nach Russland zurückgeführt werden.
25. Der Beschwerdeführer verwies zur Bekräftigung seiner Rüge auf mehrere Berichte internationaler Nichtregierungsorganisationen (siehe Rdnrn. 15 bis 18) und machte geltend, dass aus diesen zwar nicht hervorgehe, dass konkret für ihn die Gefahr der Folter oder Misshandlung bestehe, dass sie aber dennoch belegten, dass es in Russland im Zusammenhang mit mutmaßlichen islamistischen Extremisten und „Aufständischen“ gehäuft zu Folter, Verschwindenlassen und „extralegalen“ Hinrichtungen komme. Angesichts der Gründe für seine Abschiebung sei er dieser Risikogruppe zuzurechnen. Außerdem könne die Argumentation der Regierung, dass er wegen seines Verhaltens in Deutschland nicht „präventiv“ gefoltert werden würde, nicht überzeugen. Aufgrund des internationalen Charakters des sogenannten „Islamischen Staates“ erscheine eine Differenzierung, die sich an Landesgrenzen orientiere, wirklichkeitsfremd. Die russischen Behörden würden großes Interesse an den mutmaßlichen Kontaktpersonen des Beschwerdeführers und deren Kommunikations- und Rekrutierungsmethoden haben. Die Regierung habe eingeräumt, dass der Beschwerdeführer befragt werden würde. Den vorliegenden Berichten zufolge komme es bei der Befragung mutmaßlicher islamistischer Extremisten häufig zu Folterungen.
26. Der Beschwerdeführer legte auch Informationen vor, die er nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2017 von der russischen Nichtregierungsorganisation „Memorial“ erhalten hatte. Auf die Frage, ob eine wegen Terrorverdacht aus Deutschland abgeschobene Person das Interesse der russischen Sicherheitskräfte wecken würde, hatte die NGO geantwortet:
„Einer aus Deutschland abgeschobenen Person wird zweifellos soziale Aufmerksamkeit entgegengebracht werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zum Opfer von Verfolgung und Folter wird, ist erhöht. Wird die Person mit einem Stigma wie dem Verdacht terroristischer Absichten ausgewiesen, erhöht sich die Gefahr um ein Vielfaches.“
b) Würdigung durch den Gerichtshof
27. Der Gerichtshof wiederholt eingangs, dass er sich seit seiner Errichtung stets voll und ganz der Schwierigkeiten bewusst war, denen sich Staaten beim Schutz ihrer Bevölkerung vor terroristischer Gewalt, die selbst eine schwere Bedrohung der Menschenrechte darstellt, gegenübersehen. Den Staaten muss im Rahmen der Terrorismusbekämpfung die Abschiebung von ausländischen Staatsangehörigen, die sie als eine Gefahr für ihre nationale Sicherheit ansehen, erlaubt sein. Es gehört nicht zu den Aufgaben dieses Gerichtshofs nach Artikel 3 der Konvention, zu prüfen, ob eine Person tatsächlich eine solche Gefahr darstellt; seine Aufgabe besteht allein darin zu prüfen, ob die Abschiebung dieser Person mit ihren Rechten aus der Konvention vereinbar wäre. Wie immer wieder festgestellt wurde, kann eine Abschiebung durch einen Vertragsstaat eine Frage nach Artikel 3 und daher eine Verantwortlichkeit dieses Staates nach der Konvention begründen, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme vorgebracht wurden, dass für die betreffende Person im Falle ihrer Abschiebung tatsächlich die Gefahr besteht, einer Artikel 3 verletzenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Unter solchen Umständen ergibt sich aus Artikel 3 eine Verpflichtung, die betreffende Person nicht in dieses Land abzuschieben. Artikel 3 ist absolut und die Gefahr einer Misshandlung kann nicht gegen die Gründe für die Abschiebung abgewogen werden (siehe Othman (Abu Qatada) ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8139/09, Rdnrn. 183 bis 185, ECHR 2012 (Auszüge), m. w. N.).
28. Der Gerichtshof hat seine Vorgehensweise zur Einschätzung der Gefahr einer Artikel 3 verletzenden Behandlung in Abschiebungsfällen in der Rechtssache Saadi ./. Italien ([GK], Individualbeschwerde Nr. 37201/06, Rdnrn. 128 bis 33, ECHR 2008, m. w. N.) zusammengefasst:
„128. Bei der Prüfung[1], ob ernsthafte Gründe dafür vorgebracht wurden, dass tatsächlich die Gefahr einer mit Artikel 3 der Konvention unvereinbaren Behandlung besteht, berücksichtigt der Gerichtshof das gesamte Material, das ihm vorgelegt worden ist oder das er gegebenenfalls von Amts wegen eingeholt hat. In Fällen wie diesem muss der Gerichtshof bei der Prüfung, ob eine tatsächliche Gefahr besteht, notwendigerweise strenge Maßstäbe anlegen.
129. Grundsätzlich muss der Beschwerdeführer Beweise beibringen, die belegen können, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass er im Fall der Durchführung der angegriffenen Maßnahme tatsächlich der Gefahr einer Artikel 3 verletzenden Behandlung ausgesetzt wäre. Wenn solche Beweise beigebracht werden, ist es an der Regierung, den so begründeten Verdacht auszuräumen.
130. Bei der Entscheidung darüber, ob Misshandlungsgefahr besteht, muss der Gerichtshof die absehbaren Folgen einer Abschiebung des Beschwerdeführers in das Aufnahmeland unter Berücksichtigung der dortigen allgemeinen Lage und der besonderen Umstände des Betroffenen prüfen.
131. Zur allgemeinen Lage in einem Land hat der Gerichtshof dabei häufig Informationen aus aktuellen Berichten unabhängiger internationaler Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Informationen aus Regierungsquellen wie dem US-Außenministerium Bedeutung beigemessen. Gleichzeitig hat er festgestellt, dass die bloße Möglichkeit von Misshandlungen aufgrund der unsicheren Lage im Aufnahmeland für sich genommen noch nicht zu einer Verletzung von Artikel 3 führt und dass in Fällen, in denen die verfügbaren Quellen eine allgemeine Lage beschreiben, die konkreten Behauptungen eines Beschwerdeführers im Einzelfall der Bestätigung durch andere Beweise bedürfen.
132. In Fällen, in denen ein Beschwerdeführer behauptet, einer Personengruppe anzugehören, die systematisch Misshandlungen ausgesetzt ist, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Schutz von Artikel 3 der Konvention ins Spiel kommt, wenn der Beschwerdeführer – ggf. mithilfe der vorstehend erwähnten Quellen – beweist, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass eine solche Praxis existiert und der Beschwerdeführer der betroffenen Personengruppe angehört.
133. Was den maßgeblichen Zeitpunkt angeht, muss bei der Einschätzung der Gefahr vorrangig auf die Tatsachen abgestellt werden, die dem Vertragsstaat im Zeitpunkt der Abschiebung bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen. Wenn aber der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Prüfung durch den Gerichtshof noch nicht ausgeliefert oder abgeschoben worden ist, ist der maßgebliche Zeitpunkt der des Verfahrens vor dem Gerichtshof. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Ausweisung oder Abschiebung wie in der vorliegenden Rechtssache aufgeschoben worden ist, weil der Gerichtshof nach Artikel 39 der Verfahrensordnung eine vorläufige Maßnahme bezeichnet hat. Dementsprechend sind die historischen Tatsachen zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und deren wahrscheinliche Entwicklung beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
29. Bei der Anwendung der vorstehend umrissenen Grundprinzipien auf den vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner umfangreichen Entscheidung detailliert mit öffentlich zugänglichen Berichten auseinandergesetzt hat. Da es der Ansicht war, die zur Verfügung stehenden Berichte träfen auf die Situation des Beschwerdeführers nicht zu, forderte es u. a. vom Auswärtigen Amt weitere Auskünfte zum vorliegenden Fall an. Nach Erhalt dieser Auskünfte, die von einer russischen Nichtregierungsorganisation bezogen worden waren, gelangte es zu der Überzeugung, dass auch, wenn in der Geburtsregion des Beschwerdeführers, der Region Dagestan, Folter- und Misshandlungsgefahr herrsche, in anderen Gebieten der Russischen Föderation kein derartiges Risiko bestehe. Da keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Beschwerdeführer gegen seinen Willen nach Dagestan verbracht werden würde, befand das Bundesverwaltungsgericht, dass er nach seiner Abschiebung nach Russland nicht gefoltert oder misshandelt werden würde. Diese Einschätzung wurde anschließend vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.
30. Der Gerichtshof schließt sich dieser Einschätzung an und stellt in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht fest, dass die vorhandenen Berichte im Wesentlichen die Situation von Personen betreffen, die entweder selbst direkt mit den Konflikten im Nordkaukasus in Verbindung stehen oder Angehörige solcher Personen sind. Der Beschwerdeführer steht jedoch nicht in Verbindung mit diesen Konflikten, da er Dagestan im Alter von drei Jahren verlassen hat. Folglich lässt sich den Berichten nicht entnehmen, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückführung nach Russland der Gefahr der Folter oder Misshandlung ausgesetzt sein würde.
31. Die einzigen Informationen, die sich speziell auf die von dem Beschwerdeführer nach seiner möglichen Abschiebung zu erwartende Situation beziehen, sind die Angaben des „Komitees zur Verhinderung von Folter“ (siehe Rdnrn. 10 und 11), die dem Auswärtigen Amt erteilten Auskünfte (siehe Rdnr. 11) und die von dem Beschwerdeführer vorgelegte Antwort der Organisation „Memorial“ (siehe Rdnr. 26).
32. Da Letztere den nationalen Behörden während des innerstaatlichen Verfahrens nicht zur Verfügung stand, muss der Gerichtshof prüfen, ob die neuen Informationen, die den vom „Komitee zur Verhinderung von Folter“ gemachten und den im innerstaatlichen Verfahren herangezogenen Angaben (siehe Rdnrn. 10 und 11) widersprechen, dazu geeignet sind, die – bisher zutreffenden – Schlussfolgerungen des Bundesverwaltungsgerichts infrage zu stellen. Während das „Komitee zur Verhinderung von Folter“ davon ausgeht, dass eine präventive Folterung des Beschwerdeführers höchst unwahrscheinlich sei, auch wenn er von den Sicherheitsbehörden befragt und überwacht werden würde, gab „Memorial“ an, dass ein stark erhöhtes Risiko bestehe, dass der Beschwerdeführer zum Opfer von Verfolgung und Folter werde.
33. Der Gerichtshof hält beide Organisationen für gleichermaßen glaubwürdig, stellt aber fest, dass beide nicht auf frühere vergleichbare Abschiebungen verwiesen haben, um ihre Annahmen zu belegen. Folglich sieht der Gerichtshof keinen Grund, hier von der Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte abzuweichen.
34. Unter Berücksichtigung der sorgfältigen Beweiswürdigung und umfassenden Prüfung durch die innerstaatlichen Gerichte und im Lichte aller ihm vorliegenden Unterlagen kommt der Gerichtshof nicht umhin festzustellen, dass angesichts der Tatsache, dass der Beschwerdeführer nicht mit den Konflikten im Nordkaukasus in Verbindung steht, keine ernsthaften Gründe für die Annahme bestehen, dass er im Falle seiner Abschiebung nach Russland tatsächlich der Gefahr einer Artikel 3 verletzenden Behandlung ausgesetzt wäre.
35. Diese Rüge ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
B. Artikel 13 in Verbindung mit Artikel 3 der Konvention
36. Was die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 13 i. V. m. Artikel 3 der Konvention anbelangt, dass die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Prüfung nicht gründlich genug gewesen sei, so hat sich der Gerichtshof mit dieser Behauptung bereits im Rahmen seiner Prüfung hinsichtlich Artikel 3 auseinandergesetzt (siehe Rdnrn. 29 bis 32). Der Gerichtshof stellt auch fest, dass dem Beschwerdeführer zwei Rechtsbehelfe zur Verfügung standen, mit denen er eine Aufschiebung seiner Abschiebung erreichen konnte.
37. Diese Rüge ist daher ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
C. Artikel 8 der Konvention
38. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Hauptsacheverfahren, durch das die Fragen nach Artikel 8 der Konvention aufgeworfen werden, noch vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängig ist. Folglich ist diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 30. November 2017.
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
____________
[1] Hinweis: Passage übersetzt unter Verwendung von „Saadi/Italien, NVwZ 2008, 1330“ = Übersetzung bzw. Bearbeitung von Dr. Jens Meyer-Ladewig, Wachtberg, und Professor Dr. Herbert Petzold, Straßburg
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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