EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE H. UND S. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 47274/15)
URTEIL
STRASSBURG
9. November 2017
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache H. und S. ./. Deutschland
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion), als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Nona Tsotsoria, Präsidentin,
Angelika Nußberger,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits und
Lәtif Hüseynov
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
nach nicht öffentlicher Beratung am 26. September 2017
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 47274/15) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei deutsche Staatsangehörige, H. und S. („die Beschwerdeführer“), am 22. September 2015 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten.
2. Die Beschwerdeführer wurden von Herrn N., Rechtsanwalt in M., und Frau L., Rechtsanwältin in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Die Beschwerdeführer machten unter Berufung auf Artikel 3 der Konvention geltend, dass Polizeibeamte sie geschlagen und Pfefferspray gegen sie eingesetzt hätten, und dass diese aufgrund unzulänglicher Ermittlungen weder identifiziert noch bestraft worden seien. Ferner rügten sie unter Berufung auf Artikel 13, dass ihnen kein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden habe, um die Einstellung des Ermittlungsverfahrens und die Ineffektivität der Ermittlungen zu beanstanden.
4. Am 26. Februar 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der erste Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in I. Der zweite Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in H.
A. Der Polizeieinsatz
6. Am 9. Dezember 2007 besuchten die beiden Beschwerdeführer ein Fußballspiel in M.
7. Die Polizei rechnete mit einem erhöhten Risiko von Ausschreitungen zwischen rivalisierenden Fußballfans, weil es bereits in der Vergangenheit bei Spielen zwischen den beiden Mannschaften zu Auseinandersetzungen gekommen war. Daher wurden insgesamt 227 Polizeibeamte eingesetzt, darunter 2 Gruppen – mit jeweils 8 bis 10 Polizeibeamten – des 3. Einsatzzuges des Unterstützungskommandos M. (USK), eine Gruppe des 2. Einsatzzuges des USK M. sowie die 23. Einsatzhundertschaft[1] der VI. Bereitschaftspolizeiabteilung D. Unter den eingesetzten Beamten des USK M. waren auch Videobeamte, die Handvideokameras trugen und Videoaufnahmen von Vorkommnissen machten, die strafrechtlich relevant sein könnten. Die Beamten des USK M. trugen schwarze/dunkelblaue Uniformen und schwarze Helme mit Visieren. Die Beamten der Bereitschaftspolizei D. trugen grüne Uniformen und weiße Helme mit Visieren. Beide Uniformen waren nicht mit Namensschildern oder sonstigen Zeichen versehen, anhand derer die einzelnen Beamten hätten identifiziert werden können. An der Rückseite der Helme waren jedoch die Identifikationsnummern der betreffenden Züge angebracht.
8. Nach Ende des Spiels sperrte die Polizei die Fantribüne der einen Mannschaft, auf der sich auch die beiden Beschwerdeführer befanden, ab, um die Fans am Verlassen des Stadions und an einem Zusammentreffen mit den Fans der anderen Mannschaft zu hindern. Die Sperre wurde nach etwa 15 Minuten aufgehoben.
1. Das weitere Geschehen nach Darstellung der Beschwerdeführer
9. Dem ersten Beschwerdeführer zufolge verließ er die Tribüne, nachdem die Blocksperre aufgehoben worden war. Auf dem Weg zwischen dem Tribünenausgang und dem Ausgang des Fußballstadions sei eine Gruppe von Polizeibeamten in schwarzen Uniformen und mit erhobenen Schlagstöcken in Richtung der Besucher gerannt, die gerade das Stadion verließen. Einige dieser Beamten hätten sofort und ohne Vorwarnung mit ihren Schlagstöcken auf die Zuschauer eingeschlagen. Der erste Beschwerdeführer selbst habe durch einen Schlag mit einem Schlagstock auf den Kopf eine blutende, ca. 3 cm
lange Platzwunde hinter dem Ohr erlitten. Nach Erreichen des Stadionausgangs sei er von einem Rettungsassistenten in einem in der Nähe des Geländes geparkten Krankenwagen behandelt worden. Danach sei er in seine Heimatstadt zurückgekehrt, wo er in der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses behandelt worden sei.
10. Der zweite Beschwerdeführer habe ebenfalls die Tribüne verlassen, nachdem die Blocksperre aufgehoben worden sei. Vor Verlassen des Stadions sei er an der Schulter gepackt worden und nachdem er sich umgedreht habe, sei ihm aus kurzer Distanz Pfefferspray ins Gesicht gesprüht worden. Er habe sich auf den Boden gelegt, woraufhin ihm mit einem Schlagstock auf den linken Oberarm geschlagen worden sei. Er habe Schwellungen und Rötungen des Gesichts sowie Schmerzen am Arm erlitten.
11. Beide Beschwerdeführer hätten ihre Angreifer als Polizeibeamte identifizieren können, seien jedoch nicht der Lage gewesen, sie genauer zu unterscheiden, da sie identische Uniformen ohne Kennzeichnung oder Namensschilder getragen hätten.
2. Das weitere Geschehen nach Darstellung der Regierung
12. Der Regierung zufolge wurde die Blocksperre aufgrund des aggressiven Verhaltens einiger Zuschauer und des auf die polizeiliche Absperrung ausgeübten Drucks aufgehoben. Als die Fans von der Tribüne in Richtung Ausgang geströmt seien, seien sie auf zur Verstärkung der polizeilichen Absperrung hinzugekommene Polizeieinheiten getroffen. Danach hätten einige Fans ihr aggressives Verhalten gegenüber diesen Beamten fortgesetzt und sie provoziert. Das Verhalten der Fans habe zur Festnahme eines Fans geführt, zwei Polizeibeamte seien leicht verletzt worden. Nach einigen Minuten habe die Polizei die Situation beruhigen und die das Stadion verlassenden Fans unter Kontrolle bringen können.
13. Die Regierung zog die Schilderungen der Beschwerdeführer in Zweifel und trug vor, es gebe keine glaubwürdigen Beweise dafür, dass die Beschwerdeführer von Polizeibeamten gezielt geschlagen oder geschädigt worden und die Verletzungen Folge des Polizeieinsatzes gewesen wären.
B. Die Ermittlungen
14. Vom 15. Dezember 2007 an berichtete die Presse über den Polizeieinsatz nach dem Fußballspiel, wobei u. a. Fußballfans zitiert wurden, die willkürliche Übergriffe durch Polizeibeamte des USK mit Schlagstöcken und Pfefferspray beschrieben. In einem Artikel vom 18. Dezember 2007 nahm ein Polizeisprecher zu dem Einsatz Stellung und erklärte, bezüglich der behaupteten Übergriffe durch Polizeibeamte werde ermittelt. Am 2. Januar 2008 leitete die Staatsanwaltschaft M. ein Vorermittlungsverfahren ein. Am 21. Januar 2008 brachte der zweite Beschwerdeführer die angebliche Polizeigewalt zur Anzeige und legte ein ärztliches Attest vom selben Tag über die Auswirkungen des Pfeffersprays auf sein Gesicht vor. Am 7. März 2008 stellte er formell Strafanzeige. Der erste Beschwerdeführer stellte am 25. April 2008 Strafanzeige gegen einen unbekannten Polizeibeamten. Er legte ebenfalls ein ärztliches Attest vor, in dem eine blutende Platzwunde an seinem Kopf bestätigt wurde. Das Attest datierte vom 10. Dezember 2007, 0.05 Uhr. Mehrere andere Zuschauer des Fußballspiels hatten ebenfalls Strafanzeigen gegen unbekannte Polizeibeamte gestellt.
15. Die Ermittlungen wurden vom Dezernat für Amtsdelikte der Polizei M. unter der Verantwortung der Staatsanwaltschaft M. geführt. Der zuständige Beamte befragte insgesamt 20 Zeugen, darunter die Beschwerdeführer, den Leiter des USK M. und die Gruppenführer der eingesetzten Gruppen der 2. und 3. Einsatzzüge des USK M.
16. Dem ermittelnden Dezernat wurde auch eine DVD mit Ausschnitten der Videoüberwachung zur Verfügung gestellt, die das USK bei dem Fußballspiel aufgezeichnet hatte. Die DVDs waren von den Videobeamten des USK M. zusammengestellt worden. In Übereinstimmung mit ihrem üblichen Verfahren wurde das gesamte Videomaterial von dem jeweiligen Videobeamten nach seinem Einsatz gesichtet und die Teile, die als strafrechtlich relevant und von ausreichender Aufnahmequalität als Beweismittel eingestuft wurden, auf eine DVD kopiert.
17. Am 10. September 2008 stellte der zuständige Staatsanwalt die Ermittlungen ein. Er stellte fest, dass sich aus den Ermittlungen zwar Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass einige der Polizeibeamten auf unverhältnismäßige Weise und ohne offizielle Anordnung oder Billigung Schlagstöcke gegen Zuschauer, darunter Frauen und Kinder, eingesetzt hätten. Jedoch kam er zu dem Schluss, dass die Ermittlungen nicht dazu geführt hätten, dass bestimmten Polizeibeamten konkrete Gewalthandlungen zugeordnet werden könnten, und es könne auch nicht festgestellt werden, ob die Anwendung von Zwang gerechtfertigt gewesen sei. Zusammenfassend habe der Staatsanwalt weder feststellen können, ob die Verletzungen der Beschwerdeführer durch Polizeibeamte verursacht worden seien, noch habe er die Tatverdächtigen identifizieren können, die angeblich Schläge und Pfefferspray gegen die Beschwerdeführer eingesetzt hätten.
18. Die Beschwerdeführer legten gegen die Einstellungsverfügung Beschwerde ein und trugen dabei insbesondere vor, dass der Staatsanwalt nur die Führer der eingesetzten Gruppen vernommen, nicht aber alle an dem Einsatz beteiligten und im Bereich des in Rede stehenden Stadions eingesetzten Polizeibeamten identifiziert habe.
19. Am 14. Oktober 2008 nahm der Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren wieder auf und ordnete weitere Ermittlungen an. Am 20. Oktober 2008 fand ein Treffen zwischen dem Leiter der Ermittlungseinheit, den Zugführern des USK M. und weiterer Unterabteilungsleiter der Polizei M. statt. Weder der Staatsanwalt noch der Vertreter der Beschwerdeführer nahm an der internen Besprechung der Polizei teil. Im Anschluss wurden weitere 22 Zeugen befragt, darunter 14 Zugführer, Gruppenführer und Videobeamte der eingesetzten Polizeieinheiten. Die einzelnen Mitglieder der drei Gruppen des USK M. wurden nicht befragt. Die Beschwerdeführer hatten ihre Befragung beantragt, weil die vorliegenden Beweise darauf hingedeutet hätten, dass die angeblichen Täter einem dieser drei Gruppen angehörten.
20. Dem ermittelnden Polizeidezernat war auch Videoüberwachungsmaterial zur Verfügung gestellt worden, das von der 23. Einsatzhundertschaft[2] der VI. Bereitschaftspolizeiabteilung D. aufgezeichnet worden war. Auf den Antrag der Beschwerdeführer hin, das gesamte Videomaterial des Polizeieinsatzes zu sichern und nicht nur die bereits vorgelegten Videoausschnitte, wurde festgestellt, dass die Originalvideobänder bereits gelöscht worden waren und nur noch die Ausschnitte verfügbar waren.
21. Am 4. August 2009 stellte der Staatsanwalt die Ermittlungen erneut ein. In einer ausführlichen 15-seitigen Entscheidung fasste er zunächst die ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen zusammen und bezog sich dabei insbesondere auf die Befragung mehrerer Zeugen, darunter Polizeibeamte und die mutmaßlichen Opfer, die Sichtung des Videomaterials der Polizei und aus dem Internet, die Würdigung der Schriftsätze der Beschwerdeführer und der vorgelegten Unterlagen, u.a. ärztliche Atteste, sowie die eingeholten Informationen und Berichte über vergangene Vorkommnisse und anwendbare Richtlinien. Nach der Würdigung aller vorliegenden Beweise kam der Staatsanwalt zu dem Ergebnis, die Untersuchungen hätten gezeigt, dass mehrere Fans aggressiv auf die eingesetzten Polizeibeamten zugegangen seien und sie beleidigt und provoziert hätten, weshalb eine Situation bestanden habe, in der der Einsatz von Schlagstöcken durch die Beamten möglicherweise gerechtfertigt war. Neben dieser allgemeinen Schlussfolgerung stellte er fest, dass die Beschwerdeführer weder einen bestimmten Tatverdächtigen hätten identifizieren noch bestimmen können, ob es sich bei der verdächtigten Person um einen Polizeibeamten oder eine Polizeibeamtin gehandelt habe, und dass keine anderen Personen hätten ermittelt werden können, die die behaupteten, gegen die Beschwerdeführer gerichteten Handlungen beobachtet hätten. Ferner legte er ausführlich dar, dass „erhebliche Unstimmigkeiten“ der Zeugenaussagen des ersten Beschwerdeführers bestünden, und sprach im Zusammenhang mit dem zweiten Beschwerdeführer von „unspezifischen Angaben“. Es lägen daher keine ausreichenden Beweismittel vor, um strafbares Verhalten einzelner Polizeibeamter zum Nachteil der beiden Beschwerdeführer nachzuweisen, so der Staatsanwalt. Er kam zu dem Schluss, dass das Ermittlungsverfahren erneut einzustellen sei, weil die umfangreichen Nachermittlungen keine unverhältnismäßigen Handlungsweisen einzelner Polizeibeamter, insbesondere Schlagstockeinsätze gegen Unbeteiligte, ergeben hätten, die zu einer strafrechtlichen Verfolgung der entsprechenden Beamten hätten führen müssen.
22. Am 20. August 2009 legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein und wiesen darauf hin, dass die Beamten der eingesetzten Züge immer noch nicht vernommen worden seien und das gesichtete Videomaterial zwar lückenhaft sei, aber dennoch im Widerspruch zu bestimmten Angaben der Zugführer stehe.
23. Am 3. Februar 2011 bestätigte die Generalstaatsanwaltschaft M. die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft vom 4. August 2009. In der dem Bescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung wurden die Beschwerdeführer darüber informiert, dass sie eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen eines Klageerzwingungsverfahren beantragen könnten.
C. Das gerichtliche Verfahren
24. Am 19. September 2011 erklärte das Oberlandesgericht M. den Antrag der Beschwerdeführer zur Erzwingung weiterer Ermittlungen für unzulässig. Das Gericht legte den Antrag der Beschwerdeführer als Klageerzwingungsantrag aus und befand, dass ein Klageerzwingungsverfahren nur zulässig sei, wenn die Strafverfolgung eines oder mehrerer identifizierter Verdächtiger beantragt worden sei. Ein Klageerzwingungsverfahren gegen Unbekannt sei für unzulässig zu erklären, weil der Zweck des Verfahrens nicht darin liege, einen Beschuldigten zu ermitteln oder Ermittlungen zu ersetzen. Nur in einem Fall, in dem die Staatsanwaltschaft vollständig von Ermittlungen bezüglich einer Straftat abgesehen habe, könne das Gericht Ermittlungen anordnen. Gemäß § 173 Abs. 3 Strafprozessordnung (StPO; siehe Rdnr. 37) dürfe das Gericht lediglich geringfügige Untersuchungen durchführen, um bestehende Ermittlungslücken zu schließen. Im Übrigen hätten die Beschwerdeführer keine konkreten Tatsachen vorgetragen oder Beweise vorgelegt, auf deren Grundlage das Gericht einen Beschuldigten hätte ermitteln können.
25. Am 25. Oktober 2011 legten die Beschwerdeführer unter Berufung auf Artikel 2 Abs. 2, Artikel 19 Abs. 4 und Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz Verfassungsbeschwerde ein (siehe Rdnrn. 29-31). Neben Bestimmungen aus dem Grundgesetz nahmen die Beschwerdeführer in ihrer Beschwerde auch auf die Artikel 2, 3 und 13 der Konvention Bezug. Im Wesentlichen rügten sie, dass das Ermittlungsverfahren nicht effektiv gewesen sei und dass das Oberlandesgericht die Effektivität des Ermittlungsverfahrens nicht geprüft habe.
26. Am 23. März 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht in einem mit Gründen versehenen Beschluss (2 BvR 1304/12) ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zur Entscheidung anzunehmen. Das Gericht stellte fest, dass die Ermittlungen gewissenhaft erfolgt seien, aber keinen hinreichenden Verdacht strafbaren Verhaltens bestimmter Polizeibeamter ergeben hätten. Ferner seien die verbliebenen Lücken und Unsicherheiten tatsächlicher Art nicht auf Unterlassungen bei den Ermittlungen zurückzuführen. Das Gericht befand weiter, dass es nicht erforderlich gewesen sei, alle möglicherweise beteiligten Mitglieder der betreffenden Gruppen zu vernehmen. In seiner Entscheidung verwies das Bundesverfassungsgericht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der verfahrensrechtlichen Verpflichtung aus Artikel 2 der Konvention, insbesondere auf die Rechtssachen McCann u. a. ./. Vereinigtes Königreich (27. September 1995, Serie A Nr. 324) und G. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 33677/96, ECHR 1999‑VII). Das Gericht betonte zudem, dass die Staatsanwaltschaft die für das Ermittlungsverfahren zuständige Behörde und daher „Herrin des Verfahrens“ gewesen sei.
D. Sonstige Ermittlungen
27. Während der Ermittlungen stellten die Beschwerdeführer auch Strafanzeigen wegen Strafvereitelung im Amt und Beweismittelunterdrückung. Die Beschwerdeführer behaupteten, dass mehrere relevante Teile des Videomaterials, auf dem unverhältnismäßige Polizeigewalt zu sehen gewesen sei, gelöscht worden seien. Das Ermittlungsverfahren gegen die fünf Polizeibeamten wurde von der Staatsanwaltschaft M. eingestellt.
28. Eine daraufhin erhobene Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft M. blieb erfolglos.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Das deutsche Grundgesetz
29. Artikel 2 Abs. 2 Grundgesetz lautet:
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
30. Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz lautet, soweit maßgeblich:
„Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. […]“
31. Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz lautet, soweit maßgeblich:
„Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. […]“
B. Das Strafverfahren
32. Die einschlägigen Bestimmungen der Strafprozessordnung lauten, soweit maßgeblich:
§ 152
„(1) Zur Erhebung der öffentlichen Klage ist die Staatsanwaltschaft berufen.
(2) Sie ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“
§ 160
„(1) Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen. […]“
§ 170
„(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.“
(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Hiervon setzt sie den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als solcher vernommen worden ist oder ein Haftbefehl gegen ihn erlassen war; dasselbe gilt, wenn er um einen Bescheid gebeten hat oder wenn ein besonderes Interesse an der Bekanntgabe ersichtlich ist.“
§ 171
„Gibt die Staatsanwaltschaft einem Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage keine Folge oder verfügt sie nach dem Abschluß der Ermittlungen die Einstellung des Verfahrens, so hat sie den Antragsteller unter Angabe der Gründe zu bescheiden. […]”
§ 200
„(1) Die Anklageschrift hat den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen (Anklagesatz). […]“
C. Aufbau der Staatsanwaltschaft
33. Der Aufbau der Staatsanwaltschaft ist im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt. Die einschlägigen Bestimmungen lauten, soweit maßgeblich:
§ 142 Gerichtsverfassungsgesetz
„(1) Das Amt der Staatsanwaltschaft wird ausgeübt:
[…]
2. bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten durch einen oder mehrere Staatsanwälte;
3. bei den Amtsgerichten durch einen oder mehrere Staatsanwälte oder Amtsanwälte. […]“
§ 146 Gerichtsverfassungsgesetz
„Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen.“
§ 147 Gerichtsverfassungsgesetz
„Das Recht der Aufsicht und Leitung steht zu:
[…]
2. der Landesjustizverwaltungen hinsichtlich aller staatsanwaltschaftlichen Beamten des betreffenden Landes;
3. des ersten Beamten der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten und den Landgerichten hinsichtlich aller Beamten der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks.“
34. Der erste Beamte der Staatsanwaltschaft bei den Oberlandesgerichten trägt den Titel Generalstaatsanwalt. Die Generalstaatsanwaltschaft M. hat u. a. die Aufsicht über die Staatsanwälte beim Landgericht M.
D. Verhältnis von Polizei und Staatsanwaltschaft
35. Die hierarchische Ordnung und die Beziehungen zwischen der Staatsanwaltschaft und der Polizei sind in der Strafprozessordnung und im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt. Die einschlägigen Bestimmungen lauten, soweit maßgeblich:
§ 161 Strafprozessordnung
„(1) Zu dem in § 160 Abs. 1 bis 3 bezeichneten Zweck ist die Staatsanwaltschaft befugt, von allen Behörden Auskunft zu verlangen und Ermittlungen jeder Art entweder selbst vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen zu lassen, soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln. Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes sind verpflichtet, dem Ersuchen oder Auftrag der Staatsanwaltschaft zu genügen, und in diesem Falle befugt, von allen Behörden Auskunft zu verlangen.“
§ 163 Strafprozessordnung
„(1) Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes haben Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten. Zu diesem Zweck sind sie befugt, alle Behörden um Auskunft zu ersuchen, bei Gefahr im Verzug auch, die Auskunft zu verlangen, sowie Ermittlungen jeder Art vorzunehmen, soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln.
(2) Die Behörden und Beamten des Polizeidienstes übersenden ihre Verhandlungen ohne Verzug der Staatsanwaltschaft. Erscheint die schleunige Vornahme richterlicher Untersuchungshandlungen erforderlich, so kann die Übersendung unmittelbar an das Amtsgericht erfolgen. […]“
§ 152 Gerichtsverfassungsgesetz
„(1) Die Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft sind in dieser Eigenschaft verpflichtet den Anordnungen der Staatsanwaltschaft ihres Bezirks und der dieser vorgesetzten Beamten Folge zu leisten. […]“
E. Das Klageerzwingungsverfahren
36. Die Möglichkeiten eines Verletzten, eine Entscheidung über die Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens anzufechten, sind in § 172 StPO geregelt, der, soweit maßgeblich, lautet:
„(1) Ist der Antragsteller zugleich der Verletzte, so steht ihm gegen den Bescheid nach § 171 [siehe Rdnr. 32] binnen zwei Wochen nach der Bekanntmachung die Beschwerde an den vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft zu. […]
(2) Gegen den ablehnenden Bescheid des vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft kann der Antragsteller binnen einem Monat nach der Bekanntmachung gerichtliche Entscheidung beantragen. Hierüber und über die dafür vorgesehene Form ist er zu belehren; die Frist läuft nicht, wenn die Belehrung unterblieben ist. […]
(3) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung muß die Tatsachen, welche die Erhebung der öffentlichen Klage begründen sollen, und die Beweismittel angeben. Er muß von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein; für die Prozeßkostenhilfe gelten dieselben Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Der Antrag ist bei dem für die Entscheidung zuständigen Gericht einzureichen.
(4) Zur Entscheidung über den Antrag ist das Oberlandesgericht zuständig. […]“
37. Die Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Regelung des Klageerzwingungsverfahrens lauten:
§ 173
„(1) Auf Verlangen des Gerichts hat ihm die Staatsanwaltschaft die bisher von ihr geführten Verhandlungen vorzulegen.
(2) Das Gericht kann den Antrag unter Bestimmung einer Frist dem Beschuldigten zur Erklärung mitteilen.
(3) Das Gericht kann zur Vorbereitung seiner Entscheidung Ermittlungen anordnen und mit ihrer Vornahme einen beauftragten oder ersuchten Richter betrauen.“
§ 175
„Erachtet das Gericht nach Anhörung des Beschuldigten den Antrag für begründet, so beschließt es die Erhebung der öffentlichen Klage. Die Durchführung dieses Beschlusses liegt der Staatsanwaltschaft ob.“
F. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
38. Nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts alle Verfassungsorgane, Gerichte und Verwaltungsbehörden. Er lautet:
„(1) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“
39. Nach § 32 BVerfGG ist das Bundesverfassungsgericht befugt, einstweilige Anordnungen zu erlassen, und nach § 35 BVerfGG kann es bestimmen, wer seine Entscheidungen vollstreckt, und die Art und Weise der Vollstreckung regeln. Diese Bestimmungen lauten, soweit maßgeblich:
§ 32
„(1) Das Bundesverfassungsgericht kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. […]“
§ 35
„Das Bundesverfassungsgericht kann in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln.“
40. Die einschlägigen Bestimmungen zur Regelung von Verfassungsbeschwerdeverfahren lauten:
§ 90
„(1) Jedermann kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, Artikel 33, 38, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben.
(2) Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde.“
§ 95
„(1) Wird der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, so ist in der Entscheidung festzustellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes und durch welche Handlung oder Unterlassung sie verletzt wurde. Das Bundesverfassungsgericht kann zugleich aussprechen, daß auch jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz verletzt.
(2) Wird der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung stattgegeben, so hebt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung auf, in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 verweist es die Sache an ein zuständiges Gericht zurück. […]“
41. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Begriff „Entscheidung“ in § 95 Abs. 2 BVerfGG nicht auf gerichtliche Entscheidungen beschränkt, sondern dahingehend zu verstehen, dass er jeden ein Grundrecht eines Beschwerdeführers verletzenden Akt der öffentlichen Gewalt umfasst (1 BvR 289/56, 7. Mai 1957). Diesem Verständnis entsprechend hob das Bundesverfassungsgericht in der Rechtssache 2 BvR 878/05 (17. November 2005) die Gründe einer Entscheidung über die Einstellung eines Strafverfahrens auf, weil sie die Unschuldsvermutung verletzten.
III. DAS EINSCHLÄGIGE VÖLKERRECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS
42. Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) führte in seinem am 1. Juni 2017 veröffentlichten Bericht an die Bundesregierung über den Besuch in Deutschland vom 25. November bis 7. Dezember 2010 (CPT/Inf (2017) 13) unter Bezugnahme auf die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen Kummer ./. Tschechische Republik (Individualbeschwerde Nr. 32133/11, Rdnrn. 85-87, 25. Juli 2013) und Eremiášová und Pechová ./. Tschechische Republik (Individualbeschwerde Nr. 23944/04, 16. Februar 2012) aus, dass er
„jedoch gewisse Zweifel daran hat, ob Ermittlungen, die von Ermittlern der zentralen Ermittlungsstellen gegen andere Polizeibeamte durchgeführt werden, tatsächlich als vollständig unabhängig und unparteiisch angesehen werden können – dies gilt umso mehr für Ermittlungen, die von Kriminalbeamten der Landeskriminalämter oder örtlichen Polizeipräsidien durchgeführt werden.“ (CPT/Inf (2017) 13, Rdnr. 18)
43. Der CPT bekräftigte seine Empfehlung an die Polizeibehörden, die erforderlichen Schritte zu unternehmen um sicherzustellen, dass Polizeibeamte, die Masken oder sonstige Ausrüstung tragen, die ihre Identifizierung erschweren können, zu verpflichten, ein deutlich sichtbares Mittel zur Identifizierung zu tragen (z. B. eine Nummer auf der Uniform und/oder am Helm). Er stellte fest:
„…hat der CPT wiederholt betont, dass geeignete Schutzvorkehrungen etabliert sein müssen die sicherstellen, dass Polizeibeamte, die Masken oder andere Ausrüstung tragen, durch die ihre Identifikation erschwert sein kann, für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden können (z. B. mit Hilfe einer gut sichtbaren Nummer auf der Uniform).17 Eine solche Regelung hätte mit großer Wahrscheinlichkeit auch eine vorbeugende Wirkung und würde das Risiko übermäßiger Gewaltanwendung und anderer Formen von Misshandlung beträchtlich verringern.“ (ebda., Rdnr. 21)
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 3 DER KONVENTION
44. Die Beschwerdeführer machten unter Berufung auf Artikel 3 der Konvention geltend, dass Polizeibeamten sie geschlagen und Pfefferspray gegen sie eingesetzt hätten, und dass diese aufgrund unzulänglicher Ermittlungen weder identifiziert noch bestraft worden seien. Sie rügten ferner, dass ihnen die deutsche Rechtsordnung keinen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zur Verfügung gestellt habe, um die behauptete Ineffektivität der Ermittlungen zu beanstanden. Insoweit beriefen sich die Beschwerdeführer auf Artikel 13 i. V. m. Artikel 3 der Konvention.
45. Der Gerichtshof, der Herr über die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist (siehe Bouyid ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 23380/09, Rdnr. 55, ECHR 2015), hält es für angemessen, die Rügen lediglich nach Artikel 3 der Konvention zur prüfen, der lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“
A. Die Stellungnahmen der Parteien
1. Die Beschwerdeführer
(a) Die materielle Rüge
46. Die Beschwerdeführer brachten vor, auf der Grundlage ihrer Stellungnahmen an den Gerichtshof und an die innerstaatlichen Behörden, die durch die vorgelegten ärztlichen Atteste bestätigt würden, sei nachgewiesen worden, dass Polizeibeamte Schläge und Pfefferspray gegen sie eingesetzt hätten. Ferner hätten die Ermittlungen nicht ergeben, dass sich die Beschwerdeführer in irgendeiner Weise aggressiv verhalten oder die Anwendung von Gewalt provoziert hätten. Folglich sei der von ihnen erlittene Übergriff nicht gerechtfertigt gewesen und stelle eine Misshandlung dar, die gegen Artikel 3 der Konvention verstoße.
(b) Die verfahrensrechtliche Rüge
(i) Effektive amtliche Ermittlungen
47. Die Beschwerdeführer trugen vor, dass es von Beginn an eine vertretbare Behauptung („arguable claim“) einer übermäßigen Gewaltanwendung durch die Polizei gegeben habe. Neben ihren eigenen Zeugenaussagen hätten die Aussagen anderer Zuschauer des Fußballspiels und mehrere Presseberichte ihre Darstellung der Geschehnisse bestätigt. Folglich seien die innerstaatlichen Behörden verpflichtet gewesen, geeignete Ermittlungen durchzuführen, um die verantwortlichen Polizeibeamten zu identifizieren und zu bestrafen.
48. Die Regierung habe dies jedoch versäumt, weil die Ermittlungen mit mehreren Mängeln behaftet gewesen seien, durch die sie ineffektiv geworden seien. Erstens hätten die Ermittlungen nie zur Feststellung der Identitäten der eingesetzten Polizeibeamten und damit der möglichen Tatverdächtigen geführt. Obwohl die Behörden behelmte Beamte ohne Kennzeichnung eingesetzt hätten, habe es das ermittelnde Dezernat abgelehnt, die fraglichen Beamten zu identifizieren und zu vernehmen. Zweitens seien die Ermittlungen nicht von einer hinreichend unabhängigen Behörde geführt worden. Die Staatsanwaltschaft sei aufgrund der Nähe zwischen der örtlichen Polizei und der örtlichen Staatsanwaltschaft sowie der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in jedem einzelnen Fall auf die örtliche Polizei für die Ermittlungen angewiesen sei, faktisch nicht unabhängig gewesen. Darüber hinaus seien die Ermittlungen in tatsächlicher Hinsicht von der Polizei M. geführt worden und die Staatsanwaltschaft M. sei lediglich über den Stand der Ermittlungen informiert worden. Die ermittelnde Einheit habe demselben Polizeidienst angehört wie die Polizeibeamten, bezüglich derer sie ermittelt habe. Somit hätten die ermittelnde Einheit und die Einheit, bezüglich derer ermittelt worden sei, dem Polizeipräsidium M. unterstanden, weshalb die Ermittlungen nicht als unabhängig oder unparteiisch angesehen werden könnten. Drittens seien die Ermittlungen weder prompt noch gründlich geführt worden. Der Ermittler habe es versäumt, das gesamte Videomaterial zu sichern, bevor es gelöscht worden sei; ferner habe er Zeugen erst erhebliche Zeit später vernommen und nie sämtliche eingesetzte Polizeibeamte oder den Rettungsassistenten vernommen.
49. Diese Mängel hätten die Identifizierung der Tatverdächtigen und die Erhebung weiterer Beweise verhindert, insbesondere Zeugenaussagen der Kollegen der Tatverdächtigen, die die Darstellungen der Beschwerdeführer bestätigt hätten. Zusammengefasst hätte der Einsatz behelmter Beamter ohne Kennzeichnung in Verbindung mit den mangelhaften Ermittlungen dazu geführt, dass die Täter straflos geblieben seien.
(ii) Rechtsbehelf zur Beanstandung der behaupteten Ineffektivität der Ermittlungen
50. Die Beschwerdeführer trugen vor, dass die deutsche Rechtsordnung ihnen keinen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung gestellt habe, um die Effektivität der Ermittlungen überprüfen zu lassen. Zunächst brachten sie vor, dass die Generalstaatsanwaltschaft aufgrund der hierarchischen Struktur der Staatsanwaltschaft nicht hinreichend unabhängig gewesen sei. Folglich könne die Beschwerde an die Generalstaatsanwaltschaft nach § 172 Abs. 1 StPO nicht als wirksamer Rechtsbehelf im Sinne von Artikel 13 der Konvention angesehen werden. Hinsichtlich der ihnen zur Verfügung stehenden gerichtlichen Rechtsbehelfe verwiesen sie auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Kaverzin ./. Ukraine (Individualbeschwerde Nr. 23893/03, Rdnr. 93, 15. Mai 2012) und trugen vor, ein wirksamer Rechtsbehelf hätte eine Befugnis der innerstaatlichen Gerichte vorausgesetzt, sämtliche erheblichen Beweise zu prüfen, die Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft aufzuheben und Ermittlungen einzuleiten. Dies sei jedoch bei ihnen nicht der Fall gewesen.
51. Ihr Antrag zur Erzwingung weiterer Ermittlungen sei vom Oberlandesgericht als Klageerzwingungsantrag ausgelegt und für unzulässig erklärt worden. Das Oberlandesgericht habe lediglich geprüft, ob die Staatsanwaltschaft vollständig von Ermittlungen bezüglich einer Straftat abgesehen habe, nicht aber, ob die Ermittlungen effektiv im Sinne von Artikel 3 der Konvention gewesen seien. Ferner habe das Gericht nur die Befugnis gehabt, Anklage zu erheben, nicht aber, die Ermittlungen wiederaufzunehmen.
52. Im Hinblick auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht trugen die Beschwerdeführer vor, dass sich das Gericht auf die Prüfung der Frage beschränkt habe, ob die Entscheidung des Oberlandesgerichts berechtigt gewesen sei. Es habe nicht geprüft, ob die Ermittlungen effektiv gewesen seien. Darüber hinaus habe das Bundesverfassungsgericht keine Befugnis gehabt, Ermittlungen einzuleiten oder konkrete Ermittlungsmaßnahmen anzuordnen. In Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz könne das Bundesverfassungsgericht nur feststellen, welche Vorschrift des Grundgesetzes verletzt worden sei (§ 95 Abs. 1) und die Rechtssache an das zuständige Gericht zurückverweisen (§ 95 Abs. 2 und § 90 Abs. 1). Das zuständige Gericht wäre jedoch wiederum das Oberlandesgericht gewesen, das zuvor befunden habe, keine rechtliche Befugnis zur Wiederaufnahme der Ermittlungen zu haben, und den Antrag zur Erzwingung weiterer Ermittlungen für unzulässig erklärt habe. Die Beschwerdeführer trugen ferner vor, dass es noch nie eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung gegeben habe, mit der die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens in Fällen bestätigt worden sei, in denen es um den Vorwurf der Polizeigewalt ging und in denen der Täter nicht identifiziert wurde.
2. Die Regierung
(a) Zulässigkeit
53. Die Regierung trug vor, dass das Argument der Beschwerdeführer, die Polizei habe während der Ermittlungen Videomaterial unterschlagen, wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen sei. Nachdem die Ermittlungen bezüglich dieses Vorwurfs eingestellt worden seien, hätten die Beschwerdeführer kein gerichtliches Klageerzwingungsverfahren angestrengt. Ferner hätten die Beschwerdeführer diese Frage nicht in ihrer Verfassungsbeschwerde vorgetragen. Auch die fehlende Promptheit der Ermittlungen hätten die Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht nicht gerügt. Schließlich hätten die Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht auch nicht das Fehlen eines Rechtsbehelfs beanstandet, insbesondere nicht die angeblich Ineffektivität des Klageerzwingungsverfahrens.
(b) Die materielle Rüge
54. Die Regierung machte geltend, es sei nicht über jeden vernünftigen Zweifel hinaus nachgewiesen worden, dass die Beschwerdeführer einer gegen Artikel 3 der Konvention verstoßenden Behandlung unterworfen worden seien oder dass die Behörden körperlichen Zwang angewendet hätten, der durch das Verhalten der Beschwerdeführer nicht unbedingt veranlasst gewesen wäre.
55. Was den Polizeieinsatz insgesamt angeht, trug die Regierung vor, dass sich die Polizei aggressivem Verhalten seitens einiger Fans gegenüber gesehen und in vertretbarer Weise ihre Schlagstöcke als Verteidigungswaffe eingesetzt habe. Es habe jedoch keine Hinweise darauf gegeben, dass Polizeibeamte gezielt Schläge oder Pfefferspray gegen den ersten oder zweiten Beschwerdeführer eingesetzt hätten. Die Darstellungen der Beschwerdeführer selbst seien weder glaubhaft noch durch Beweise gestützt gewesen.
(c) Die verfahrensrechtliche Rüge
(i) Effektives förmliches Ermittlungsverfahren
56. Hinsichtlich der Verpflichtung, Vorwürfe der Polizeigewalt effektiv zu ermitteln, brachte die Regierung vor, dass sich eine solche Verpflichtung mangels eines glaubwürdigen Vorwurfs nicht ergeben habe. Die deutschen Behörden hätten den Polizeieinsatz und die von den Beschwerdeführern erhobenen Vorwürfe dennoch effektiv untersucht.
57. Im Zuge der Ermittlungen seien 39 Zeugen vernommen worden, darunter die Videobeamten und die Führer der betreffenden Einheiten. Darüber hinaus sei das gesamte zur Verfügung stehende Videomaterial ausgewertet worden. Die Ermittlungen bezüglich des Vorwurfs, Videomaterial sei unterdrückt und absichtlich zerstört worden, hätten diesen nicht bestätigt, sondern vielmehr gezeigt, dass das Material in Übereinstimmung mit den allgemein geltenden Grundsätzen behandelt worden sei. Die Ermittlungen seien von einer unabhängigen Behörde, nämlich der Staatsanwaltschaft, geführt worden. Da diese Behörde nicht über eigene Ermittlungspersonen verfügt habe, habe sie Beamte des allgemeinen Polizeidiensts entsprechend angewiesen und beaufsichtigt. Schließlich seien die Ermittlungen mit hinreichender Promptheit und unter hinreichender Einbindung der Beschwerdeführer geführt worden.
58. Ferner könne die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO nur dann Anklage erheben, wenn die Ermittlungen hierzu genügend Anlass bieten würden. Dies sei in der vorliegenden Rechtssache nicht der Fall gewesen. Auch sei die Staatsanwaltschaft nicht verpflichtet gewesen, unorthodoxe Ermittlungsmaßnahmen anzuwenden. Solche Maßnahmen dürften unterbleiben, wenn eine prognostische Abwägung von Aufwand und Ertrag der Maßnahme deren Anwendung nicht rechtfertige. Daher habe die Staatsanwaltschaft zu Recht von einer Vernehmung der einzelnen beteiligten Polizeibeamten abgesehen, da sie bereits die Führer ihrer jeweiligen Einheiten vernommen habe.
59. Zusammengefasst hätten die Ermittlungen deshalb nicht zu einer Bestrafung eines Tatverdächtigen geführt, weil sich die Vorwürfe der Beschwerdeführer nicht bestätigt hätten, und nicht weil die verdächtigten Polizeibeamten nicht identifiziert worden seien oder nicht hätten identifiziert werden können.
(ii) Rechtsbehelf zur Beanstandung der behaupteten Ineffektivität der Ermittlungen
60. Die Regierung trug vor, dass Artikel 3 der Konvention keinen gerichtlichen Rechtsbehelf verlange und dass die Möglichkeit, eine Einstellungsentscheidung gemäß § 172 Abs. 1 StPO bei der Generalstaatsanwaltschaft zu beanstanden, die Erfordernisse der Konvention erfüllt habe. Auch wenn der Generalstaatsanwalt der vorgesetzte Beamte aller Staatsanwaltschaften in dem jeweiligen Gerichtsbezirk sei, verfüge er über seine eigenen Mitarbeiter und damit über ausreichende Unabhängigkeit von den ihm nachgeordneten Staatsanwaltschaften.
61. Außerdem hätten den Beschwerdeführern gerichtliche Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, um die Effektivität der Ermittlungen zu beanstanden. Zunächst das Klageerzwingungsverfahren, ein Rechtsbehelf, von dem sie auch Gebrauch gemacht hätten. Das Oberlandesgericht habe die für die Beschwerdeführer günstigste Rechtsauffassung angenommen, wonach es weitere Ermittlungen hätte anordnen können, wenn die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft völlig unzulänglich gewesen wären. Da nach den Feststellungen des Gerichts dies jedoch nicht der Fall gewesen sei und die Beschwerdeführer auch nicht dargelegt hätten, dass weitere Untersuchungen eine Aussicht auf Erfolg gehabt hätten, sei ihr Antrag für unzulässig erklärt worden. Die Regierung machte geltend, dass die Einschätzung des Oberlandesgerichts den Anforderungen an effektive Ermittlungen nach Artikel 3 der Konvention entsprochen habe.
62. Schließlich hätten die Beschwerdeführer die Effektivität der Ermittlungen auch vor dem Bundesverfassungsgericht beanstandet. Was die Verpflichtung angeht, Vorwürfen der Polizeigewalt nachzugehen, habe das Bundesverfassungsgericht unmittelbar auf die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs verwiesen und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Ermittlungen effektiv gewesen seien. Darüber hinaus sei das Bundesverfassungsgericht auch befugt gewesen, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten oder wiederaufzunehmen. Nach § 35 BVerfGG hätte das Bundesverfassungsgericht die Art und Weise der Vollstreckung seiner Entscheidung und die für die Vollstreckung seiner Entscheidung zuständige Behörde bestimmen und nach § 32 BVerfGG eine einstweilige Anordnung erlassen können. Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG hätte das Gericht die Einstellungsentscheidung der Staatsanwaltschaft auch aufheben können. Dies habe das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil in der Rechtssache 2 BvR 878/05 getan.
B. Würdigung durch den Gerichtshof
1. Zulässigkeit
63. Der Gerichtshof nimmt den Vortrag der Regierung zur Kenntnis, wonach die Beschwerdeführer keinen Klageerzwingungsantrag in Bezug auf die behauptete Unterdrückung von Beweisen und Videomaterial gestellt hätten. Er stellt insoweit fest, dass es bei diesem Verfahren um ein anderes Ermittlungsverfahren gegangen wäre. Während die Beschwerdeführer erfolglos einen Klageerzwingungsantrag zur Untersuchung des Vorwurfs der Polizeigewalt stellten, taten sie dies nicht in Bezug auf die Untersuchung der behaupteten Unterdrückung von Beweisen. Da die vorliegende Individualbeschwerde der Beschwerdeführer an den Gerichtshof den Vorwurf der Polizeigewalt betrifft, hält es der Gerichtshof hinsichtlich der vorliegenden Rüge nicht für erforderlich, dass die innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Bezug auf ein zweites, gesondertes Ermittlungsverfahren erschöpft wurden.
64. Ferner erhob die Regierung den Einwand der Nichterschöpfung in Bezug auf zwei Argumente der Beschwerdeführer (siehe Rdnr. 53), weil sie diese nicht in ihrer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht hätten. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen den Parteien unstrittig ist, dass die Beschwerdeführer die Effektivität der Ermittlungen vor dem Bundesverfassungsgericht beanstandet haben. Darüber hinaus verwiesen die Beschwerdeführer in ihrer Verfassungsbeschwerde auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der sich aus den Artikeln 2 und 3 ergebenden verfahrensrechtlichen Verpflichtung der Staaten, Ermittlungen prompt, gründlich und unabhängig zu führen. Er stellt ferner fest, dass die Beschwerdeführer den Ablauf und die Dauer der Ermittlungen und des anschließenden Gerichtsverfahrens detailliert beschrieben haben. Daher befindet der Gerichtshof, dass die Beschwerdeführer dem Bundesverfassungsgericht alle erheblichen Informationen zur Verfügung gestellt haben, um die Effektivität der Ermittlungen, die sie in ihrer Verfassungsbeschwerde beanstandeten, zu prüfen.
65. Soweit die Regierung den Einwand der Nichterschöpfung in Bezug auf die fehlende Möglichkeit zur Beanstandung der Effektivität der Ermittlungen erhoben hat, stellt der Gerichtshof schließlich fest, dass die Beschwerdeführer nach Artikel 19 Abs. 4 und Artikel 103 Abs. 1 Grundgesetz rügten, dass das Oberlandesgericht die Effektivität der Ermittlungen nicht beurteilt habe und auf mehrere angebliche, in ihrem Antrag zur Erzwingung weiterer Ermittlungen dargelegte Ermittlungsmängel nicht im Einzelnen eingegangen sei. In Anbetracht ihres Vorbringens in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht haben die Beschwerdeführer diese Rüge nach Ansicht des Gerichtshofs ausdrücklich und der Sache nach erhoben.
66. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerde nicht wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe seitens der Beschwerdeführer zurückgewiesen werden kann. Er stellt außerdem fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet und auch aus anderen Gründen nicht unzulässig ist. Deshalb ist die Rüge der Beschwerdeführer nach Artikel 3 in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht für zulässig zu erklären.
2. Begründetheit
(a) Die materielle Rüge
67. Der Gerichtshof stellt fest, dass er sich einem Streit über den genauen Hergang der Geschehnisse nach dem Fußballspiel vom 9. Dezember 2007 und über die Handlungen, die zu den Verletzungen der Beschwerdeführer führten, gegenüber sieht.
68. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er sich des subsidiären Charakters seiner Rolle bewusst ist, und er erkennt an, dass er zurückhaltend dabei sein muss, die Rolle eines erstinstanzlichen Tatsachengerichts zu übernehmen, wenn dies aufgrund der Umstände eines konkreten Falls nicht unvermeidbar ist. Dennoch muss der Gerichtshof in Fällen, in denen Vorwürfe nach Artikel 3 der Konvention erhoben werden, „besonders gründlich prüfen“, auch wenn bestimmte innerstaatliche Verfahren und Ermittlungen bereits erfolgt sind (siehe El-Masri ./. frühere jugoslawische Republik Mazedonien [GK] Individualbeschwerde Nr. 39630/09, Rdnr. 155, ECHR 2012, mit weiteren Nachweisen).
69. In Fällen, in denen sich die Darstellungen der Geschehnisse widersprechen, sieht sich der Gerichtshof unweigerlich denselben Schwierigkeiten gegenüber wie ein erstinstanzliches Gericht bei der Tatsachenfeststellung, und er muss seine Entscheidung auf der Grundlage der von den Verfahrensbeteiligten vorgelegten Beweismittel treffen. In den Verfahren vor dem Gerichtshof bestehen keine Zulässigkeitsbeschränkungen, was die Vorlage von Beweismitteln angeht und keine vorab festgelegten Formeln für deren Würdigung. Er zieht die Schlussfolgerungen, die seiner Auffassung nach durch die freie Würdigung aller Beweise gestützt werden; dies schließt Rückschlüsse ein, die sich aus den Tatsachen und dem Vortrag der Verfahrensbeteiligten ergeben (siehe Nachova u. a. ./. Bulgarien [GK],Individualbeschwerden Nrn. 43577/98 und 43579/98, Rdnr. 147, ECHR 2005‑VII). Der Gerichtshof wendet zwar grundsätzlich den Beweismaßstab „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus“ an, nach seiner ständigen Rechtsprechung ist der für eine bestimmte Schlussfolgerung notwendige Grad der Überzeugung – und in diesem Zusammenhang die Verteilung der Beweislast – jedoch untrennbar mit der Spezifizität der Tatsachen, der Art des erhobenen Vorwurfs und dem in Rede stehenden Konventionsrecht verbunden (ebda.).
70. Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass in Konventionsverfahren eine strikte Anwendung des Grundsatzes affirmanti incumbit probatio (dem Behauptenden obliegt der Beweis) nicht in allen Fällen angezeigt ist (siehe El-Masri, a. a. O., Rdnr. 152). Unter bestimmten Umständen hat der Gerichtshof die Schwierigkeiten, die mit der Erlangung von Beweismitteln verbunden sind, und die Tatsache, dass von den Beschwerdeführern häufig nur wenige Beweismittel zur Untermauerung ihrer Beschwerden vorgebracht werden können, berücksichtigt (siehe Saydulkhanova ./. Russland, Individualbeschwerden Nr. 25521/10, Rdnr. 56, 25. Juni 2015). Insbesondere wenn das in Rede stehende Geschehen ganz oder teilweise im ausschließlichen Kenntnisbereich der Behörden liegt, wie es etwa bei inhaftierten Personen, die ihrer Kontrolle unterstehen, der Fall ist, ergeben sich in Bezug auf Verletzungen, zu denen es während einer solchen Inhaftierung kommt, starke Tatsachenvermutungen. Die Beweislast obliegt dann der Regierung, die insoweit eine zufriedenstellende und überzeugende Erklärung liefern muss, indem sie Beweise für Tatsachen vorlegt, die die Darstellung der Geschehnisse durch das Opfer in Zweifel ziehen (siehe Saydulkhanova ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 25521/10, Rdnr. 56, 25. Juni 2015).
71. Diese Grundsätze gelten ebenso für alle Fälle, in denen eine Person der Kontrolle der Polizei oder einer ähnlichen Behörde untersteht, etwa bei einer Identitätsfeststellung auf einer Polizeiwache (ebda., Rdnr. 84).
72. Bei der Prüfung der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Beschwerdeführer das Fußballspiel freiwillig besuchten, aber von der Polizei etwa fünfzehn Minuten lang unfreiwillig auf der Tribüne festgehalten wurden. Der Gerichtshof stellt indes auch fest, dass die Blocksperre nur durch eine Abriegelung der Ausgänge aufrecht erhalten wurde und die Fans sich auf der Tribüne selbst immer noch frei bewegen konnten. Darüber hinaus kam es – nach den Angaben der Beschwerdeführer – zu der behaupteten Polizeigewalt erst, nachdem die Blocksperre aufgehoben worden war und die Beschwerdeführer die Tribüne verlassen hatten. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Beschwerdeführer nicht im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Bouyid, a. a. O., Rdnrn. 83, 84) der Kontrolle der Polizei unterstanden und dass die Beweislast nicht auf die Regierung verlagert werden konnte. Folglich oblag es den Beschwerdeführern, ihre tatsächlichen Argumente dadurch glaubhaft zu machen, dass sie dem Gerichtshof die erforderlichen Beweismittel vorlegen.
73. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer Teile der Ermittlungsakte vorlegten, darunter ihre eigenen sowie weitere Zeugenaussagen, ärztliche Atteste bezüglich ihrer Verletzungen sowie verschiedene Presseberichte über den Polizeieinsatz und das Fußballspiel. Ferner legten sie ihren Schriftwechsel mit der Staatsanwaltschaft und ihre Beschwerden an die Generalstaatsanwaltschaft und die innerstaatlichen Gerichte vor.
74. Der Gerichtshof hat bereits den hohen Beweiswert von ärztlichen Attesten, die das Vorliegen von Anzeichen für eine Misshandlung bestätigen und kurz nach der behaupteten Misshandlung ausgestellt wurden, hervorgehoben (siehe Bouyid, a. a. O., Rdnr. 92). Der Gerichtshof nimmt insoweit zur Kenntnis, dass das ärztliche Attest des ersten Beschwerdeführers in der Nacht nach dem Fußballspiel ausgestellt wurde und eine 3 cm lange blutende Platzwunde hinter seinem rechten Ohr bestätigte. In dem Attest wurde auch angegeben, dass die Platzwunde nach den Angaben des Patienten, d. h. des ersten Beschwerdeführers, durch einen Schlag mit einem Schlagstock verursacht worden sei. In dem ärztlichen Attest des zweiten Beschwerdeführers wurden Gesichtsrötungen festgestellt, die möglicherweise von Pfefferspray herrührten. Dieses Attest wurde jedoch erst am 21. Januar 2008 und auf Grundlage der Schilderungen des zweiten Beschwerdeführers sowie von ihm angeblich nach dem Fußballspiel aufgenommener Fotos erstellt. Nach Ansicht des Gerichtshofs bestätigen beide Atteste etwaige Folgen von Misshandlungen, nämlich Schläge auf den Kopf mit einem Schlagstock und das Sprühen von Pfefferspray in das Gesicht aus kurzer Distanz. Allerdings ist es so, dass die Atteste zwar die Verletzungen bestätigen, jedoch nicht deren spezifische Ursache. Zudem wurde das ärztliche Attest des zweiten Beschwerdeführers erst sechs Wochen nach der behaupteten Misshandlung ausgestellt und beruhte nicht auf einer Untersuchung der tatsächlichen Verletzungen.
75. Was die anderen Unterlagen angeht, die vorgelegt wurden, stellt der Gerichtshof fest, dass einige der Zeugen und die Presseberichte den Polizeieinsatz ähnlich beschrieben wie die Beschwerdeführer in ihren Schilderungen. Ferner waren die Angaben der Beschwerdeführer gegenüber der Polizei und ihre Darstellungen vor dem Gerichtshof im Wesentlichen gleich. Allerdings legten die Beschwerdeführer dem Gerichtshof keine Zeugenaussagen oder sonstigen Beweise vor, die ihre Darstellungen bestätigten, und die behaupteten, gegen sie gerichteten Handlungen waren auch von keinen der im Zuge der innerstaatlichen Ermittlungen befragten Personen beobachtet worden.
76. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der zweite Beschwerdeführer die angebliche Polizeigewalt erst am 21. Januar 2008 zur Anzeige brachte und erst am 7. März formell Strafanzeige stellte. Der erste Beschwerdeführer stellte seine Strafanzeige erst am 25. April 2008.
77. In Anbetracht der ihm vorliegenden Beweise erkennt der Gerichtshof an, dass die Beweismittel die Darstellungen der Beschwerdeführer zum Teil bestätigen. Insgesamt jedoch sieht er sich nicht in der Lage, über jeden vernünftigen Zweifel hinaus festzustellen, dass der erste Beschwerdeführer von einem Polizeibeamten mit einem Schlagstock auf den Kopf geschlagen wurde und dass dem zweiten Beschwerdeführer von einem Polizeibeamten aus kurzer Distanz Pfefferspray in das Gesicht gesprüht und anschließend mit einem Schlagstock auf den linken Oberarm geschlagen wurde.
78. Daher kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Artikel 3 der Konvention in materieller Hinsicht nicht verletzt worden ist.
(b) Die verfahrensrechtliche Rüge
(i) Allgemeine Grundsätze
79. Der Gerichtshof hat unlängst in der Rechtssache Bouyid (a. a. O., Rdnrn. 115-23) seine allgemeinen Grundsätze zu der verfahrensrechtlichen Verpflichtung der Staaten, Vorwürfe der Polizeigewalt nach Artikel 3 der Konvention effektiv zu untersuchen, zusammengefasst. Zwar beziehen sich diese Grundsätze darauf, wie Artikel 3 auf Vorwürfe der Misshandlung anzuwenden ist, die von Personen erhoben werden, die sich in Haft befinden oder in sonstiger Weise Bediensteten des Staates unterstehen, sie lassen sich jedoch auf Fälle übertragen, in denen es um die Anwendung von Zwang zum Zweck der Kontrolle von Menschenansammlungen geht:
„115. Diese Grundsätze besagen, dass das allgemeine Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung insbesondere durch Bedienstete des Staates in der Praxis unwirksam wäre, wenn es kein Verfahren gäbe, um Vorwürfe zu untersuchen, dass von ihnen festgehaltene Personen misshandelt wurden.
116. Im Hinblick auf die allgemeine Pflicht des Staates nach Artikel 1 der Konvention, „allen [seiner] Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in [der Konvention] bestimmten Rechte und Freiheiten zu[zusichern]“, ergibt sich aus den Bestimmungen des Artikels 3 als Folgerung, dass es in irgendeiner Form effektive amtliche Ermittlungen geben muss, wenn eine Person glaubhaft behauptet, dass sie eine gegen Artikel 3 verstoßende Behandlung u. a. durch die Polizei oder andere ähnliche Behörden, erfahren hat.
117. Der wesentliche Zweck dieser Ermittlungen ist zu gewährleisten, dass die innerstaatlichen Gesetze, die Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbieten, in Fällen, die Staatsbedienstete oder staatliche Organe betreffen, wirksam umgesetzt werden, und sicherzustellen, dass diese für Misshandlungen, zu denen es in ihrem Verantwortungsbereich kommt, zur Rechenschaft gezogen werden.
118. Grundsätzlich müssen, damit Ermittlungen effektiv sind, die für ihre Durchführung verantwortlichen Einrichtungen und Personen unabhängig von denjenigen sein, gegen die sich die Ermittlungen richten. Dies bedeutet nicht nur, dass keine hierarchischen oder institutionellen Verbindungen bestehen, sondern auch, dass es praktische Unabhängigkeit gibt.119. Unabhängig von der konkreten Verfahrensweise müssen die Behörden aus eigenem Antrieb tätig werden. Ferner müssen die Ermittlungen, um effektiv zu sein, zur Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen führen können. Sie sollten auch breit genug angelegt sein, um den Ermittlungsbehörden zu gestatten, nicht nur die Handlungen der Staatsbediensteten, die unmittelbaren Zwang anwendeten, sondern auch sämtliche Begleitumstände zu berücksichtigen.
120. Auch wenn dies keine Verpflichtung bedeutet, zu Ergebnissen zu gelangen, sondern bestimmte Mittel anzuwenden, so birgt ein Ermittlungsmangel, der verhindert, dass die Ursache von Verletzungen oder die Identität der Verantwortlichen festgestellt werden kann, die Gefahr, dass das erforderliche Maß an Effektivität nicht erreicht wird.
121. Insoweit ist das Erfordernis der Promptheit und der angemessenen Beschleunigung implizit vorhanden. Auch wenn es im Einzelfall Hindernisse oder Schwierigkeiten bei dem Fortgang einer Ermittlung geben mag, so ist grundsätzlich eine prompte Reaktion der Behörden bei der Untersuchung von Vorwürfen der Misshandlung wesentlich, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Rechtsstaat aufrecht zu erhalten und zu verhindern, dass der Eindruck der Verdunkelung oder Duldung rechtswidriger Taten entsteht.
122. Das Opfer sollte in der Lage sein, effektiv an den Ermittlungen mitzuwirken.
123. Schließlich müssen die Ermittlungen gründlich sein, was bedeutet, dass die Behörden stets ernsthaft versuchen müssen zu klären, was vorgefallen ist, und sich nicht auf übereilte oder unbegründete Schlussfolgerungen stützen, um ihre Ermittlungen einzustellen.“
(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
(α) Vertretbare Behauptung
80. Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass sich die zwischen den Parteien bestehende Uneinigkeit über den Sachverhalt (siehe Rdnrn. 9-13) auch auf die Frage auswirkt, ob die Beschwerdeführer die „vertretbare Behauptung“ aufgestellt haben, dass sie von der Polizei misshandelt worden seien, und somit auf die Frage, ob nach Artikel 3 der Konvention effektive amtliche Ermittlungen erforderlich waren.
81. Während die Regierung argumentierte, dass es keinen glaubwürdigen Vorwurf der Polizeigewalt gegeben habe, trugen die Beschwerdeführer vor, dass es von Beginn an Hinweise auf die ungerechtfertigte und übermäßige Anwendung von Zwang durch die Polizei gegeben habe. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Staatsanwaltschaft Ermittlungen zu dem Polizeieinsatz einleitete, was gemäß § 160 StPO den Verdacht einer Straftat voraussetzt. Er stellt ferner fest, dass der Staatsanwalt in seiner ersten Einstellungsentscheidung die Auffassung vertrat, dass sich aus den Ermittlungen Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass einige der Polizeibeamten auf unverhältnismäßige Weise und ohne offizielle Anordnung oder Billigung Schlagstöcke gegen Zuschauer, darunter Frauen und Kinder, eingesetzt hätten. Der Gerichtshof weist jedoch erneut darauf hin, dass er sich nicht in der Lage gesehen hat, über jeden vernünftigen Zweifel hinaus festzustellen, dass der erste Beschwerdeführer von einem Polizeibeamten mit einem Schlagstock auf den Kopf geschlagen wurde und dass dem zweiten Beschwerdeführer von einem Polizeibeamten aus kurzer Distanz Pfefferspray in das Gesicht gesprüht und anschließend mit einem Schlagstock auf den linken Oberarm geschlagen wurde (siehe Rdnrn. 72-77).
82. Insoweit erinnert der Gerichtshof daran, dass der Begriff „vertretbare Behauptung“ nicht mit der Feststellung einer Verletzung von Artikel 3 in materieller Hinsicht gleichgesetzt werden kann. Eine vertretbare Behauptung setzt lediglich einen vernünftigen Verdacht voraus, dass Beschwerdeführer von der Polizei oder einer sonstigen innerstaatlichen Behörde misshandelt wurden (vgl. Assenov u. a. ./. Bulgarien, 28. Oktober 1998, Rdnrn. 101 und 102, Reports of Judgments and Decisions 1998‑VIII, und Đurđević ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 52442/09, Rdnr. 86, ECHR 2011 (Auszüge)). In Anbetracht der Angaben der Beschwerdeführer gegenüber der Polizei – wobei betont werden muss, dass diese mit einer gewissen Verzögerung gemacht wurden und nicht frei von Widersprüchen waren –, der Presseberichte, die ihre Darstellungen bekräftigten und der ärztlichen Atteste, die ihre Verletzungen bestätigten, stellt der Gerichtshof fest, dass eine vertretbare Behauptung der Misshandlung durch die Polizei vorlag, die von einer unabhängigen innerstaatlichen Behörde effektiv untersucht werden musste.
83. Der Gerichtshof erkennt an, welche Schwierigkeiten sich für die Polizei im Umgang mit großen Menschenansammlungen bei Massenveranstaltungen ergeben können, wenn sie nicht nur die Pflicht hat, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten und die Allgemeinheit zu schützen, sondern auch das Vertrauen in die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit seitens der Polizei aufrecht zu erhalten.
(β) Angemessenheit der Ermittlungen
84. Was die Angemessenheit der Ermittlungen angeht, nimmt der Gerichtshof zunächst zur Kenntnis, dass die Staatsanwaltschaft laut dem Bundesverfassungsgericht „Herrin des Verfahrens“ (siehe Rdnr. 26) und damit für die Ermittlung von Straftaten und die Anklageerhebung zuständig war. Aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass die Ermittlungen insbesondere in der ersten Phase, also vor der ersten Einstellungsentscheidung, tatsächlich in erster Linie von der Polizei geführt wurden und der Staatsanwalt nur eine Aufsichtsfunktion hatte.
85. Was die zweite Phase der Ermittlungen angeht, so wurde erneut eine ermittelnde Einheit der Polizei M., die unter der Aufsicht der Staatsanwaltschaft stand, eingesetzt. In Bezug auf Fälle, in denen Ermittlungen in tatsächlicher Hinsicht von der Polizei geführt werden, ist bereits festgestellt worden, dass die Aufsicht über die Polizei durch eine unabhängige Behörde keinen hinreichenden Schutz bietet (siehe Kelly u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 30054/96, Rdnr. 114, 4. Mai 2001; Kummer, a. a. O. Rdnr. 87, und Ramsahai u. a. ./. Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 52391/99, Rdnr. 337, ECHR 2007‑II, mit weiteren Nachweisen). Daher muss der Gerichtshof prüfen, ob die Einheit, die bezüglich des Vorwurfs der Polizeigewalt ermittelte, hinreichend unabhängig von den Beamten des USK waren, deren Einsatz Gegenstand der Ermittlungen war. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass die Ermittlungen nicht von einem gesonderten Polizeidienst geführt wurden, sondern von einem auf Amtsdelikte spezialisierten Dezernat der Polizei M. unter der Aufsicht der Staatsanwaltschaft. Er stellt ferner fest, dass der Ermittlungsbeamte kein unmittelbarer Kollege der Beamten des USK war (im Gegensatz dazu Ramsahai, a. a. O., Rdnrn. 335-37) und dass die einzige Verbindung zwischen diesen beiden Einheiten in ihrem gemeinsamen Polizeipräsidenten und der Tatsache, dass sie der Polizei M. angehörten, bestand. Der Gerichtshof hält es zwar für wünschenswert, dass Ermittlungen bezüglich der Anwendung von Zwang durch die Polizei möglichst von unabhängigen und separaten Einheiten geführt werden (siehe z. B. Oğur v. Turkey [GK], Individualbeschwerde Nr. 21594/93, Rdnr. 91, ECHR 1999‑III und Eremiášová und Pechová, a. a. O., Rdnrn. 135‑39), er kann jedoch keine hinreichende hierarchische, institutionelle oder praktische Verbindung zwischen dem ermittelnden Dezernat und dem USK feststellen, die für sich genommen dazu geführt hätte, dass die Ermittlungen unzuverlässig oder ineffektiv waren.
86. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass am 20. Oktober 2008 eine interne Besprechung zu den Ermittlungen zwischen dem Leiter des ermittelnden Dezernats und verschiedenen Unterabteilungsleitern der Polizei M., einschließlich den Zugführern der des USK, stattfand, an der der zuständige Staatsanwalt nicht teilnahm (siehe Rdnr. 19). Wenn die Ermittlungen, wie in der vorliegenden Rechtssache, von einer Einheit desselben Polizeidienstes und lediglich unter der Aufsicht einer unabhängigen Behörde geführt werden, ist es umso wichtiger, dass die Art und Weise, wie sie geführt werden, auch den Eindruck der Unabhängigkeit vermittelt, damit das Vertrauen der Öffentlichkeit aufrechterhalten wird (siehe Hugh Jordan ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 24746/94, Rdnr. 123, 4. Mai 2001, Đurđević, a. a. O., Rdnr. 89, Mihhailov ./. Estland, Individualbeschwerde Nr. 64418/10, Rdnr. 128, 30. August 2016).
87. Was die Promptheit der Ermittlungen angeht, hat der Gerichtshof stets betont, dass eine prompte Reaktion der Behörden bei der Untersuchung von Vorwürfen der Misshandlung grundsätzlich als wesentlich betrachtet werden kann, um das Vertrauen der Allgemeinheit darauf, dass die Behörden die Rechtsstaatlichkeit beachten, aufrecht zu erhalten und zu verhindern, dass der Eindruck der Verdunkelung oder Duldung rechtswidriger Taten entsteht. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass die Polizei M. am 2. Januar 2008 Vorermittlungen einleitete, nachdem sie durch Presseberichte auf Vorwürfe der Polizeigewalt im Zusammenhang mit dem Fußballspiel vom 9. Dezember 2007 aufmerksam gemacht wurde. Die Ermittlungen dauerten 19 Monate und wurden schließlich am 4. August 2009 von dem Staatsanwalt eingestellt. Auf der Grundlage sämtlicher ihm vorliegender Unterlagen kann der Gerichtshof keine besonders langen Zeiträume der Untätigkeit bei der Führung der Ermittlungen feststellen. Insgesamt wurden ca. 40 Zeugen befragt, es wurde Videomaterial ausgewertet und es wurden ärztliche Atteste geprüft sowie weitere Ermittlungsmaßnahmen ergriffen. Die Ermittlungen scheinen daher hinreichend prompt und zweckmäßig gewesen zu sein.
88. Im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeit der Ermittlungen stellt der Gerichtshof ebenfalls fest, dass die Beschwerdeführer erst am 7. März bzw. 25. April 2008 offiziell Anzeige erstatteten. Folglich konnte erst nach dem jeweiligen Datum bezüglich ihrer Anzeigen ermittelt werden. Überdies hielt die Verzögerung bei der offiziellen Anzeigenerstattung die zuständigen Behörden davon ab, prompt eine forensische Untersuchung der Verletzungen der Beschwerdeführer anzuordnen, und trug dadurch zu den Schwierigkeiten bei den Ermittlungen bei. Der Gerichtshof erinnert daran, dass insoweit eine prompte forensische Untersuchung entscheidend ist, da Anzeichen für Verletzungen häufig recht schnell verschwinden und bestimmte Verletzungen innerhalb von Wochen oder sogar wenigen Tagen heilen können (siehe Rizvanov ./. Aserbaidschan, Individualbeschwerde Nr. 31805/06, Rdnrn. 46 und 47, 17. April 2012).
89. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführer, die während den Ermittlungen anwaltlichen Beistand hatten, Zugang zu der Ermittlungsakte hatten, bestimmte Ermittlungsmaßnahmen beantragen konnten und über den Fortgang der Ermittlungen unterrichtet wurden. Auch wenn nicht alle beantragten Maßnahmen umgesetzt wurden und die Beschwerdeführer an der Besprechung am 20. Oktober 2008 nicht beteiligt waren, konnten sie nach Auffassung des Gerichtshofs effektiv an den Ermittlungen mitwirken.
90. Was die tatsächlich ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass die eingesetzten Polizeibeamten des USK keine Namensschilder oder sonstigen individuellen Kennzeichnungen trugen, sondern lediglich eine Identifikationsnummer des Zuges an der Rückseite der Helme (siehe Rdnr. 7).
91. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es in Fällen, in denen die zuständigen innerstaatlichen Behörden maskierte Polizeibeamte zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung oder zur Durchführung einer Festnahme einsetzen, erforderlich sein sollte, dass diese Beamten eine unverwechselbares Kennzeichnung, etwa eine Identifikationsnummer, sichtbar tragen. Das Tragen einer solchen Kennzeichnung würde ihre Anonymität wahren und gleichzeitig ihre Identifizierung und Vernehmung ermöglichen, sollte es zu Beanstandungen bezüglich der Art und Weise, wie der Einsatz durchgeführt wurde, kommen (siehe Ataykaya ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 50275/08, Rdnr. 53, 22. Juli 2014, mit weiteren Nachweisen; Özalp Ulusoy ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 9049/06, Rdnr. 54, 4. Juni 2013; und die CPT-Empfehlung in Rdnr. 43). Die resultierende Unfähigkeit von Augenzeugen und Opfern, die Beamten, die Misshandlungen begangen haben sollen, zu identifizieren, kann dazu führen, dass eine bestimmte Kategorie von Polizeibeamten praktisch straflos bleibt (vgl. Atakaya, a. a. O., Rdnr. 53, und Hristovi ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 42697/05, Rdnrn. 92 und 93, 11. Oktober 2011).
92. In den vorangegangenen Fällen des Gerichtshofs, in denen es um die Effektivität von Ermittlungen gegen maskierte Polizeibeamte ging, konnten die Misshandlungen eindeutig einem der eingesetzten Beamten zugeordnet werden. In der vorliegenden Rechtssache war der Gerichtshof auf der Grundlage der ihm vorliegenden Beweismittel jedoch nicht in der Lage, zu einer anderen Schlussfolgerung als die innerstaatlichen Behörden zu gelangen und festzustellen, dass die Verletzungen der Beschwerdeführer eine unmittelbare Folge der Handlungen eines oder mehrerer der eingesetzten Polizeibeamten waren. Daher konnte der Einsatz behelmter Beamter ohne individuelle Kennzeichnung für sich genommen nicht dazu führen, dass die anschließenden Ermittlungen ineffektiv waren (im Gegensatz dazu Hristovi, a. a. O., § 93).
93. Da es keine entsprechende Kennzeichnung für behelmte Beamte gab, gewannen die Ermittlungsmaßnahmen an Bedeutung, die den Behörden zur Feststellung der Identitäten derjenigen Personen zur Verfügung standen, welche angeblich durch übermäßigen Zwang eine Misshandlung verursacht hatten.
94. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen die Behörden alle ihnen zur Verfügung stehenden und angemessenen Maßnahmen ergreifen, um die Beweismittel zu sichern, die den in Rede stehenden Vorfall betreffen. Die aus den Ermittlungen gezogenen Schlussfolgerungen müssen sich auf eine gründliche, objektive und unparteiische Analyse aller erheblichen Elemente stützen. Einen offensichtlichen Ermittlungsansatz nicht zu verfolgen untergräbt die Ermittlungen in entscheidendem Maße im Hinblick auf die Fähigkeit, die Umstände des Falls und die Identität der verantwortlichen Personen festzustellen. Nichtsdestotrotz hängt es von den Umständen des konkreten Falls ab, welcher Art und welchen Ausmaßes die Prüfung sein muss, damit sie die Mindestanforderungen an effektive Ermittlungen erfüllt, und dies muss auf der Grundlage aller erheblichen Tatsachen und unter Berücksichtigung der praktischen Gegebenheiten der Ermittlungsarbeit beurteilt werden (siehe Armani da Silva ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 5878/08, Rdnr. 233 und 234, ECHR 2016, mit weiteren Nachweisen).
95. Die Sicherung und Analyse des von den eingesetzten USK-Einheiten aufgezeichneten Original-Videomaterials war einer der offensichtlichen Ansätze zur Ermittlung der Umstände des Gewaltausbruchs und der behaupteten unverhältnismäßigen Anwendung von Zwang, über die zuerst in der Presse berichtet und die dann von den Beschwerdeführern gerügt wurde. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Behandlung, Sicherung und Analyse des Original-Videomaterials eine entscheidende Ermittlungsmaßnahme war, die zur Aufklärung dessen hätte beitragen können, was sich ereignet hatte, ob die behauptete Anwendung von Zwang durch die Polizei unverhältnismäßig war, und insbesondere, ob die Beschwerdeführer tatsächlich von Polizisten unter Umständen, die einen solchen Eingriff nicht rechtfertigten, geschlagen und mit Pfefferspray besprüht wurden (siehe bezüglich der Bedeutung von Videobeweisen bei Ermittlungen, Ciorap ./. Republik Moldau (Nr.o 5), Individualbeschwerde Nr. 7232/07, Rdnrn. 66-67). Er stellt insoweit fest, dass der ermittelnden Einheit lediglich Auszüge des Original-Videomaterials zur Verfügung gestellt wurden, die sie zusammen mit anderen, im Internet gefundenen Videoaufzeichnungen des Fußballspiels und der anschließenden Geschehnisse analysierte. Die Regierung hat nicht eindeutig erklärt, ob das gesamte Videomaterial von einer unabhängigen Einheit analysiert wurde, weshalb der ermittelnden Einheit nur Auszüge des Videomaterials zur Verfügung gestellt wurden und wann und von wem das Videomaterial gelöscht wurde.
96. Soweit die Regierung die Vorgehensweise, nach der das gesamte aufgezeichnete Videomaterial von dem entsprechenden Videobeamten geprüft wurde, als Standardverfahren bezeichnete (siehe Rdnr. 16), gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Videobeamten nicht als unabhängig angesehen werden können, wenn es um Ermittlungen geht, die Vorwürfe der Polizeigewalt durch Mitglieder ihrer eigenen Einheit betreffen.
97. Ferner war der Zeitpunkt der Löschung von Teilen des Videomaterials von besonderer Bedeutung, denn nach den Feststellungen des Gerichtshofs war Presseberichten über die Geschehnisse am Tag des Fußballspiels zufolge der Polizei M. seit dem 15. Dezember 2007 bekannt, dass es Vorwürfe der Polizeigewalt gab. Darüber hinaus geht aus dem Material in der Verfahrensakte klar hervor, dass die Polizei M. spätestens am 18. Dezember 2007 Ermittlungen bezüglich des Verhaltens des eingesetzten USK ins Auge fasste (siehe Rdnr. 14).
98. Der Gerichtshof lässt gelten, dass das Versäumnis, das gesamte Videomaterial zu sichern und von unabhängigen Ermittlungseinheiten analysieren zu lassen, grundsätzlich durch andere Ermittlungsmaßnahmen ausgeglichen werden konnte. Wie bereits erwähnt, hängt die Effektivität von Ermittlungen von den Umständen des konkreten Falls ab und muss auf der Grundlage aller erheblichen Tatsachen und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten der Ermittlungsarbeit beurteilt werden (siehe Rdnr. 94). Eine solche Maßnahme hätte die Vernehmung einer größeren Zahl der eingesetzten Polizeibeamten sein können. Der Gerichtshof erkennt an, dass ca. 40 Zeugen vernommen wurden, darunter die Zugführer der eingesetzten USK-Einheiten. Er stellt aber dennoch fest, dass nicht alle Beamten befragt wurden, die in dem Bereich, in dem die Beschwerdeführer angeblich misshandelt wurden, eingesetzt waren. Überdies wurden die Videobeamten erst nach der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens am 14. Oktober 2008 vernommen, und es wurden keine Anstrengungen unternommen, um den Rettungsassistenten, der den ersten Beschwerdeführer am Stadion behandelt haben soll, zu identifizieren und zu vernehmen.
99. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Einsatz behelmter Beamter ohne individuelle Kennzeichnung und die daraus resultierende Unfähigkeit von Augenzeugen und Opfern, die Beamten, die die gerügten Misshandlungen begangen haben sollen, zu identifizieren, geeignet war, die Effektivität der Ermittlungen von Anfang an zu behindern. Diese Sachlage erforderte bestimmte Ermittlungsanstrengungen seitens der Ermittlungsbehörden, um die Ursache der Verletzungen der Opfer, die Identitäten der verantwortlichen Personen sowie die Frage zu klären, ob Polizeibeamte Zwang anwendeten, und bejahendenfalls, ob dieser Zwang in einem angemessenen Verhältnis zu der Sicherheitslage stand, der sich die eingesetzten Einheiten gegenüber sahen. Der Gerichtshof erinnert daran, dass ein Ermittlungsmangel, der verhindert, dass der Sachverhalt oder die Identität der Verantwortlichen festgestellt werden kann, die Gefahr birgt, dass das nach Artikel 3 in verfahrensrechtlicher Hinsicht erforderliche Maß an Effektivität nicht erreicht wird (siehe Hristovi, a. a. O., Rdnr. 86). In der vorliegenden Rechtssache ist er der Ansicht, dass etwa die Sicherung und Auswertung des Original-Videomaterials durch eine unabhängige Behörde oder die Befragung weiterer Mitglieder der eingesetzten USK-Einheiten oder Zeugen, etwa des Rettungsassistenten, der den ersten Beschwerdeführer in der Nähe des Stadions behandelt haben soll, möglicherweise hätte klären können, was sich nach dem Fußballspiel am 9. Dezember 2007 in M. ereignete, welche Ursache die Verletzungen der Beschwerdeführer hatten und was es mit den behaupteten Misshandlungen durch Polizeibeamte auf sich hatte. Da diese offensichtlichen Ermittlungsansätze nicht umfassend verfolgt wurden, stellt der Gerichtshof fest, dass die fehlenden Kennzeichnung der behelmten Beamten und die daraus resultierenden Schwierigkeiten durch die anschließenden Ermittlungen nicht hinreichend ausgeglichen wurden.
(γ) Überprüfung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft
100. Soweit die Beschwerdeführer das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs rügten, um die mutmaßliche Ineffektivität von Ermittlungen zu beanstanden, hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die sich aus Artikel 2 ergebende verfahrensrechtliche Verpflichtung nicht notwendigerweise eine gerichtliche Überprüfung von Ermittlungsentscheidungen als solche erfordert (siehe Armani da Silva, a. a. O., Rdnrn. 278 und 279, mit weiteren Nachweisen). Der Gerichtshof hat ebenfalls festgestellt, dass in mindestens zwölf Mitgliedstaaten die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, nur bei einem Vorgesetzten angefochten werden konnte (ebda., Rdnr. 279).
101. Die Regierung führte einen außergerichtlichen und zwei gerichtliche Rechtsbehelfe an, die den Beschwerdeführern offen gestanden hätten, um die nach Artikel 3 geschützte Effektivität der Ermittlungen zu beanstanden. Auf die von den Beschwerdeführern gegen die Entscheidung des Staatsanwalts, das Ermittlungsverfahren nach § 172 Abs. 1 StPO einzustellen (Rdnr. 36), eingelegte Beschwerde hin überprüfte die Generalstaatsanwaltschaft M. in ihrer Entscheidung vom 3. Februar 2011 die Entscheidung des Staatsanwalts und die ihr zugrunde liegenden Ermittlungen eingehend und erwiderte auf die konkreten Rügen der Beschwerdeführer. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die Generalstaatsanwaltschaft M. die vorgesetzte Behörde der Staatsanwaltschaft M. war.
102. Was gerichtliche Rechtsbehelfe angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der Antrag der Beschwerdeführer zur Erzwingung weiterer Ermittlungen für unzulässig erklärt wurde, weil das Oberlandesgericht befand, dass der Zweck dieses Verfahrens nicht darin liege, einen Beschuldigten zu ermitteln oder Ermittlungen zu ersetzen. Auf die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer hin prüfte das Bundesverfassungsgericht die Ermittlungen dennoch eingehend und verwies auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der verfahrensrechtlichen Verpflichtung aus den Artikeln 2 und 3 der Konvention. Außerdem scheint das Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner Rechtsprechung und der einschlägigen Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (siehe Rdnrn. 38-41) grundsätzlich in der der Lage zu sein, eine Entscheidung über die Einstellung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens aufzuheben und ein Ermittlungsverfahren einzuleiten oder wiederaufzunehmen. Daher stand den Beschwerdeführern ein Rechtsbehelf zur Verfügung, um die Ineffektivität von Ermittlungen zu beanstanden.
(δ) Schlussfolgerung
103. Nach Prüfung aller erheblicher Faktoren und Umstände der Ermittlungen in diesem konkreten Fall kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass es keine effektiven Ermittlungen gegeben hat, weil der Einsatz behelmter Polizeibeamter ohne Kennzeichnung und die daraus für die Ermittlungen resultierenden Schwierigkeiten nicht hinreichend durch gründliche Ermittlungsmaßnahmen ausgeglichen wurden. Daher befindet der Gerichtshof, dass Artikel 3 der Konvention in verfahrensrechtlicher Hinsicht verletzt worden ist.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
104. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Schaden
105. Die Beschwerdeführer forderten jeweils 3.500 Euro in Bezug auf den immateriellen Schaden.
106. Die Regierung hielt die Summe von 3.500 Euro für überzogen, stellte sie aber in das Ermessen des Gerichtshofs.
107. Nach Auffassung des Gerichtshofs erlitten die Beschwerdeführer zweifellos einen immateriellen Schaden, da sie Opfer der Verletzung von Artikel 3 in verfahrensrechtlicher Hinsicht geworden sind. Der Gerichtshof setzt die Summe dem Erfordernis nach Artikel 41 der Konvention entsprechend nach Billigkeit fest und spricht den Beschwerdeführern jeweils 2.000 Euro für den immateriellen Schaden zu.
B. Kosten und Auslagen
108. Die Beschwerdeführer forderten zudem jeweils 2.588,91 Euro für Kosten und Auslagen für das innerstaatliche Verfahren und jeweils 5.176,50 Euro für Kosten und Auslagen für das Verfahren vor dem Gerichtshof. Die geltend gemachten Kosten und Auslagen für das Verfahren vor dem Gerichtshof beinhalteten 3.986,50 Euro für Herrn N. und 1.190 Euro für Frau L. Beitrag zu der Erwiderung der Beschwerdeführer auf die Stellungnahme der Regierung.
109. Die Regierung beanstandete die in Bezug auf das innerstaatliche Verfahren geltend gemachte Summe nicht, hielt aber die Kosten und Auslagen für das Verfahren vor dem Gerichtshof für überzogen. Sie erachtete Rechtsanwaltskosten vergleichbar den in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten in Höhe von 614 Euro für ausreichend und angemessen.
110. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien hält der Gerichtshof es für angemessen, jedem Beschwerdeführer 2.588,91 Euro in Bezug auf die Kosten und Auslagen für das innerstaatliche Verfahren und 3.986,50 Euro in Bezug auf die Kosten und Auslagen für das Verfahren vor dem Gerichtshof zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
111. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 3 der Konvention ist in materieller Hinsicht nicht verletzt worden;
3. Artikel 3 der Konvention ist in verfahrensrechtlicher Hinsicht verletzt worden;
4.
a) Der beschwerdegegnerische Staat hat jedem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
(i) 2.000 Euro (zweitausend Euro) für den immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(ii) 6.575,41 Euro (sechstausendfünfhundertfünfundzsiebzig Euro und einundvierzig Cent) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der den Beschwerdeführern gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
5. Im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführer nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 9. November 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Nona Tsotsoria
Stellvertretender Kanzler Präsidentin
_____________
Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil das Sondervotum des Richters Hüseynov beigefügt.
N.T.
M.B.
ÜBEREINSTIMMENDE MEINUNG VON RICHTER HÜSEYNOV
Ich schließe mich der Schlussfolgerung des Gerichtshofs an, dass in der vorliegenden Rechtssache ein Verstoß gegen Artikel 3 in verfahrensrechtlicher Hinsicht vorliegt. In der Tat waren die Ermittlungen zu den von den Beschwerdeführern erhobenen Vorwürfen der Polizeigewalt durch eine Reihe von Defiziten gekennzeichnet. Ich bin jedoch der Ansicht, dass bei den Feststellungen des Gerichtshofs ein wichtiger Mangel übersehen wurde, nämlich die fehlende Unabhängigkeit der Ermittlungen. Ich stimme mit den Beschwerdeführern darin überein, dass die Ermittlungen nicht von einer unabhängigen Behörde geführt wurden.
Wie von dem Gerichtshof festgestellt wurde, wurden die Ermittlungen zu dem behaupteten Fehlverhalten des USK von einem Dezernat für Amtsdelikte der Polizei M. unter der Aufsicht der Staatsanwaltschaft M. geführt. Das ermittelnde Dezernat gehörte somit zum selben Polizeidienst wie die Polizeibeamten, dessen angebliches Fehlverhalten es untersuchte. Sowohl die ermittelnde Einheit als auch die Personen, die von den Ermittlungen betroffen waren, unterstanden dem Polizeipräsidenten M. Der Gerichtshof erkannte diese Tatsache an, betonte aber dennoch, dass „der Ermittlungsbeamte kein unmittelbarer Kollege der Beamten des USK war“, und kam zu dem Schluss, dass er „keine hinreichende hierarchische, institutionelle oder praktische Verbindung zwischen dem ermittelnden Dezernat und dem USK feststellen [kann], die für sich genommen dazu geführt hätte, dass die Ermittlungen unzuverlässig oder ineffektiv waren“ (Rdnr. 85).
Dem kann ich nicht zustimmen. Meines Erachtens ist das Kriterium der „unmittelbaren Kollegen“ in der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs breiter gefasst worden. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Rechtssache Kulyk ./. Ukraine (Individualbeschwerde Nr. 30760/06, Rdnr. 107, 23. Juni 2016). In diesem Fall wurde festgestellt, dass es bei den strafrechtlichen Ermittlungen, die von einer Einheit des Innenministeriums gegen Beschäftigte dieses Ministeriums geführt wurden, an Unabhängigkeit fehlte. Der Gerichtshof merkte insbesondere an, dass „…die Polizeiorgane mehrmals von der Staatsanwaltschaft ersucht wurden, bestimmte Ermittlungshandlungen durchzuführen, insbesondere Zeugen zu finden. Zwar wurden diese Ersuchen an eine andere Einheit gerichtet als die, der die Polizeibeamten L. und P. angehörten, dennoch kann der Umstand, dass eine Einheit des Innenministeriums an Ermittlungen beteiligt war, die Beschäftigte dieses Ministeriums betrafen, dazu führen, dass die Unabhängigkeit dieser Ermittlungen untergraben wird. Der Gerichtshof verweist insoweit auch auf die Feststellungen des CPT, das bereits seit längerem bei den ukrainischen Behörden darauf dringt, eine unabhängige Ermittlungsbehörde zu schaffen, die sich schwerpunktmäßig mit der Untersuchung von Beschwerden gegen Amtsträger befasst…“
Daher bin ich der Meinung, dass es eine hinreichende institutionelle Verbindung zwischen der ermittelnden Einheit der Polizei M. und den von den Ermittlungen betroffenen Polizeibeamten gab und dass die in Rede stehenden strafrechtlichen Ermittlungen nicht den Eindruck der Unabhängigkeit vermittelten.
Interessanterweise hat der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache ebenfalls auf die Feststellungen des CPT verwiesen (Rdnr. 42). Insbesondere brachte der CPT in dem Bericht über seinen Besuch in Deutschland vom 25. November bis 7. Dezember 2010 Zweifel daran zum Ausdruck, „… ob von Ermittlern der zentralen Ermittlungseinheiten – und insbesondere von Kriminalbeamten regionaler oder lokaler Polizeipräsidien – durchgeführte Ermittlungen gegen andere Polizeibeamte als vollkommen unabhängig und unparteiisch angesehen werden können“ (siehe CPT/Inf (2017) 13, Rdnr. 18).
Allgemeiner gefasst: In Anbetracht der von verschiedenen internationalen und regionalen Menschenrechtsinstitutionen, insbesondere dem Menschenrechtsausschuss und dem Ausschuss gegen Folter der Vereinten Nationen, dem CPT und dem Menschenrechtskommissar, bereits seit längerem geäußerten Kritik an dem Fehlen unabhängiger polizeilicher Ermittlungen in Deutschland erscheint mir die Feststellung des Gerichtshofs, dass die in Rede stehenden Ermittlungen die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllten, bedauerlich (siehe CCPR/C/DEU/CO/6 (2012), Rdnr. 10; CAT/C/DEU/CO/5, § 19; CPT/Inf (2017) 13, a. a. O.; und CommDH(2015)20, Rdnrn. 38-39). Auch die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, die als nationaler Präventionsmechanismus nach dem Fakultativprotokoll zu dem VN-Übereinkommen gegen Folter geschaffen wurde, hat sich für die Einrichtung unabhängiger Organe in den Bundesländern ausgesprochen, die sich mit Vorwürfen der Polizeigewalt befassen sollen (siehe Jahresbericht 2016 der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter).
_________
[1] Im englischen Original heißt es „platoon“, auf Deutsch also „Zug“. Gemeint ist aber die Hundertschaft.
[2] Im englischen Original heißt es „platoon“, auf Deutsch also „Zug“. Gemeint ist aber die Hundertschaft.
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
Schreibe einen Kommentar